Von Liam Gibson
Die Probleme, die die britische Gesellschaft plagen, sind so tiefgreifend und weit verbreitet, daß es jenseits der Möglichkeiten der Politik liegt, sie zu lösen. Leider sind Politiker aber durchaus in der Lage, sie noch zu verschlimmern. Das unerwartete Ausmaß des Triumphs der Labour-Partei bei den Parlamentswahlen am 4. Juli1 mag wie das Ergebnis eines seismischen Wandels in der politischen Landschaft erscheinen, doch in Wahrheit handelt es sich um Kontinuität, nicht um einen radikalen Wandel.
Viele Kommentatoren haben Parallelen zwischen dem Sieg von Keir Starmer am 4. Juli und dem Einzug von Tony Blair in die Downing Street im Jahr 1997 gezogen. Wie Blair führt auch Starmer seine Partei nach einer langen Zeit in der Opposition zurück an die Regierung, und beiden wird eine Neuausrichtung ihrer Politik zugeschrieben. Doch während Blairs Machtübernahme nach neunzehn Jahren konservativer Herrschaft eine radikale Entwicklung in der britischen Gesellschaft markierte, kann man dies von Starmer nicht behaupten. Als Blairs Nachfolger Gordon Brown 2010 abgewählt wurde, hatte die Labour-Partei die britische Verfassung durch die Übertragung von Befugnissen an Schottland und Wales umgestaltet, während ihre schlecht durchdachten Reformen das Oberhaus in einer unklaren Zwitterexistenz zurückließen. Die legislative Agenda der Labour-Partei umfaßte den Human Rights Act 1998, den Civil Partnership Act 2004, mit dem homosexuelle Partnerschaften rechtlich anerkannt wurden, und den Equality Act 2010, der von öffentlichen Einrichtungen verlangt, Gruppen und Einzelpersonen mit geschützten Merkmalen, einschließlich der sexuellen Orientierung, besondere Beachtung zu schenken.
Die 2010 an die Macht zurückgekehrte Tory-Partei hielt jedoch nicht nur an Blairs Erbe fest, die nachfolgenden konservativen Premierminister bauten es sogar weiter aus. Im Jahr 2013 setzte David Cameron das Gesetz über die Homo-Ehe (Marriage Same Sex Couples Act) durch, und im Jahr 2019 setzten Theresa May und Boris Johnson die Legalisierung der Abtreibung in Nordirland durch. Im März 2020 wurde von Boris Johnsons Regierung Abtreibung ohne persönliche Beratung als vorübergehende Maßnahme erlaubt, um auf die Covid-Restriktionen zu reagieren. Im August 2022 wurde die Regelung dann dauerhaft eingeführt. Die Tory-Regierungen haben die Einführung des Sexualkundeunterrichts an allen weiterführenden Schulen in England verordnet und für eine Rekordzahl von Abtreibungen gesorgt: über eine Viertelmillion im Jahr 2022. Und obwohl immer mehr Abtreibungen außerhalb von Kliniken vorgenommen werden, sind Gebetswachen für das Leben in der Nähe von Abtreibungszentren jetzt illegal.
Einige dieser Änderungen, wie das Verbot von Gebetswachen, waren zwar nie offizielle Politik der Torys, aber die britische Verfassung erlaubt es der Partei, die über eine Mehrheit im Unterhaus verfügt, ihre rechtlichen Befugnisse ohne jegliche Einschränkung auszuüben. Wenn sie will, kann sich die Regierungspartei wie eine „Wahldiktatur nach dem früheren osteuropäischen Modell“ 2 verhalten. Die aufeinanderfolgenden konservativen Regierungen haben daher die Verabschiedung von familien- und lebensfeindlichen Gesetzen manchmal gefördert, manchmal erleichtert.
Ein weiterer Bereich, in dem Tony Blairs Revolution unter der Herrschaft der Konservativen gefestigt wurde, ist die Pflege am Lebensende. Im Jahr 2005 wurde mit dem Mental Capacity Act im wesentlichen das Urteil des Oberhauses von 1993 im Fall Tony Bland kodifiziert, das es Ärzten erlaubte, den Tod von Patienten im sogenannten Wachkoma herbeizuführen, indem sie ihnen die Flüssigkeitszufuhr und die Ernährung entzogen, sofern sie dies als im „besten Interesse“ des Patienten erachteten. Seitdem hat die britische Ärzteschaft die Bezeichnung PVS (Persistent Vegetative States) durch die Bezeichnung „prolongierte Bewußtseinsstörungen“ (PDOC) ersetzt. Dies ist ein viel weiter gefaßter Begriff und bedeutet, daß Patienten, die nach einem Monat nicht mehr ansprechbar sind, Nahrung und Flüssigkeit verweigert werden können, um ihr Leben zu beenden. Das ist heute gängige Praxis im britischen National Health Service, obwohl Euthanasie gegen das Gesetz verstößt. Dieses Gesetz könnte sich jedoch unter der neuen Labour-Regierung ändern.
