
Von Wolfram Schrems*
Dr. Helmut Golowitsch ist in Theorie und Praxis einer der bedeutendsten österreichischen Südtirolspezialisten. Er ist für zahlreiche einschlägige Publikationen, besonders für eine rezente Trilogie über die von ihm kritisch beurteilte Rolle der Republik Österreich gegenüber Südtirol nach 1945 bekannt. Er legte letztes Jahr einen penibel recherchierten und spannend geschriebenen Band über die Situation des Südtiroler Klerus und des kirchlichen Lebens in den Jahren nach der italienischen Besetzung Südtirols (1918) und der Annexion (1920) bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges vor. Golowitsch behandelt die brutale Italianisierungspolitik, die Auswirkungen der Machtergreifung der Faschisten im Jahr 1922 und die kirchliche Reaktion auf Pfarr‑, Diözesan- und Weltebene detailreich. Aus dem Südtiroler Klerus gab es zum Buch schon einige positive Rückmeldungen. Dieses Thema ist wegen seiner zahlreichen Implikationen auch für Nicht-Spezialisten von Interesse.
Die Vorgänge
In einem Londoner Geheimvertrag im Jahr 1915 erhielt Italien für seinen Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten entgegen der 1914 proklamierten Neutralität (als Mitglied im „Dreibund“ mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich) unter anderem das südlich des Brenners gelegene mehrheitlich deutsche Südtirol (samt fünf ladinischen Talschaften) und das mehrheitlich italienische Welschtirol (Trentino) versprochen. Italien verlangte über die „natürlichen“ Grenzen hinaus (Brenner bzw. Wasserscheide zwischen Drau und Rienz am Toblacher Feld) sechs weitere Gemeinden östlich der Wasserscheide. Nach Kriegsende marschierten italienische Truppen in diese Gebiete ein. Sofort begannen harte Italianisierungsmaßnahmen.
Die königliche Regierung schaffte 1923 in der Lex Gentile den deutschen Schulunterricht, somit auch den in deutscher Sprache gehaltenen Religionsunterricht ab und verbot dann auch den deutschsprachigen Religionsunterricht in den Pfarren. Die Kirche verteidigte die Katechese in der Muttersprache als Naturrecht. Die teilweise territorial zuständigen Brixner Fürstbischöfe Johannes Raffl und Johannes Geisler unterstützten diese Position. Der ebenfalls territorial zuständige Trienter Fürstbischof Celestino Endrici, ein national gesinnter Italiener, war schwach und ambivalent, setzte sich aber dann doch für die deutschen Priester ein (415). Papst Pius XI., ohnehin kein Freund der Faschisten, erwies sich besonders ab dem Abschluß des Konkordats 1929 als moralische Stütze der Minderheit.
Einer der bedeutendsten im Buch vorgestellten Priester ist der aus Prissian/Tisens stammende Kanonikus Michael Gamper (1885–1956), der sich besonders um die „Katakombenschulen“ verdient machte. Sein Portrait bildet die Einbandillustration. Gamper war der Autor der unter dem Decknamen Athanasius verfaßten Schrift Die Seelennot eines bedrängten Volkes (1927), die von der „nationalen und religiösen Unterdrückung in Südtirol“ handelte. Gemäß der Buchbesprechung des ehemaligen Südtiroler Landtagsabgeordneten Dr. Franz Pahl habe Dr. Golowitsch die Initiative für das vorliegende Buch durch diese Broschüre gewonnen. –
Golowitsch bringt viele Geschichten von Verhaftungen, Beschlagnahmungen und Vertreibungen von Priestern, Ordensleuten und Laien. Die italienische Justiz war schnell mit der Inhaftierung oppositioneller Personen. In einigen Fällen kam es zur Verbannung auf einsame Mittelmeerinseln.
