
von Pater Paolo M. Siano*
In der vergangenen Folge habe ich mich mit der „Esoterischen Schule“ in der englischen regulären Freimaurerei (Vereinigte Großloge von England – UGLE) befaßt, d. h. mit dem Lehrgang („Schule“), der von regulären Freimaurermeistern durchgeführt wird, die die freimaurerischen Riten und Symbole im Lichte der Gnosis und Esoterik (Alchemie, Hermetik, Kabbala …) interpretieren. Ich wiederhole, daß die oben erwähnte „mystische“ (d. h. esoterische, gnostische) Interpretation der „Esoterischen Schule“ weder herbeigeredet noch marginal ist, sondern getreu und genau der rituellen und symbolischen Struktur der regulären Freimaurerei englischen Ursprungs entspricht.
Letztes Mal habe ich im Anschluß an die Studie des britischen Freimaurers Anthony R. Baker (veröffentlicht in AQC 119, 2006, S. 40–105) die Gestalt und das Denken des bedeutendsten Vertreters der „Esoterischen Schule“, Walter Leslie Wilmshurst (1867–1939), vorgestellt. Wilmshurst (WLW) wurde 1889 als Freimaurerlehrling in die Vereinigte Großloge von England aufgenommen, 1890 zum Freimaurermeister „erhöht“ („raised“) 1891 in den „Royal Arch“ der Großloge „erhoben“ („exalted“); Mitglied des Hermetic Order of the Golden Dawn (ein Orden der kabbalistischen und hermetischen Magie); Gründer der Loge Living Stones No. 4957 in Leeds, deren Stuhlmeister er 1927–1930 und 1937/1938 war; 1923/1924 war er Mitglied der Masonic Study Society, deren Vorsitzender er 1937 wurde; er war auch Mitglied des Dormer Masonic Study Circle.
Ich werde nun einige seiner Schriften, die ich persönlich recherchiert und konsultiert habe, zusammenfassend darstellen.
1. Alchemie, Hermetik
Im Jahr 1850 veröffentlichte der Londoner Verleger Trelawney Saunders ein anonymes Buch mit dem Titel „A Suggestive Enquiry into the Hermetic Mystery and Alchemy…“. Die Autorin ist Mary Anne South (1817–1910), eine junge Engländerin, die die Studien ihres Vaters Thomas South über Alchemie, Hermetik und jüdische Kabbala auf dessen Wunsch hin veröffentlichte. Hier sind einige Konzepte aus Miss Souths Buch:
- Der wahre Gegenstand der Alchemie ist der Mensch, die Erkenntnis des Selbst und der Natur (…). Alchemie ist Theurgie, innere Regeneration, Identifikation des Selbst mit dem Licht, Kommunikation mit den Göttern und dem Göttlichen (vgl. S. 153f, 171). Die Alchemisten haben ihre eigene Freimaurerei gegründet (vgl. S. 256). Der Zweck und die Vollkommenheit der Magie ist die Vereinigung oder Vermählung der Elemente (vgl. S. 288). Der alte Drache der Alchemie/Hermetik, d. h. der philosophische Merkur, vereint alle Gegensätze: Er ist jung und alt, männlich und weiblich, Leben und Tod, Licht und Dunkelheit (vgl. S. 379f). Die Freimaurer müssen ein geistiges Gebäude des Lichts bauen (vgl. S. 460). Die Erlösung ist die alchemistische Transmutation des Adepten in seine ursprüngliche Form (vgl. S. 464). Das Ziel der Alchemie ist die Vereinigung mit Gott, die Teilhabe an den göttlichen Kräften (vgl. S. 493f). Zum biblischen Bericht über die Erbsünde: Die Schlange [der Teufel] und der Same der Frau [Christus] sind zwei notwendige Prinzipien, zwei Naturen, die zur Harmonie, zur Einheit werden müssen (vgl. S. 501). Der Neuplatonismus, die Hermetik, die jüdische Kabbala und andere Traditionen stimmen in derselben göttlichen Tradition überein („in the same divine tradition“, S. 527).