Bevor Keir Starmer Abgeordneter wurde, war er Direktor des Crown Prosecution Service der Staatsanwaltschaft von England und Wales, und in dieser Funktion gab er im Februar 2010 eine Anleitung heraus, in der er die Umstände darlegte, unter denen der Straftatbestand der Beihilfe zum Selbstmord nicht verfolgt werden würde. Dabei handelte es sich um eine Anleitung zur Umgehung der Bestimmungen des Suizidgesetzes von 1961. Seitdem hat Starmer keinen Hehl daraus gemacht, daß er die Legalisierung des assistierten Selbstmordes befürwortet, und obwohl das Labour-Manifest keine diesbezügliche Verpflichtung enthält, ist die Gefahr für die Lebensrechtsbewegung groß, daß die Starmer-Regierung ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringt.
Die Labour-Partei hat 411 Sitze gewonnen und verfügt damit über eine Mehrheit von 172 Abgeordneten. Das spiegelt jedoch nicht die Unterstützung der Labour-Partei in der Bevölkerung wider. Eine der Anomalien des bei Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich angewandten Mehrheitswahlsystems besteht darin, daß es dazu führt, daß größere Parteien auf Kosten kleinerer Parteien Sitze erhalten, wie es bei den Parlamentswahlen 2024 der Fall war. Die Labour-Partei erhielt nur 34 Prozent der Stimmen, hält nun aber 64 Prozent der Sitze im Unterhaus. Die neue Regierung kann also nicht auf die Unterstützung der Mehrheit der britischen Wählerschaft zählen. Dies dürfte Starmer zwar nicht von der Umsetzung seiner Agenda abhalten, bedeutet aber, daß seine Position bei den nächsten Wahlen möglicherweise nicht so unangreifbar ist, wie es zunächst scheint. Die Wahlchancen der Labour-Partei hängen weitgehend davon ab, ob die Oppositionsparteien eine kohärente Alternative zu Starmers Regierungsprogramm vorlegen und eine erfolgreiche Strategie entwickeln können, mit der bei der nächsten Wahl die Zahl der Abgeordneten maximiert werden kann.
Einer der am häufigsten genannten Gründe, warum die Konservative Partei, nur fünf Jahre nachdem ihr die Wähler eine Mehrheit von 80 Sitzen gegeben hatten, auf so wenige Zustimmung stieß, ist, daß sie nur wenig bot, was sie von Labour unterschied. Mit anderen Worten: Die Partei verfolgte im großen und ganzen denselben Kurs, den Tony Blair mit seiner Revolution von 1997 eingeschlagen hatte. Wie bei jeder Revolution sind es die Unschuldigen, die am meisten zu leiden haben, und die von Blair vertretene Politik hat sich verheerend auf das Familienleben ausgewirkt.
Mehr als 9 von 10 britischen Paaren, die 2021 oder 2022 geheiratet haben, lebten vor der Hochzeit bereits in einer Lebensgemeinschaft; das ist der höchste Wert seit der ersten Aufzeichnung dieser Statistik im Jahr 1994. Im Jahr 2010 wurden 46,8 Prozent der Kinder in England und Wales unehelich geboren.3 Im Jahr 2022 war diese Zahl auf 51,4 Prozent gestiegen.4
Die zunehmend radikalere Sexualerziehung hat auch dazu geführt, daß Kinder in immer jüngeren Jahren sexualisiert werden, wodurch sie anfälliger für Mißbrauch5 und Ausbeutung nicht nur durch Erwachsene, sondern auch durch andere Kinder werden. Am 15. Januar 2024 enthüllte ein Bericht über den sexuellen Mißbrauch und die sexuelle Ausbeutung von Kindern in England und Wales das Ausmaß des Grauens. Aus den vom National Police Chief’s Council veröffentlichten Daten geht hervor, daß im Jahr 2022 in 52 Prozent aller Fälle von Kindesmißbrauch und sexueller Ausbeutung „Kinder (im Alter von zehn bis siebzehn Jahren) gegen andere Kinder vorgingen, wobei vierzehn Jahre das häufigste Alter waren“. In dem Bericht heißt es: „Dies ist ein wachsender und besorgniserregender Trend, der ein breites Spektrum von Straftaten umfaßt. Zu den häufigsten Formen gehören schwere sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen.“
Nach Untersuchungen von Statista identifizieren sich etwa 11 Prozent der 16- bis 24jährigen als „schwul, lesbisch, bisexuell“ oder „anderes“ 6, deutlich mehr als die 3,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ab 16 Jahren, die bei der Volkszählung 2021 für England und Wales erfaßt wurden.7
Alle Daten zeigen, daß Kinder, die in einer stabilen, verheirateten Familie aufwachsen, in jeder Hinsicht gesünder, gebildeter und materiell besser gestellt sind. Das Auseinanderbrechen von Familien führt hingegen zu großen sozialen Problemen wie Drogenmißbrauch und Obdachlosigkeit. Dennoch haben sich alle etablierten politischen Parteien in Großbritannien (mit Ausnahme der Reform UK, der es an einer kohärenten Sozialpolitik zu mangeln scheint) einer radikalen Agenda verschrieben, die die Ehe und stabile Familien als ihren ideologischen Feind ansieht.