Ein besonders grelles Beispiel für die Brutalität der neuen Herren, das auch einen Bezug zur zeitgleichen Kirchenverfolgung in Mexiko herstellt, ist dieses:
Im Jahr 1928 wurde das Waisenhaus der Tertiarschwestern in Brixen beschlagnahmt, die Waisenkinder wurden auf die Straße gesetzt und die Schwestern vertrieben. Golowitsch bringt einen Ausschnitt aus dem in Innsbruck erscheinenden Tiroler Anzeiger vom 29. August 1928:
„Heute, da das letzte Kind aus dem Hause geführt worden ist, hat sich noch eine ergreifende Szene abgespielt. Mit den Waisenkindern und Schwestern ist auch der Herrgott ausgezogen. Das Allerheiligste, um das sich die Kinder tagtäglich zum Gebet für ihre Wohltäter versammelt haben, wurde aus der Hauskapelle fortgetragen und das ewige Licht ausgelöscht. Die Schwestern, die dem Allerheiligsten bei diesem traurigen Auszuge das Geleite gaben, brachen in Schluchzen aus und auch der Priester, der das Allerheiligste forttrug, konnte der Bewegung nicht mehr Herr werden. So geschehen nicht in Mexiko, sondern in der Bischofsstadt Brixen des heiligen Landes Tirol im Jahre 6 der faschistischen Zeitrechnung“ (174).
Diese aufschlußreiche Notiz aus der Zeitung zeigt, daß im Österreich des Jahres 1928 die Kirchenverfolgung durch die Freimaurer-Regierung in Mexiko wohlbekannt war. Daß Vorgänge, wie in der Notiz beschrieben, im katholisch geprägten Italien möglich waren, war für Tirol und Österreich offensichtlich ein Schock.
Der Vatikan und die faschistische Regierung
Im Jahr 1929 schlossen der Heilige Stuhl und die italienische Regierung ein Konkordat und regelten den Status der Vatikanstadt in den sogenannten „Lateranverträgen“. Das Konkordat sah – allerdings in schwachen Worten formulierte – Schutzbestimmungen für nationale Minderheiten vor.
Golowitsch erwähnt die Flexibilität der faschistischen Taktik unter den neuen Umständen:
„Nach dem Abschluss des Konkordats entdeckten faschistische Funktionäre plötzlich den Bereich der Religionsausübung als Betätigungsfeld für die faschistische Jugendorganisation ‚Balilla‘, um auch dort in Südtirol gegenüber den deutschen Jugendlichen dominierend aufzutreten“ (357).1

Im Jahr 1931 verfügte die Regierung trotz des Konkordates die Auflösung aller nichtfaschistischen Jugendorganisationen, auch der katholischen, und die Beschlagnahme des Vermögens (359ff). Papst Pius XI. unterzeichnete am 4. Juli 1931 ein Rundschreiben, in dem er die Vergötterung des Staates in heidnischem Sinne und dessen Übergriffe auf die natürlichen Rechte der Familie und die übernatürlichen Rechte der Kirche verurteilte (364). Diese Initiative half nur begrenzt. Immerhin ließ man die Katholische Aktion mit ihren Vereinen leben, schloß sie aber von der Gestaltung des öffentlichen Lebens aus.
Die Drangsalierungen gingen weiter, bis es dann 1939 zum Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und Italien über die Aussiedlung oder die Assimilierung der Südtiroler (die sogenannte „Option“) und zum Ausbruch des Weltkrieges und der Besetzung Italiens (1943) durch die Wehrmacht kam.
Relevanz der Thematik: nur auf den ersten Blick ein lokales Problem
In der Südtirolproblematik werden schlaglichtartig einige geschichtliche Probleme bzw. Lebenslügen sichtbar. Zunächst die Lüge des Risorgimento: Die „Einigung“ Italiens ist weder Naturgesetz noch göttliches Gebot. Es bleibt fraglich, ob alle vereinigten Provinzen wirklich zu Italien gehören wollten. Bezeichnenderweise machte Italien keine Volksabstimmung in Welschtirol (Tirolo meridionale bzw. Trentino), in Südtirol ohnehin nicht. Ob die andernorts durchgeführten Volksabstimmungen korrekt verliefen, wissen wir nach Golowitsch nicht. Die weltanschaulichen Prämissen der „Einigung“ Italiens sind problematisch. Hier waren großteils antikatholische und antihabsburgische Geheimgesellschaften am Werk, Freimaurer und Carbonari, in der Person Giosuè Carduccis auch ein Satanist (der sich nach Auskunft von Kardinal Angelo Comastri allerdings am Ende seines Lebens mit Gott und der Kirche versöhnt habe).

