(Rom) Hat der Heilige Stuhl die Zwei-Staaten-Lösung für das Heilige Land aufgegeben? Der Vatikan war am Zustandekommen des UNO-Teilungsplans von 1947 nicht direkt beteiligt, akzeptierte jedoch die Zwei-Staaten-Lösung, weil die ihm besonders wichtige Stadt Jerusalem einen internationalen Status unter UNO-Verwaltung erhalten sollte. Dieser Status wurde aber nie verwirklicht und eine praktikable Teilung scheint immer weniger in Sicht, je mehr Israel von den Palästinensergebieten annektiert und durch Siedlungstätigkeit absichert. Dennoch erscheint die Idee mehr als gewagt.
Der Teilungsplan gemäß der UNO-Resolution 181 sieht die Aufteilung Palästinas in zwei Staaten vor, einen jüdischen und einen arabischen Teil. Während die jüdische Seite den Plan akzeptierte, weil er für sie ein großer Erfolg war, lehnte ihn die palästinensische Seite, die der eindeutige Verlierer war, entschieden ab. Der jüdische Bevölkerungsanteil in Palästina betrug nach dem Zweiten Weltkrieg ein knappes Drittel. Zwei Drittel waren Palästinenser, 25 Prozent davon Christen. Der weitaus größte Teil der 1947 in Palästina lebenden Juden war erst in der Zwischenkriegszeit eingewandert. Die einheimischen Palästinenser, Muslime und Christen, mußten sehen, daß sie zum Spielball landesfremder Interessen, insbesondere der der beiden angelsächsischen Mächte, geworden waren.
Der jüdische Staat sollte laut Teilungsplan aus drei, der palästinensische Staat aus vier unzusammenhängenden Teilen bestehen, wobei Judäa, das Gebiet um Jerusalem, Teil des Palästinenserstaates sein sollte.
Wegen der religiösen Stätten für den Islam, vor allem aber das Judentum und erst recht die Christenheit, war für Jerusalem und sein Umland als „corpus separatum“ ein internationaler Status unter UNO-Verwaltung vorgesehen.
Als 1948 die Zionisten den jüdischen Staat Israel ausriefen, kam es zum Krieg mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten. Israel konnte sich jedoch behaupten. 750.000 oder fast 60 Prozent der arabisch-palästinensischen Bevölkerung wurden vertrieben. Diese Tragödie bezeichnen die Palästinenser als Nakba („Katastrophe“). Israel konnte zudem erhebliche Gebiete einnehmen, die laut Teilungsplan für den Palästinenserstaat vorgesehen waren. Die Palästinenser verloren zwei der vier Landesteile ganz, während die beiden verbleibenden, das Westjordanland und der Gazastreifen, durch Israel stark verkleinert wurden. Israelischen Truppen gelang es, bis Jerusalem vorzustoßen. Der Westteil der Stadt wurde von Israel annektiert, die für die katholische Kirche besonders wichtige Altstadt von Jordanien besetzt. Jordanien übernahm die Verwaltung des palästinensischen Westjordanlandes und Ägypten jene des Gazastreifens. Der internationale Status für Jerusalem kam nie zustande. Israel besetzte im Sechstagekrieg von 1967 vielmehr auch den Ostteil der Stadt und annektierte ihn 1980.
Am vergangenen 10. Januar erinnerte Papst Franziskus in seiner Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte diplomatische Corps an die Zwei-Staaten-Lösung und mahnte deren Umsetzung an. „Aber das würde er heute nicht mehr wiederholen“, so der Vatikanist Sandro Magister. In den vergangenen Tagen ließ der Vatikan mit der Aussage aufhorchen, es sei an der Zeit „die Teilung zu überdenken“. Vielmehr sollte „die Gleichheit von Israelis und Palästinensern in einem wie auch immer gearteten politischen Rahmen“ angestrebt werden, auch in einem gemeinsamen Staat.
Dieser Wendepunkt wurde in der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica geäußert, konkret in der Ausgabe vom 19. November im Artikel „Die Teilung Palästinas überdenken?“ des Jesuiten P. David Mark Neuhaus. Bekanntlich bedarf jeder Artikel dieser Zeitschrift vor der Drucklegung der Zustimmung des Heiligen Stuhls. Zu wichtigen Themen übt Papst Franziskus selbst das Amt des Zensors aus. Nichts, was in der Civiltà Cattolica veröffentlicht wird, widerspricht der Linie von Santa Marta.