1859 heiratete Mary Anne den Pfarrer Alban Thomas Atwood und wurde so zu Mrs. Atwood. Einerseits unterstützte Mary Anne ihren anglikanischen Ehemann im Pfarrleben, auch mit karitativen Werken, andererseits setzte sie die esoterischen Studien ihres Vaters fort und zählte Louis-Claude de Saint-Martin (1743–1803) zu ihren Lieblingsautoren, einen französischen Freimaurer der Elus Coëns (Auserwählten Cohens) und später des Rectified Scottish Rite (Rektifizierten Schottischen Ritus) und „Vater“ des Martinismus (einer christosophischen magischen Bewegung).

1918, etwa zehn Jahre nach dem Tod von Frau Atwood, veröffentlichten zwei Verleger, William Tait aus Belfast und J. M. Watkins aus London, eine neue Ausgabe von „A Suggestive Enquiry into the Hermetic Mystery…“ mit drei interessanten Neuerungen: Erstmals wird der Name der Autorin genannt, es sind neue Schriften von ihr enthalten und außerdem eine umfangreiche Einleitung („Introduction“: S. 1–64), datiert auf Februar 1918, von Walter Leslie Wilmshurst (WLW)!
Im Jahr 1918 war WLW seit etwa 29 Jahren Freimaurer und seit etwa 28 Jahren Freimaurermeister. WLW ist ein Verfechter, ein „Gläubiger“, der Alchemie und der Hermetik. In dieser Einführung erklärt WLW, daß die Hermetik oder ihr Synonym, die Alchemie, die Wissenschaft der Regeneration der menschlichen Seele sei, eine Wissenschaft, die den Menschen in den Zustand der ursprünglichen Vollkommenheit vor seinem Fall in die Welt der Materie und der Sinne zurückversetzen könne. Die Alchemie hebe das persönliche Bewußtsein des Adepten auf den Punkt der Identifikation mit dem Universellen Geist. Die Alchemie erwecke das göttliche Prinzip im Menschen (vgl. S. 26f). Diese Wissenschaft der Regeneration sei von den Mysterienschulen des heidnischen Altertums und dann auch im Christentum der ersten beiden Jahrhunderte gehütet worden, um dann von der kirchlichen Hierarchie und der dogmatischen Theologie verboten zu werden (vgl. S. 29). Die hermetische Wissenschaft ermögliche dem Adepten den Kontakt mit der Kraft des Universums, d. h. dem Urlicht des biblischen „Fiat Lux“, der Ersten Materie der Alchemisten, dem En Sof der Kabbalisten (vgl. S. 32f). Das Christentum sei Hermetik, aber diffuse und verdünnte Hermetik (vgl. S. 53f)… Die Alchemie verwandle den Menschen vom Fleischlichen ins Göttliche (vgl. S. 60).
2. Die Eingeweihten: „Engel“ des Wissens und des Lichts (Luzifer?)
Im Juni 1918 schreibt WLW den Artikel „ ‚Sons of God‘ and ‚Sons of Men‘ “, der in der Augustausgabe 1918 der Londoner Zeitschrift The Seeker (S. 81–102) veröffentlicht wird, deren Mitherausgeber WLW ist. WLW spricht von den „Gottessöhnen“ und den „Menschensöhnen“. Die ersteren sind eine unsterbliche Rasse, die letzteren sind intelligente Tiere. Die „Gottessöhne“ fördern die „innere Religion oder die Lehre der Gnosis“, deshalb werden sie von den „Menschensöhnen“ verfolgt… Die Gottessöhne können die Welt regenerieren, sie sind die von Gott auserwählten Grundsteine, sie sind die Engel oder Erzengel, die sich opfern, indem sie sich auf der Erde inkarnieren, um den „Menschensöhnen“ zu helfen, sich zu erheben, um so in das „Wassermannzeitalter“ („the Aquarian Age“) einzutreten. Die „Kinder Gottes“ oder Engel sind die Förderer der Wassermann-Religion („the apostles of the Aquarian Religion of knowledge“)
Im Text und Denken von Wilmshurst ist logischerweise das gnostische Konzept der Engel impliziert, die Träger des Wissens sind, also des Lichts (Luzifer…), die in die Materie hinabsteigen („sich selbst inkarnieren“), um dann wiederaufzusteigen, indem sie die in Eingeweihte verwandelten Menschensöhne mit sich nehmen. Der Freimaurer und Gnostiker Walter Leslie Wilmshurst weist diese Konzepte in seinen Schriften über die Freimaurerei nicht zurück, im Gegenteil: Die Gnosis ist der Schlüssel zum Verständnis der esoterischen und mystischen Dimension der Freimaurerei.