Der 1861 gegründete neue italienische Staat, der 1870 den Kirchenstaat überfiel und den Papst zum Gefangenen des Vatikans machte, hatte, wie eingangs gesagt, keine Skrupel, gegen territoriale Zugeständnisse Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären.
Der Friedensvertrag von St. Germain war eine Lüge. Man bekommt den Eindruck, daß die Siegermächte mit ihren Friedensdiktaten weitere Kalamitäten direkt beabsichtigten.
Der Faschismus, der im Jahr 1922 mit dem Wohlwollen des Königs die Macht ergriff, ist eine Lüge, eine Mischung aus Staatsallmacht, Sozialismus und Chauvinismus. Die brutale Italianisierungspolitik ist eine Lüge. Präsident Wilsons Vierzehn Punkte galten aber bekanntlich nicht für jedes Volk. Die Beibehaltung der Unrechtsgrenzen von 1919 durch die Siegermächte des II. Weltkriegs ist eine Lüge.2
Österreich war nach dem ersten Weltkrieg auf die Zustimmung Italiens, einer Siegermacht, zur Völkerbundanleihe angewiesen und somit im Dilemma (436). Danach war Italien der einzige, zeitweilige, Schutz gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland (443). Die österreichische Regierung opferte gemäß der eingangs erwähnten Trilogie von Dr. Golowitsch nach 1945 Südtirol anderen Prioritäten.
Noch etwas kann man aus dem Buch lernen: Nur der Faschismus ist der Faschismus. Diese konkrete italienische Bewegung benannte sich so und verwendete das Liktorenbündel, fascis, mit dem Beil als ihr Symbol. Es ist lügenhaft und verwirrend, wenn „linke“ und globalistische Propaganda allen möglichen unerwünschten politischen Richtungen, auch christlichen, das Etikett „Faschismus“ aufdrückt.
Resümee
Für Katholiken ist relevant, daß sich im italienischen Faschismus eine Feindschaft gegen Glauben, Kirche und Naturrecht manifestiert, die u. a. vom Risorgimento vorbereitet worden war. Andererseits hatte diese Feindschaft nicht dieselbe ideologische Ausrichtung und nicht dieselben mörderischen Ausmaße wie der Bolschewismus. Interessanterweise genießt der Faschismus in Italien immer noch eine gewisse Wertschätzung, wie man am bis heute stehenden, mit einer frechen Inschrift versehenen „Siegesdenkmal“ in Bozen ohne weiteres erkennen kann.3
Die Faschisten bekämpften die Tiroler Herz-Jesu-Verehrung. Die Tiroler Landstände machten 1796 angesichts der Gefahr der französischen Revolutionsarmeen ein Gelöbnis zum Heiligsten Herzen Jesu. Für französische wie italienische Eindringlinge in Tirol war die Herz-Jesu-Verehrung zugleich ein obskurantistisches Ärgernis aus „voraufgeklärten“ Zeiten, ein Symbol des Widerstandes gegen ihre Anmaßung und möglicherweise ein Appell an das Gewissen der katholisch erzogenen Revolutionäre. Golowitsch beschreibt, wie die Herz-Jesu-Frömmigkeit, in Tirol besonders durch die spektakulären Feuer auf den Berggipfeln dargestellt, tatsächlich ein Bestandteil des Widerstandes gegen die nationalistischen und freimaurerisch (47) inspirierten Anmaßungen des Okkupanten war. Hätten die europäischen Völker am Beginn des 20. Jahrhunderts das Heiligste Herz Jesu und das Unbefleckte Herz Mariens angemessen verehrt und für ihr Handeln die entsprechenden Konsequenzen gezogen, wäre es nicht zur Katastrophe des Krieges und so vieler Ungerechtigkeiten gekommen.

