The Times: Welche Form des Katholizismus ist zukunftsfähig? Eine verblüffende Analyse

"JD Vance zeigt die Zukunft des Christentums"


Die Londoner Times blickt auf den von Donald Trump erwählten Vize und stellt sich die Frage, welche Form des Katholizismus zukunftsfähig ist. Eine verblüffende, aber keineswegs überraschende Analyse
Die Londoner Times blickt auf den von Donald Trump erwählten Vize und stellt sich die Frage, welche Form des Katholizismus zukunftsfähig ist. Eine verblüffende, aber keineswegs überraschende Analyse

Cami­nan­te Wan­de­rer macht auf einen Arti­kel auf­merk­sam, der am 17. Juli in der Lon­do­ner Times erschie­nen ist: „Der Autor ist ein typi­scher Jour­na­list: grün, nicht-reli­gi­ös und auf das Glo­ba­lis­mus­dik­tat aus­ge­rich­tet.“ Ent­spre­chend ist auch die Spra­che. Er sei aber „ein intel­li­gen­ter Mann, Oxford-Absol­vent und ‚auf­rich­tig‘. Sei­ne Ana­ly­se der tra­di­tio­nel­len Katho­li­zi­tät ist, obwohl sie aus rei­ner Sozio­lo­gie besteht, weit­aus inter­es­san­ter als jedes vati­ka­ni­sche Doku­ment.“ Und noch etwas, so Cami­nan­te Wan­de­rer: „Es ist schon bemer­kens­wert, daß ein Agno­sti­ker in der Lage ist, klar zu sehen, was die Bischö­fe, die ihre Augen ver­schlie­ßen, nicht sehen wol­len.“ Hier die lesens­wer­te Analyse: 

JD Vance zeigt die Zukunft des Christentums

Der konservative Katholizismus von Donald Trumps Vize ist eine Gegenkultur des Widerspruchs

Von James Marriott

Vor fünf Jah­ren wur­de der Mann, der wahr­schein­lich Ame­ri­kas näch­ster Vize­prä­si­dent wer­den wird, in der St. Ger­tru­de Prio­ry in Cin­cin­na­ti1 in ein blü­ten­wei­ßes Gewand gehüllt und in die katho­li­sche Kir­che auf­ge­nom­men. J. D. Van­ce hat­te damals, bevor er sich einen Bart wach­sen ließ, ein so bezau­bern­des Baby­ge­sicht, daß man sich fragt, ob der Prie­ster den Drang unter­drücken muß­te, ihn in die Arme zu neh­men und zum Tauf­becken zu tragen.

Viel­leicht soll­ten wir nicht scher­zen. Van­ce – der erste Mil­len­ni­al bei einer Kan­di­da­tur zur ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­dent­schaft – prak­ti­ziert einen osten­ta­tiv alt­mo­di­schen und ern­sten Glau­ben. Er stu­diert die latei­ni­sche Mes­se, ist ein Geg­ner von Abtrei­bung und Homo-Ehe und zitiert ger­ne den hei­li­gen Augustinus.

Bri­ti­sche Beob­ach­ter der US-Poli­tik sind es gewohnt, über die reli­giö­sen Exzes­se die­ser Nati­on die Augen zu ver­dre­hen. Aber wenn man Van­ces Glau­ben ein­fach als einen wei­te­ren ver­blüf­fen­den Ame­ri­ka­nis­mus abtut, ver­paßt man 20 Jah­re des gesell­schaft­li­chen Wan­dels. Die USA sind auf dem Weg zu einer Säku­la­ri­sie­rung nach euro­päi­schem Vor­bild schon weit fort­ge­schrit­ten. Van­ce gehört zur ersten Gene­ra­ti­on in der ame­ri­ka­ni­schen Geschich­te, für die der Kir­chen­be­such eine Anoma­lie und nicht die Norm ist.