3. Die Bedeutung der Freimaurerei: der „mystische Tod“, die Engel…
Im Januar 1939 veröffentlichten die Verlage Rider & Co. und Percy Lund, Humphries & Co. in London die 8. Auflage von Walter Leslie Wilmshursts Buch „The Meaning of Masonry“ (1. Auflage: 1922), der im Juli 1939 stirbt. Sein Buch wurde von der englischen okkulten Zeitschrift The Occult Review und der amerikanischen Freimaurerzeitschrift The New Age Magazine des Obersten Rates des 33. Grades des Schottischen Ritus in Washington D.C., USA, gelobt.
Ich fasse einige wichtige Konzepte aus dem Buch von Walter Leslie Wilmshurst (WLW) zusammen.
Die freimaurerische Einweihung bedeutet, sich von der äußeren Welt zur wahren Wirklichkeit zu bekehren, die wahren Geheimnisse in den Tiefen unseres Wesens, im Zentrum unserer Seele, zu entdecken. Mit der Einweihung gibt man die vorgefaßten Meinungen und Vorurteile der profanen Welt auf, man lernt sich selbst kennen (vgl. S. 11f). Die Freimaurerei stammt von den alten Mysterien ab (vgl. S. 17), so wie das Christentum, die hebräische Kabbala, die Alchemie und die Rosenkreuzer von den alten Mysterien abstammen (vgl. S. 23f).
Die freimaurerische Einweihung in den ersten Grad des Angenommenen Lehrlings („Entered Apprentice“) stellt eine Neugeburt dar, den Übergang von der Dunkelheit zum Licht, und entspricht der Reinigung, der Taufe … (vgl. S. 29, 35). WLW glaubt an die Präexistenz der Seelen; die Schürze des Lehrlings stellt den neuen Körper dar, den die Seele aus einer früheren Existenz annimmt (vgl. S. 30f).
Der zweite Grad des Gesellen steht für die Erleuchtung und die Entdeckung des Göttlichen im Inneren, dargestellt durch das Hexagramm und den Buchstaben G im Tempel; Gott ist immanent, er ist in uns (vgl. S. 37–39).
Der dritte Grad der Freimaurer, der Meister, mit der Legende von Hiram ist der Grad des Todes, nicht des physischen Todes, sondern des mystischen Todes („mystical death“) oder des symbolischen Todes („figurative death“: sagt das Ritual des dritten Grades der Meister), d. h. des Todes des Selbst und der Wiedergeburt und Vereinigung mit dem Göttlichen (vgl. S. 41–45). Das Ritual spricht von dem Zentrum, von dem sich ein Freimaurermeister nicht entfernen kann: Es ist das Göttliche, das im Zentrum von uns selbst steht (vgl. S. 49). Der mystische Tod ermöglicht es dem Freimaurer, wieder mit seiner inneren Göttlichkeit in Berührung zu kommen, an der Allwissenheit teilzuhaben und mit dem Göttlichen zusammenzuarbeiten (vgl. S. 126, 129–132).
Jeder Stuhlmeister der Loge repräsentiert den Grand Initiator (den großen Einweihenden, vgl. S. 52f).
