
Von Wolfram Schrems*
Im Sinne einer „Philosophie des gesunden Menschenverstandes“ nimmt sich der Verlag Editiones scholasticae der Verbreitung der aristotelisch-thomistischen Philosophie an. Verlagsgründer und ‑leiter Dr. Rafael Hüntelmann übersetzte ein im Jahr 2018 veröffentlichtes Lehrbuch der thomistischen Psychologie des amerikanischen Thomisten Steven J. Jensen (University of St. Thomas, Houston/TX). Es ist in verwirrten Zeiten ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der menschlichen Person.
Dem Autor ist es wichtig, menschliche Selbsterkenntnis zu fördern:
„ ‚Erkenne dich selbst.‘ Dieser Aufruf, der uns aus dem antiken Griechenland erreicht und dem Philosophen Sokrates zugeschrieben wird, ist heute dringender als in früheren Zeiten. Wir haben vergessen, wer wir sind. Wir verkünden entschlossen, dass wir keine menschliche Natur hätten. Wir seien nichts weiter als eine komplizierte Ansammlung von Chemikalien“ (7).
Philosophische Prämissen haben politische Auswirkungen

Der Autor wendet sich mit Sokrates gegen die „Misologie“, den Haß auf die Vernunft, heute als „Skeptizismus“ bekannt, in diesem Fall besonders im Bereich der Erkenntnis der menschlichen Person. Denn diese hat fatale Folgen:
„Das zwanzigste Jahrhundert, berühmt für seine vollmundigen Menschenrechtserklärungen, war berüchtigt für seine brutale Missachtung der Menschenwürde. Es hatte diese Würde aus den Augen verloren, nachdem es zuerst die menschliche Natur aus den Augen verloren hatte“ (8).
Jensen eröffnet ein Verständnis für die Relevanz der Lehre des Aquinaten für die heutige Zeit, die von Skeptizismus und Materialismus geprägt ist:
„Manchmal wird uns vorgegaukelt, das Mittelalter von Thomas von Aquin sei eine Zeit der Finsternis gewesen, in der das menschliche Forschen und der Gebrauch der Vernunft unterdrückt worden seien. Die Wahrheit ist ganz anders. Die Menschen im Mittelalter hatten größeres Vertrauen in die menschliche Fähigkeit, die Wahrheit zu entdecken, als wir in unserem Zeitalter des zynischen Skeptizismus“ (9).
In einer Zeit des „Transhumanismus“, in der luziferisch inspirierte Zeitgenossen wie Klaus Schwab und Yuval Noah Harari dem Menschen Seele und Willensfreiheit aberkennen und ihn mit Maschinen verschmelzen wollen, ist eine Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung von „Psychologie“ als „Studium der Seele“ und als Zweig der Wirklichkeitsphilosophie dringend notwendig.
Erkenntnis beginnt mit den Sinnen
Jensen behandelt den „sinnlichen Realismus“ (29), also die aristotelisch-thomistische Lehre, daß „unsere Sinne die Welt um uns herum wirklich widerspiegeln.“
Nicht alle Denker würden dem bekanntlich zustimmen. Descartes arbeitete sich an dieser Frage ab, desgleichen John Locke, David Hume und George Berkeley. Jensen stellt deren Positionen als Kontrast zu Thomas dar. Daß wir uns im Alltag auch über andere Themen kaum Rechenschaft geben, betrifft auch die von Jensen abgehandelten Fragen nach Gedächtnis und Vorstellungskraft, sowie – sehr differenziert – nach den „inneren Sinnen“.
Leidenschaften und Emotionen
Ein Abschnitt befaßt sich mit den „bewussten Neigungen“, den Emotionen und dem Wollen (75). Bezeichnend ist, daß manche Emotionen eine passio, ein Erleiden, sind, wie es ja auch unserem Sprachgebrauch entspricht (80). Thomas analysierte die Emotionen sehr detailreich. Deren Verständnis ist nach seiner Meinung entscheidend dafür, daß wir unsere Emotionen zu gestalten lernen (88). Wir sind also nicht zwangsläufig „Opfer unserer Emotionen“ (92).
Das Leib-Seele-Problem und der Hylemorphismus
Breiten Raum nimmt die Frage des Bewußtseins und dessen Verhältnis zum physischen Substrat (Gehirn, Neuronen) ein. Dabei ist die Frage nach der Seele unausweichlich. Ein hochinteressantes Gedankenexperiment ist das „Chinesische Zimmer“ von John Searle (102).
Ob die Seele ein „Geist in der Maschine“ ist oder nicht, wird bei der Behandlung von Materialismus und Dualismus genauer thematisiert. Besonders wichtig ist das achte Kapitel, in dem wesentliche aristotelisch-thomistische Begriffe wie Materie und Form, „substanzielle Form“ und „erstes Subjekt“ (nach der materia prima) erläutert und auf das Leib-Seele-Problem angewandt werden.
Wille, Freiheit, Liebe, Zweck
Weitere Themen sind die Sprache (mit besonderer Berücksichtigung der tierischen „Sprache“ und einschlägiger Experimente), die Unsterblichkeit, der Themenkomplex Wille und Freiheit mit besonderer Berücksichtigung der Theorien des Determinismus, des Kompatibilismus und des libertären freien Willens und der Frage, ob der freie Wille eine Illusion sei. Die letzten Kapitel widmen sich dem natürlichen Begehren des Willens, der „größten Liebe“ und – nach Ansicht des Rezensenten von gerade heutzutage in einem antiteleologischen Bewußtsein nicht zu überschätzender Bedeutung – der Frage nach dem letzten Zweck.