Für ame­ri­ka­ni­sche Poli­ti­ker war der christ­li­che Glau­be einst ein Mit­tel, um eine beru­hi­gen­de, hei­me­li­ge Nor­ma­li­tät zu signa­li­sie­ren. Für Van­ce liegt die Anzie­hungs­kraft der Reli­gi­on in ihrer Fremd­ar­tig­keit, in ihrem dis­si­den­ten Schau­er. In einem Essay über sei­ne Kon­ver­si­on mit dem bezeich­nen­den Titel „How I Joi­n­ed the Resi­stance“ [„Wie ich mich dem Wider­stand anschloß“] beschreibt er sei­nen Katho­li­zis­mus als eine Form des Wider­spruchs, eine Ableh­nung einer gei­stig lee­ren libe­ra­len Eli­te. Ich ver­mu­te, daß Van­ce‘ gegen­kul­tu­rel­ler Glau­be einen Blick auf die Zukunft des Chri­sten­tums im Westen wirft.

Inmit­ten von Apa­thie und Nie­der­gang zeich­net sich der kon­ser­va­ti­ve Katho­li­zis­mus durch sei­ne Leben­dig­keit aus. Wäh­rend die libe­ra­len Gemein­den schrump­fen, blei­ben die tra­di­tio­nel­len Kir­chen kon­stant oder wach­sen. Ein kürz­lich ver­öf­fent­lich­ter Bericht über die näch­ste Gene­ra­ti­on katho­li­scher Prie­ster stell­te einen über­wäl­ti­gen­den Kon­ser­va­tis­mus fest; pro­gres­si­ve Semi­na­ri­sten sind eine „aus­ge­stor­be­ne“ Spe­zi­es. Der „moder­ni­sie­ren­de“ Katho­li­zis­mus mit Tam­bu­ri­nen, Lob­preis­bands und inklu­si­ver Spra­che ist die Domä­ne altern­der Prie­ster, die in den 1970er Jah­ren erwach­sen wur­den. In der Zwi­schen­zeit erfreut sich die „Trad Chat“-Bewegung, die aus den Tei­len des Glau­bens, die libe­ra­len Gläu­bi­gen eher pein­lich sind wie Schlei­er, Latein, Reli­qui­en­ver­eh­rung, einen Fetisch macht, unter den Hip­stern der Groß­stadt gro­ßer Beliebt­heit. „New York’s Hot­test Club is the Catho­lic Church“ [„New Yorks hei­ße­ster Club ist die katho­li­sche Kir­che“], so eine Schlag­zei­le in der New York Times.

Eini­ge der atem­lo­sen Ana­ly­sen die­ses Trends haben fast den Ein­druck erweckt, als stün­den die städ­ti­schen Unter-30jäh­ri­gen kurz davor, mas­sen­haft in den Schoß der Mut­ter Kir­che auf­ge­nom­men zu wer­den. Das ist eine Über­trei­bung der Din­ge. Die latei­ni­sche Mes­se bleibt eine Min­der­hei­ten­be­gei­ste­rung. Der Westen wird sei­nen lan­gen Marsch weg von Gott fort­set­zen. Aber in einer immer säku­la­re­ren Gesell­schaft wer­den die For­men des Chri­sten­tums am besten über­le­ben, die sich am stärk­sten unterscheiden.

Die Anzie­hungs­kraft des christ­li­chen Glau­bens besteht nicht mehr dar­in, daß er in den mora­li­schen Main­stream ein­führt, son­dern daß er eine exklu­si­ve Iden­ti­tät bie­tet. Für eini­ge jun­ge Men­schen, die in einem post­re­li­giö­sen Umfeld auf­ge­wach­sen sind, hat das Chri­sten­tum etwas von der exo­ti­schen Anzie­hungs­kraft des Bud­dhis­mus in den 1960er Jah­ren über­nom­men. Aya­an Hir­si Ali, ein ehe­ma­li­ger Star der New-Athe­ism-Bewe­gung, die vor kur­zem kon­ver­tiert ist, ist typisch dafür, daß sie ihren Glau­ben eher in iden­ti­tä­ren als in ethi­schen oder spi­ri­tu­el­len Begrif­fen for­mu­liert. Es geht dar­um, die „west­li­che Zivi­li­sa­ti­on“ und die „jüdisch-christ­li­che Tra­di­ti­on“ zu ver­tei­di­gen. Das ist das Chri­sten­tum im Zeit­al­ter der Identitätspolitik.

