Von Hw. Paolo D’Angona, Priester der Diözese Roermond
Neben vielen anderen Schätzen der Tradition ist auch die aszetische Literatur der Vorzeit vielen Katholiken der Gegenwart abhanden gekommen. Statt sich des reichen Fundus zu bedienen, den uns die von der Kirche anerkannten großen geistlichen Schriftsteller hinterlassen haben, greifen manche zu seichten, mitunter direkt glaubensgefährdenden Erzeugnissen wie z. B. jenen des vielgelesenen Modernisten Anselm Grün, der nicht zu Unrecht als ein „Drewermann light“ bezeichnet worden ist.
Die seit Jahrzehnten zu beobachtende Glaubenszerstörung findet in derartigen Elaboraten ihr „spirituelles“ Pendant – wie ja umgekehrt die Werke der echten Meister des geistlichen Lebens nichts anderes sind als „angewandte katholische Dogmatik“ (Hw. Chad Ripperger). So tritt eine merkwürdig-schwammige, vor allem aber selbstbezogene „spirituelle Wellness“ vielfach an die Stelle authentischer katholischer Spiritualität: Der Mensch kreist in typisch modernistischer, immanentistischer Manier letztlich nur noch um sich selbst. Auf diese Weise wird aber der Weg zu Gott radikal versperrt; dem unruhigen Menschenherzen, das nach dem bekannten Diktum des hl. Augustinus nur in Gott seine Ruhe findet, wird nichts geboten – außer emotionsbestimmtem Selbstbetrug. Gerade hier gilt die Warnung des Thomas von Kempen: „Wenn du dich selbst suchst, so wirst du dich selbst auch überall finden, aber zu deinem eigenen Verderben.“
Letzteres Wort des Thomas von Kempen (1380–1471) ist seinen „Vier Büchern von der Nachfolge Christi“ entnommen, einem der größten, seit Jahrhunderten bewährten „Klassiker“ der geistlichen Literatur. In diesem Werk begegnet der Christ in einzigartiger Verdichtung einer tiefen, aus den Quellen der Glaubenslehre und Theologie gespeisten, übernatürlichen Weisheit. Ungezählten hat es reiche Seelennahrung geboten: Es unterrichtet, tröstet, schreckt vom Weg des Bösen ab und treibt zum Guten an. Der berühmte und hochgelehrte Kirchenlehrer Kardinal Robert Bellarmin bekannte von ihm: „Ich habe dieses Büchlein von Jugend auf bis in mein hohes Alter sehr oft gelesen und wieder gelesen, und es ist mir doch allzeit neu vorgekommen; auch jetzt finde ich mein größtes Vergnügen daran.“ Auch vielen anderen Heiligen war es beständiger Begleiter, z. B. dem hl. Karl Borromäus, dem hl. Papst Pius V. und dem hl. Ignatius von Loyola. Der hl. Ignatius vertiefte sich täglich in sogar zwei Kapitel des Werkes, eines in fortlaufender Lesung, ein anderes, wie es ihm bei der Öffnung des Buches ins Auge fiel. Nie las der Gründer der Jesuiten das Buch ohne besonderen Nutzen. Darum empfahl er die „Nachfolge Christi“ nachdrücklich. Der Verfasser des bekannten „Grundrisses der aszetischen Theologie“, Adolphe Tanquerey, schreibt, er halte das Urteil für „sehr annehmbar“, sie sei „das schönste Buch, das aus der Hand des Menschen hervorging, da das Evangelium nicht menschlichen Ursprungs ist“.
So nimmt es nicht wunder, daß Thomas von Kempens „Nachfolge Christi“ wahrscheinlich dasjenige Werk ist, das nach der Heiligen Schrift die meisten Übersetzungen und Druckausgaben erfahren hat. Er schrieb es zunächst lediglich zur Unterweisung der Novizen im Kloster Agnetenberg (bei Zwolle, Niederlande), für deren Formung er von 1420 bis 1427 zuständig war. Bald jedoch wurden seine Aufzeichnungen in Druck gegeben und fanden allmählich in der ganzen Kirche Verbreitung. Besonders herausgestellt wird in dem Werk die Verbindung von kontemplativem und aktivem Leben, welche die damals aufblühende Bewegung der „devotio moderna“ charakterisiert. Ziel ist die ganzheitliche Persönlichkeitsbildung im Geiste – in der Nachfolge – Jesu Christi.