Die Freimaurerei lehrt durch ihre Riten (Einweihung, Übertritt, Erhebung…), Symbole und Allegorien (Tempel Salomons, Legende von Hiram…) den Sündenfall und seine Wiederherstellung. Die Freimaurerei arbeitet an der Wiederherstellung des Menschen und seiner latenten geistigen Kräfte, die mit dem Sündenfall verlorengingen (vgl. S. 60–72). Hiram im Grabmal ist die Weisheit, das Göttliche, tief im Innern jedes Eingeweihten. Indem die Freimaurerei Hiram, den Meister, erhebt, hilft sie dem Eingeweihten, das Göttliche in sich selbst zu entdecken (vgl. S. 73–75).
Die beiden Säulen der Vorhalle des Tempels bzw. der Loge stellen die Vereinigung der Gegensätze dar: Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Positiv und Negativ, Aktiv und Passiv, Mann und Frau, Tag und Nacht… Beide Gegensätze sind notwendig für ein perfektes Gleichgewicht, eine perfekte Vereinigung und Harmonie (vgl. S. 80).
WLW setzt den Großmeister der Vereinigten Großloge von England mit dem Großen Baumeister des Universums (G.A.O.T.U.) und seine Großlogenbeamten mit den Engeln, die dem G.A.O.T.U. dienen, gleich (vgl. S. 83) [Großmeister der regulären Weltfreimaurerei ist stets ein Mitglied des englischen Königshauses, damals Prinz Arthur Herzog von Connaught and Strathearn, ein Sohn von Königin Victoria und Bruder des damals regierenden Königs Georg VII., Anm. GN]. Die Seelen steigen auf die Erde herab, verrichten Logenarbeit und steigen dann nach dem Tod zur Oberloge auf (vgl. S. 83).
Die sieben Logenbeamten repräsentieren die sieben Fähigkeiten des menschlichen Bewußtseins… Der Ehrwürdige Meister, der erste der sieben, repräsentiert den Geist, das göttliche Prinzip im Menschen (vgl. S. 105f).
The Holy Royal Arch of Jerusalem („Der Heilige Königliche Bogen von Jerusalem“) ist die Vollendung des dritten Grades der Freimaurer der Großloge von England und stelle den Aufstieg dar, die Verschmelzung des Eingeweihten mit dem göttlichen Bewußtsein, das Wissen, wie Gott weiß (vgl. S. 140f), die Verschmelzung und Identität mit dem himmlischen Licht (vgl. S. 154).
Wilmshurst erklärt, daß die königliche Kunst, d. h. die Freimaurerei, die regenerative Wissenschaft („heavenly science“, „that regenerative method“) sei, die die gefallene Menschheit von den Engeln oder geistigen Wächtern („angelic guardians“) gelehrt werde (vgl. S. 174f).
Wilmshurst erklärt auch, daß die Freimaurer durch ihre Farben (blau, die Farbe der „Craft Freemasonry“; rot, die Farbe des „Royal Arch“) und ihre rituellen Gewänder die Engel der himmlischen Hierarchie repräsentieren (vgl. S. 203).
Er präsentiert zudem die Freimaurerei, die die Lehre und die Methode der alten Mysterien fortführe, als die Institution, die im Vergleich zur Kirche viel treuer zu Christus und dem Evangelium sei (vgl. S. 207–212).

4. Die freimaurerische Einweihung
Das Buch „The Masonic Initiation“ (Erstausgabe, London 1924) von WLW, ist eine Fortsetzung von „The Meaning of Masonry“. Ich zitiere die Ausgabe von 1957, von der ich nur einige Begriffe anführe.
Laut Wilmshurst ist die wahre Einweihung die Erweiterung des Bewußtseins von der menschlichen zur göttlichen Ebene (vgl. S. 19). WLW setzt die drei Grade (Lehrling, Geselle, Meister) der Craft Freemasonry mit den drei Stufen des spirituellen Lebens gleich: Reinigung, Erleuchtung, Vereinigung. Der 1. Grad der Freimaurerei impliziere die Reinigung von der eigenen Profanität; der 2. Grad impliziere die Kontrolle der eigenen inneren Welt (Geist, Gedanken, intellektuelle und psychische Fähigkeiten); der 3. Grad impliziere die Aufgabe des eigenen Willens und der eigenen Persönlichkeit, das Eintauchen oder Verschmelzen mit dem göttlichen universellen Willen („merged in the divine Universal Will“, „figurative death“ (vgl. S. 19f).