Iro­ni­scher­wei­se sind die For­men des Chri­sten­tums, die am schnell­sten ver­blas­sen, die­je­ni­gen, die sich am gewis­sen­haf­te­sten an die Sit­ten des 21. Jahr­hun­derts ange­paßt haben. Die Kir­che von Eng­land, die homo­se­xu­el­le Part­ner­schaf­ten seg­net, Frau­en ordi­niert und sich um Viel­falt bemüht, dürf­te die libe­ra­le Jugend bes­ser anspre­chen als fast jede ande­re Kon­fes­si­on, wenn man die ein­zel­nen Richt­li­ni­en betrach­tet. Wie vie­le Nicht­gläu­bi­ge emp­fin­de ich für die­se christ­li­che Tra­di­ti­on instink­tiv die mei­ste Sym­pa­thie. Ihre Tole­ranz, ihr feh­len­der Dog­ma­tis­mus und ihre Bereit­schaft, sich dem gesell­schaft­li­chen Wan­del zu beu­gen, erschei­nen mir unend­lich viel sym­pa­thi­scher als Van­ces christ­li­cher Hardliner-Konservatismus.

Aber selbst ich sehe ein, daß es eine zwei­fel­haf­te Wachs­tums­stra­te­gie ist, Athe­isten für sich zu begei­stern. Nur drei Pro­zent der unter 25jährigen sind Angli­ka­ner. In ähn­li­cher Wei­se weist der katho­li­sche Schrift­stel­ler Dan Hit­chens dar­auf hin, daß die tadel­los pro­gres­si­ve Ver­ei­nig­te Refor­mier­te Kir­che (sie bie­tet Got­tes­dien­ste an, die von einer „prak­ti­zie­ren­den femi­ni­sti­schen Theo­lo­gin“ gelei­tet wer­den, deren Schwer­punkt auf der „För­de­rung von Frau­en und Gemein­schaf­ten eth­ni­scher Min­der­hei­ten“ liegt) schnel­ler zusam­men­bricht als jede ande­re Kon­fes­si­on. Die dyna­misch­sten Kir­chen Groß­bri­tan­ni­ens sind evan­ge­li­ka­le Gemein­den, deren kon­ser­va­ti­ve mora­li­sche Wer­te direkt mit dem libe­ra­len Kon­sens kollidieren.

Das hat weni­ger mit dem Mot­to „Go woke go bro­ke“ zu tun als mit ele­men­ta­rer Sozio­lo­gie. Alles, was wir über mensch­li­ches Sozi­al­ver­hal­ten wis­sen, deu­tet dar­auf hin, daß sich Grup­pen dadurch zusam­men­schlie­ßen, daß sie sich gegen Außen­sei­ter abgren­zen und beson­de­re Ritua­le und Über­zeu­gun­gen prak­ti­zie­ren, die dem Unein­ge­weih­ten als unlo­gisch oder „extrem“ erschei­nen mögen. Rasch wach­sen­de reli­giö­se Min­der­hei­ten wie die Amish in Ame­ri­ka oder die ultra­or­tho­do­xen Juden in Isra­el haben sich über Gene­ra­tio­nen hin­weg erfolg­reich erhal­ten, zum Teil weil ihre unge­wöhn­li­chen Ver­hal­tens­wei­sen und Über­zeu­gun­gen ein star­kes Gefühl der Grup­pen­iden­ti­tät erzeu­gen. Die For­men des Chri­sten­tums, die sich am besten für die säku­la­re Zukunft eig­nen, sind wahr­schein­lich die mar­kan­te­sten und kom­pro­miß­lo­se­sten. Auf­wen­di­ge Ritua­le und unzeit­ge­mä­ße mora­li­sche Vor­stel­lun­gen sind para­do­xer­wei­se der Schlüs­sel zum Überleben.

Papst Bene­dikt XVI. pro­phe­zei­te einst, daß die west­li­chen Katho­li­ken dazu bestimmt sei­en, eine „krea­ti­ve Min­der­heit“ zu wer­den, die sich vom Main­stream abhebt. Eine Visi­on, die von eini­gen als reak­tio­när und pes­si­mi­stisch ange­pran­gert wur­de. Prak­tisch gese­hen ist es die wahr­schein­lich­ste Über­le­bens­stra­te­gie. Van­ce reprä­sen­tiert die­ses Chri­sten­tum: mar­gi­nal, aber unver­wech­sel­bar – und im Guten wie im Schlech­ten erstaun­lich einflußreich.

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: The Times (Screen­shot)


1 Dabei han­delt es sich um eine von kon­ser­va­ti­ven Domi­ni­ka­nern betreu­te Pfarrei.

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