Nicht nur auf dem eingangs geschilderten Zeithintergrund, sondern auch aufgrund des beständigen Wertes der „Vier Bücher von der Nachfolge Christi“ ist dem inzwischen um die neuerliche Herausgabe vieler wichtiger theologischer Werke verdienten Sabat-Verlag sehr dafür zu danken, daß er sie wiederum der Öffentlichkeit ins Bewußtsein bringt und zugänglich macht.
Die Ausgabe des Sabat-Verlags folgt der lateinischen, kritischen vatikanischen Ausgabe vom Jahre 1982. Dies mag zunächst insofern befremden, als lateinische Sprachkenntnisse in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegangen sind – sogar beim Klerus, obwohl diesem gründliche Beherrschung der lateinischen Sprache ausdrücklich von Rechts wegen geboten ist (vgl. CIC, Can. 249). Hier liegt offensichtlich ein gravierendes Problem vor: wird doch demjenigen, der nicht über gediegene Kenntnisse der lateinischen Sprache verfügt, der allergrößte Teil des literarischen Schatzes, den uns die Kirchenväter, Kirchenlehrer und großen Theologen als kostbares Erbe hinterlassen haben, unzugänglich bleiben – eine wahre „terra incognita“.
Gerade hier vermag eine lateinische Ausgabe der „Nachfolge Christi“ einen ersten Anstoß zu geben: Die Latinität des Werkes ist ja relativ leicht zugänglich, so daß auch Schülern oder anderen, die begonnen haben, die lateinische Sprache zu erlernen, neben einer Vertiefung der Sprachfertigkeit auch geistlicher Nutzen geboten wird. Darum eignet sich das Buch z. B. als Geschenk für Kinder, Enkelkinder und Bekannte, die bereits die Anfangsgründe des Lateinischen – und etwas mehr – beherrschen. Ferner eignet es sich ganz besonders (als Geschenk) für Angehörige des Klerus. Dies gilt namentlich mit Hinblick auf die, wie berichtet wird, in manchen Ländern immer zahlreicheren Geistlichen, die besten Willens begonnen haben oder beginnen, den überlieferten, zeitlosen Römischen Ritus der Kirche (Missale, Breviarium, Rituale, Pontificale) zu erlernen, aber in der Sprache der Kirche (über das liturgische Latein hinaus) noch nicht recht heimisch sind. Ihnen wird das einfache und warmherzige Latein Thomas von Kempens eine gute Hilfe sein, die Sprache der Kirche wirklich zur „ihrigen“ zu machen.
Daß darüber hinaus der Verlag auf Anregung eines erfahrenen Missionars und Ordensmannes den lateinischen Text mit (auch in liturgischen Büchern üblich gewordenen) Akzentzeichen versehen hat, stellt einen Mehrwert dieser Ausgabe dar, die so auch „ad oculos“ zeigt, daß die lateinische Kirchensprache keine „tote“, sondern lebendige, gesprochene Sprache sein muß und hoffentlich im Laufe der Zeit tatsächlich wieder allgemein werden wird. Übrigens ermöglichen diese Akzentzeichen auch zunächst wenig erfahrenen Vorlesern bei Tisch (in Klöstern und Priesterseminaren) einen flüssigen und verständlichen Vortrag des Textes.
Das Schriftbild der Ausgabe zeichnet sich durch gefällige Übersichtlichkeit aus; ein Leseband gewährt praktischen Nutzen.
Schließlich ist der dekorative Einband zu erwähnen, der das Buch zu einem bibliophilen Schmuckstück macht: Der vordere Buchdeckel zeigt eine Kreuzigungsgruppe, der rückwärtige eine Darstellung der Auferstehung Christi. Der Verlag hat durch diesen Einband dem Werk ein adäquates äußeres Erscheinungsbild gegeben.
Thomas Kempensis: DE IMITATIONE CHRISTI
Verlagsbuchhandlung Sabat 2022
Hardcover, 240 Seiten, Format: 14,8 x 21 cm
ISBN: 978–3‑943506–42‑6