WLW macht deutlich, daß der Mensch, d. h. der Eingeweihte, in den engelhaften und dann in den göttlichen Zustand aufsteigen könne (vgl. S. 25f). Die Einweihung, über die die Freimaurerei wacht und die bereits in den alten Mysterien praktiziert worden sei, könne diese Entwicklung des Menschen beschleunigen (vgl. S. 27–29).
Die freimaurerische Einweihung ziele auf die bewußte Vereinigung des Individuums mit dem universellen göttlichen Geist; diese Vereinigung werde durch die Verbindung des Quadrats mit dem Zirkel symbolisiert (vgl. S. 54).
WLW verbindet Hiram Abiff mit „Hermes“, Hermes Trismegistus (vgl. S. 100).
WLW erklärt, daß die Obergroßloge („The Grand Lodge Above“), auf die im freimaurerischen Ritual Bezug genommen wird, nicht einfach die Summe der verstorbenen Freimaurer meint, sondern eine jenseitige, höhere freimaurerische Hierarchie, die die Ursache der freimaurerischen Ordnung hier in der sichtbaren Welt sei und mit der die wahren Freimaurer zusammenarbeiten (vgl. S. 125f). WLW glaubt an eine unsichtbare, himmlische Großloge, die vom Obersten Meister und Initiator geleitet wird und deren Amtsträger Brüder und Engel („holy angels“) der lebenden Freimaurer auf Erden sind (vgl. S. 131).
WLW wiederholt, daß die Freimaurerei schon vor ihrer offiziellen Geburt im Jahr 1717 eine mystische und okkultistische Essenz hatte: alte Mysterien, hermetische Tradition, hebräische Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzer, Gnosis (vgl. S. 183–187)… Sie ist die geheime Gnosis („the secret Gnosis“: S. 187).
WLW hält Jesus für einen Obersten Großmeister und den Apostel Johannes für einen großen Eingeweihten (vgl. S. 187). WLW erwähnt den geistigen Kontakt („spiritual contact“) zwischen der Obersten Großloge und den Logen hier auf Erden (vgl. S. 188).
WLW lobt die Autorin von „A Suggestive Inquiry into the Hermetic Mystery“ (d. h. Mary Anne Atwood) und den Freimaurer John Yarker (vgl. S. 195), der gleichzeitig regulärer Freimaurer der Vereinigten Großloge von England war, in Verbindung mit der Londoner Loge Quatuor Coronati No. 2076 stand und Mitglied verschiedener „Rand“-Freimaurerorden war, die sich dem Okkultismus widmeten.
Darüber hinaus preist WLW auch die Autorin der Bücher „Isis Unveiled“ und „The Secret Doctrine“ (vgl. S. 213), nämlich Helena Petrovna Blavatsky (Dnepr im Zarenreich, heute Ukraine 1831 – London 1891), Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, als Expertin in freimaurerischen Fragen.
WLW definiert die Freimaurerei als die Eingangstür („portal of entrance“, vgl. S. 220).
Ich öffne eine Klammer: In „The Secret Doctrine. Vol. II, Anthropogenesis“ (London-New York-Madras, 1888) erklärt Blavatsky, daß Satan auch „Luzifer“ ist, der Licht- und Lebensbringer („the bright angel of Light, the Light and Life-bringer“, S. 111). Luzifer ist der Geist der intellektuellen Erleuchtung und der Freiheit des Denkens („thus Lucifer—the spirit of Intellectual Enlightenment and Freedom of Thought“: S. 162), Luzifer ist sowohl der Logos als auch Satan („for Lucifer is the Logos in his highest, and the ‚Adversary‘ in his lowest aspect“: S. 162). Die Schlange der Genesis ist „der wahre Schöpfer und Wohltäter, der Vater der geistigen Menschheit“, „der hell strahlende Luzifer“ („the real creator and benefactor, the Father of Spiritual mankind“, „bright radiant Lucifer“ (vgl. S. 243). Luzifer ist göttliches und irdisches Licht, der Heilige Geist und Satan („Lucifer is divine and terrestrial light, the ‚Holy Ghost‘ and ‚Satan‘, at one and the same time“, S. 513). Außerdem sagt Blavatsky, daß der Teufel oder der Rote Drache („Satan, or the Red Fiery Dragon“) und Luzifer in uns ist („and Lucifer, or Light-Bearer, is in us“), als unser Geist, unser Versucher und Erlöser: „it is our Mind, our tempter and Redeemer, our intelligent liberator and Saviour from pure animalism“ (S. 513).