Natürlich sind diese Probleme nicht auf das Vereinigte Königreich beschränkt. Tatsächlich haben viele politische Maßnahmen, die auf internationaler Ebene ergriffen wurden, den Druck auf das Familienleben in weiten Teilen der Welt verstärkt. Es ist unwahrscheinlich, daß dies nur ein Zufall ist. 1965 weigerte sich US-Präsident Lyndon Johnson, Indien Hungerhilfe zu gewähren, wenn sich die indische Regierung nicht bereit erklärte, die Geburten durch Massensterilisationen zu reduzieren.8 Kingsley Davis, der amerikanische Eugeniker, der den Begriff der „Bevölkerungsexplosion“ prägte, kam jedoch zu dem Schluß, daß eine solche Politik nicht ausreichen würde, um die Geburtenrate in dem Maße zu senken, wie er es für notwendig hielt. Im Jahr 1967 schrieb er:
„Daraus folgt, daß in Ländern, in denen Empfängnisverhütung praktiziert wird, ein realistischer Vorschlag für eine Regierungspolitik zur Senkung der Geburtenrate sich wie ein Katalog des Schreckens liest: Druck auf die Verbraucher durch Besteuerung und Inflation; Verknappung des Wohnraums durch Einschränkung der Bautätigkeit; Zwang für Ehefrauen und Mütter, außer Haus zu arbeiten, um die unzureichenden Löhne der Männer zu kompensieren, wobei nur wenige Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung stehen; Förderung der Abwanderung in die Städte durch niedrige Löhne auf dem Land und wenige Arbeitsplätze auf dem Land; Erhöhung der Verkehrsdichte in den Städten durch Aushungern des Verkehrssystems; Erhöhung der persönlichen Unsicherheit durch Förderung von Bedingungen, die Arbeitslosigkeit erzeugen, und durch willkürliche politische Verhaftungen.“9
Das Szenario, das Davis beschreibt, ist für die meisten Menschen, die heute in der westlichen Welt leben, leicht zu erkennen. Die Verfolgung der sogenannten grünen Agenda – Netto-Null-Emissionen, die radikale Reduzierung des Viehbestands und der Bau von Sonnenkollektoren und Windturbinen auf erstklassigen landwirtschaftlichen Flächen – wird die Härten, mit denen die Familien bereits konfrontiert sind, noch verstärken. Die großen politischen Parteien mögen sich zwar über den Freihandel oder die angemessene Höhe der Steuern uneinig sein, aber es besteht ein breiter Konsens über die Politik, die das Familienleben untergräbt. Von der Politik kann daher keine Lösung für die Probleme kommen, mit denen die Familie in Großbritannien und anderswo auf der Welt konfrontiert ist. Die Zukunft der Welt und der Kirche liegt in der Familie.10 Wenn die christliche Zivilisation wiederaufgebaut werden soll, wird dies von der Familie ausgehen und durch die Familie und für die Familie geschehen.
Erstveröffentlichung: Voice of the Family
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Voice of the Family (Screenshot)
1 Die Labour-Partei lag in 411 Wahlkreisen vorne und gewann mehr als 200 Sitze hinzu, obwohl ihr Stimmenanteil nur geringfügig zunahm, nämlich auf 34,1 Prozent. Die Konservativen mußten einen Rückgang ihres Stimmenanteils um 20 Punkte auf 23,7 Prozent hinnehmen, wodurch die Partei 251 Sitze verlor. Die Partei Reform UK landete mit einem Stimmenanteil von 14,3 Prozent auf dem dritten Platz, stellt aber nur fünf Abgeordnete. Die Liberaldemokraten erhielten nur 12,6 Prozent der Stimmen, aber 72 Sitze. Die Grünen gewannen mit 6.8 Prozent der Stimmen 4 Sitze.
2 Quintin Hogg, Lord Hailsham, A Sparrow’s Flight, The Memoirs of Lord Hailsham of St Marylebone (William Collins Sons & Co Ltd, 1990), S. 249.
3 Office of National Statistics, Births in England and Wales: 2022.
4 Birth summary tables, England and Wales 2010, Summary of key live birth statistics, 1938–2010, Table 1.
5 National Police Chief’s Council, “Child Sexual Abuse and Exploitation Analysis Launched”, 15 Jan 2024.
6 Sexual identity of people in the UK 2022, by age Published by Statista Research Department, 3 July 2024.
7 Office for National Statistics. Sexual orientation, England and Wales: Census 2021.
8 Matthew Connelly, “Controlling Passions”, The Wilson Quarterly [2008], S. 60–7, 62. India was already committed to population control but, under US pressure, it agreed to begin paying incentives to those who accepted sterilisation or IUDs.
9 Kingsley Davis, “Population Policy: Will Current Programs Succeed?” Science, [1967] 158, 3802, S. 730–739, konkret S. 739.
10 John Paul II, Address to the Confederation of Family Advisory Bureaus of Christian Inspiration, 29 Nov. 1980, 3–4: Insegnamenti III, 2 (1980), S. 1453–1454.