Und schließlich:
Da der deutschsprachige Klerus in der Corona-Inszenierung mit wenigen Ausnahmen nicht „an der Seite des Volkes“ stand, könnte er von der Lektüre des Werkes profitieren und sich an den Südtiroler Gottesmännern, die „Helfer, Tröster und Verteidiger“ (91) waren, ein Beispiel nehmen. –
Dank und Anerkennung dem Autor für sein detailreiches, spannend geschriebenes und erbauliches Werk sowie für die persönlich erteilten Auskünfte.
Dank geht auch an Herrn Georg Dattenböck vom Südtiroler Informationsdienst für viele Hintergrundinformationen zur Geschichte Südtirols und Welschtirols. Seinem Rundschreiben verdankt sich die Kenntnis des vorliegenden Werks.
Helmut Golowitsch, An der Seite des Volkes – Südtiroler Geistliche unter dem Faschismus 1918 – 1939, Effekt! GmbH, Neumarkt, Südtirol, Italien; 1. Auflage November 2022 (gefördert mit freundlicher Unterstützung durch die Autonome Provinz Bozen-Südtirol), 474 S.; Vorworte von P. Christoph Waldner OT, Landeskurat des Südtiroler Schützenbundes, und Kapitular-Kanonikus Dr. habil. Johann Enichlmayr; zahlreiche Abbildungen, Register, Übersichtskarte zu den Ereignissen. (Der Verlag und der Autor bedanken sich bei der Historikerin Dr. Margareth Lun für das aufmerksame Lektorat und Korrektorat.)
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro-Lifer, Studium in Innsbruck, Kontakte nach Südtirol, etliche Aufenthalte
Bild: Tirol24/MiL (Screenshots)
1 Golowitsch berichtet zur Illustration den unangemeldeten Einzug einer Gruppe von Schulkindern von Tisens und Prissian „mit ihren Lehrern unter Vorantritt einer kostümierten ‚Balilla‘-Abteilung beiderlei Geschlechtes mit ihrer Fahne in die Pfarrkirche“ von Tisens (358). Wie in Italien möglicherweise üblich, kamen die Manifestanten zu spät und störten damit die Messe. Es folgten die Bitte des Zelebranten, Kooperator Albert Weger, nicht zu stören und die freche Antwort eines italienischen Lehrers, sodann faschistische Kampfrufe in den nächsten Tagen gegen das Pfarrhaus und eine Beschwerde des Schulamtes an das Ordinariat in Trient über den antinational gesonnenen Pfarrer (!).
2 Die italienische Behandlung der Minderheit nach 1945 blieb sehr schlecht. Gegenüber den Freiheitskämpfern, die in der Herz-Jesu-Nacht 1961 ausschließlich Infrastruktur angriffen und keine Menschenleben, erwies sich Italien als Folterstaat. Großzügigkeit gegenüber Unterworfenen (auch im Gefolge inneritalienischer Kämpfe) gehört nach der Auskunft von Dr. Golowitsch nicht zur italienischen Tradition.
3 Die von Golowitsch beigebrachten Illustrationen zeigen, daß der Faschismus eine bombastische, ja operettenhafte Komponente hat, die ihn, hätte er nicht für viele Menschen Verbannung, Folter und Tod gefordert, als komisch erscheinen ließe. Das faschistische Pathos wirkt auf uns lächerlich, zumal das faschistische Italien militärisch praktisch überall versagt hat und nur bei der Unterdrückung der bäuerlichen Bevölkerung Südtirols erfolgreich war. Carabinieri, die in Bauernhöfe ausschwärmen, um den Schulkindern pfarrliche Teilnahmebestätigungen am privaten Religionsunterricht in den Pfarrhäusern wegzunehmen (335), sind ein jämmerlicher Anblick. Carabinieri und Finanzieri (Finanzwache), die Verhaftete bei Verhören verprügeln und tagelang ohne Verpflegung einsperren, ein grauenhafter.