5. Der Weg nach Osten: Mystische Vereinigung mit der Daimon-Engel-höheren Seele
„The Way to the East“ (J. M. Watkins, London 1934), das letzte Buch des Freimaurers Walter Leslie Wilmshurst, ist eine Sammlung von Initiationsgedichten.
In der Einleitung definiert WLW die Freimaurerei als eine „königliche Kunst“ und eine „mystische Wissenschaft“ („a ‚Royal Art’ and a ‚Mystic Science’“), die die alte Gnosis („the world-old Gnosis“: vgl. S. ix) fortführt. Mit dem dritten Grad des Freimaurermeisters kann der mystische Tod („mystical death“) und die Vereinigung mit dem universellen göttlichen Willen („unified with the Universal Divine Will“: vgl. S. xii) erfolgen.
In dem Gedicht „DAIMON“ (S. 57–60) spricht WLW von seinem Schutzengel oder Dämon als einer Präsenz, die seine Nerven, sein Gehirn, sein Blut durchdringt… Sein „Daimon“ ist ein Strahl von Gottes Heerschar („A ray from God’s immortal host“); die Weisheit des „Daimon“ trennt nicht das Böse und das Gute, die Gott als Partner zusammengefügt hat („Evil and good, as God-joined mates, / His wisdom never separates“, S. 57). WLW steht in Kontakt mit seinem „Daimon“, spricht mit ihm, bittet ihn um Hilfe und erhält eine Antwort (vgl. S. 58).
WLW nennt seinen „Daimon“: Überseele, Engel („Daimon, Oversoul, Angel“, S. 59). WLW stellt sich selbst als die Braut, den Mond, und seinen „Daimon“ als Bräutigam, die Sonne, vor (vgl. S. 60). Gemeinsam sind sie eins („our marriage-tide“, S. 60).
In einem anderen Gedicht lobt WLW den Dichter William Blake (S. 65): „Mit Christus und Platon warst du befreundet, / Ein Retter der Seele aus der Eitelkeit; / In der Schule der Weisheit ein Absolvent / Und Doktor des göttlichen Wahnsinns“ („With Christ and Plato you were mate, / A saviour of the soul from vanity; / In Wisdom’s School a graduate / And Doctor of Divine Insanity“, S. 65).
Es ist gut zu wissen, daß William Blake (1757–1827) in seinem Werk „The Marriage of Heaven and Hell“ den Teufel als die für das Gute notwendige Energie pries [vgl. Antonio D’Alonzo: Il senso della visione nella poesia ermetica di William Blake, in: Hiram, Rivista del Grande Oriente d’Italia, N° 4/2002, Rom, S. 73–77, 81f]. Kurzum, auch dank der Schriften des Freimaurers und Stuhlmeisters („Worshipful Brother“) Walter Leslie Wilmshurst wird die Unvereinbarkeit zwischen dem katholischen Dogma und der esoterischen und „mystischen“ Dimension der regulären Freimaurerei sehr deutlich, einer Dimension, die nicht von einer „hinzugefügten“ oder „erzwungenen“ oder „randständigen“ Interpretation der freimaurerischen Symbole und Rituale abhängt, sondern das eigentliche Wesen der genannten regulären Freimaurerei ist und zum Ausdruck bringt.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/MiL