Thomistische Philosophie als Zugang zum Staunen vor der Wirklichkeit
Was ist die Haupterkenntnis dieses gut gemachten und profunden Traktates? Wohl diese: Im Alltagsbewußtsein sind uns Wahrnehmung, Gefühle, Gedächtnis, Verstand und Wille nicht problematisch. Wir nehmen sie als selbstverständlich – wenigstens solange wir gesund sind und in keiner Krise stecken. Denkt man aber genauer darüber nach und versucht, die Wirkweise der Seelenkräfte in Worte zu fassen, stößt man auf große Schwierigkeiten. Es ist gar nicht so klar, wie etwa die Sinneswahrnehmung wirklich funktioniert. Auch die „modernen“ Naturwissenschaften stehen vor einem Geheimnis. Naturwissenschaft ist eben nicht „reine“ Naturwissenschaft – denn diese gibt es nicht: Jede Wissenschaft hat unvermeidlicherweise philosophische Prämissen.
Die Vorgänge der menschlichen Seele sind geheimnisvoll. Führen wir uns das näher vor Augen, kommen wir unvermeidlicherweise ins Staunen. Das ist bekanntlich der Beginn der Philosophie. Insofern führt uns der Traktat erstens zum Nachdenken über Vorgänge, die wir im Alltag als selbstverständlich hinnehmen und nicht weiter hinterfragen, zweitens zum Staunen über das Geheimnis, das wir als Mensch sind, und drittens zumindest zur Anerkennung, besser noch zur Anbetung des Schöpfers, der uns so intelligent „designt“ hat.
Es ist wichtig zu verstehen, daß es beim philosophischen Ansatz nicht um Dogmen der Offenbarung geht. Jensen beschränkt sich hier auf die Ausführungen des hl. Thomas, insofern sie mit dem Licht der natürlichen Vernunft erkennbar und nachvollziehbar sind. Manches könnte man wohl auch anders sehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang dieses: Jensen richtet sich an Anfänger und will daher die „Vielfalt der umstrittenen Interpretationen von Thomas von Aquin“ (11) nicht untersuchen. Das heißt aber offenbar auch, daß es bei Thomas dunkle Stellen gibt (In claris non fit interpretatio). –
Die Vernunft kann Wirklichkeit erkennen und in Worte fassen. Gute Philosophie bewahrt uns vor der Plattheit des Alltagsbewußtseins und vor den Engführungen und Lügen der Sophisten und Ideologen. Sie macht uns bewußt, daß die Wirklichkeit „unaustrinkbares Licht“ ist, wie es der Thomist Josef Pieper formulierte, und eröffnet den Sinn für die Notwendigkeit der Offenbarung. –
Das Werk ist sehr gut gearbeitet, die Übersetzung ebenfalls gut gemacht und praktisch ohne Verschreibungen.
Allenfalls hätte der Autor bei der Erörterung des menschlichen Willens noch die auf Thomas zurückgehende und den Thomisten wichtige Lehre von der praemotio physica thematisieren können. Eine Fußnote durch den Übersetzer wäre etwa auf S. 61 u. a. hilfreich gewesen, daß in der Formulierung „verändern transiente Handlungen ein Subjekt“ das Wort „Subjekt“ nicht den Satzgegenstand, also in der Grammatik „Subjekt“ genannt, meint, sondern ein subiectum, also das „Daruntergeworfene“, somit ausgerechnet das, was wir in der Grammatik normalerweise als „Objekt“ bezeichnen. Der weitere Zusammenhang macht das zwar klar, aber auf den ersten Blick ist die Formulierung verwirrend. Der Sprachgebrauch von „Subjekt“ und „Objekt“ ist im Laufe der Geschichte nach Wissensstand des Rezensenten etwas schillernd. –
Das Werk ist als Anfängerlehrbuch konzipiert, ist aber doch sehr dicht und inhaltsreich. Dazu kommt, daß unser kollektives Bewußtsein in Alltagskultur und akademischem Leben ja von einer gesunden Philosophie sehr weit entfernt ist. Unter „Anfänger“ wird im Verständnis des Autors wohl der Studienanfänger der Philosophie oder Theologie gemeint sein, der ja gewillt ist, viel Energie in die Bewältigung des Stoffes zu stecken. Am besten wird es daher wohl sein, das Werk als Vorlesungsunterlage im Universitätsbetrieb oder aber als Diskussionsgrundlage in einem informellen Lesekreis zu verwenden. Philosophie wird bekanntlich ohnehin bei weitem besser im – diesmal richtig so genannten – Dialog betrieben als im autodidaktischen Studium.
Möge dieser Traktat weite Verbreitung finden und zur Etablierung einer Philosophie des gesunden Menschenverstandes beitragen.
Steven J. Jensen, Die menschliche Person – Eine thomistische Psychologie für Anfänger, aus dem Amerikanischen übersetzt von Rafael Hüntelmann, editiones scholasticae, Neunkirchen-Seelscheid, 2020, 288 S.
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., kirchlich gesendeter Katechist, Pro-Lifer, reiche Erfahrung im philosophischen Dialog