Neuhaus entstammt einer jüdischen Familie, die in den 30er Jahren aus dem Deutschen Reich nach Südafrika ausgewandert ist, wo er geboren wurde. Im Alter von 15 Jahren übersiedelte die Familie wegen des südafrikanischen Apartheids-Regimes nach Israel. Dort konvertierte Neuhaus 1988 zum katholischen Glauben. Nachdem er in Politikwissenschaften promoviert hatte, trat er 1992 in den Jesuitenorden ein. 2000 wurde er vom Lateinischen Patriarchen von Jerusalem Michel Sabbah zum Priester geweiht. Seither nahm er verschiedene Lehraufträge in Jerusalem und im Libanon wahr und war von 2009 bis 2017 Patriarchalvikar für die hebräischsprachigen Katholiken, sprich jüdische Konvertiten. Seit 2019 ist er Regionaloberer der Jesuiten im Heiligen Land. In seinen zahlreichen Schriften befaßt sich P. Neuhaus vorwiegend mit dem Judentum und dem jüdisch-katholischen Dialog.
Seinen Artikel beginnt Neuhaus mit einem historischen Rückblick zur UNO-Resolution von 1947 und der Zwei-Staaten-Lösung. Während Israel 1949 Vollmitglied der UNO wurde, verfügt der Palästinenserstaat erst seit 2012 über einen Beobachterstatus als Nichtmitglied. Dieser Status war zuvor nur dem Heiligen Stuhl gewährt worden.
30 Jahre vor der UNO-Resolution 181 hatte sich der Heilige Stuhl 1917 gegen die Zusage des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour an zionistische Organisationen ausgesprochen, in Palästina eine „nationale Heimstatt für das jüdische Volk“ zu schaffen, wobei die „bürgerlichen und religiösen Rechte der nichtjüdischen Gemeinschaften“, konkret waren damit vor allem Muslime und Christen gemeint, respektiert werden sollten.
74 Jahre nach der UNO-Resolution 181 ist immer noch erst einer von drei Punkten des Teilungsplans umgesetzt: der Staat Israel. Weder der Staat Palästina noch der internationale Status von Jerusalem existieren.
Neuhaus verbindet die Nakba mit der Shoah und gelangt zum Schluß, daß die Zwei-Staaten-Lösung aufgegeben werden sollte:
„Viele betonen, daß die Shoah nicht mit anderen Ereignissen vergleichbar ist, und wir wollen hier keine Vergleiche anstellen. […] Doch der Teilungsplan, der nach der Shoah ein Heimatland für Juden vorsah, in der Hoffnung, auch Platz für ein palästinensisch-arabisches Heimatland zu schaffen, setzte die Nakba in Gang. War dies eine notwendige Konsequenz? Die akademische, politische und spekulative Debatte, die diese Frage beantworten möchte, ändert nichts an der Realität, die sich aus diesen Ereignissen ergeben hat: Die Errichtung eines definierten jüdischen Staates führte dazu, daß die Palästinenser an den Rand der Geschichte gedrängt wurden. […] Die Entscheidung zur Teilung Palästinas, ‚zwei Staaten für zwei Völker‘, beruht genau auf der Überzeugung, daß das jüdische Volk nach der Shoah ein sicheres Heimatland braucht und dies nicht bedeuten darf, daß die Palästinenser ihr Land verlieren. Aber kann jüdische Sicherheit mit palästinensischer Gerechtigkeit kombiniert werden? Ist die Zwei-Staaten-Lösung heute noch aktuell?“
Auf diese letzte Frage antwortet Neuhaus mit Nein und schreibt dazu:
„[…] wenn man sich die Realität vor Ort ansieht, nach Jahrzehnten israelischer Übergriffe auf die im Krieg von 1967 besetzten Gebiete, mit dem unaufhaltsamen Bau jüdischer Siedlungen, israelischer Straßen und anderer Infrastrukturen, erscheint die Zweistaatenlösung heute unrealistisch.“
Tatsächlich, so Neuhaus, gibt es noch Schlimmeres:
„Seit 2004 haben einige argumentiert, daß der angemessene Begriff zur Definition der aktuellen Situation Apartheid ist. In den vergangenen Jahren wurde der Vorwurf, Israel bediene sich eines Apartheidsystems, um die Palästinenser zu beherrschen, von den besetzten Gebiete sogar auf den Staat Israel selbst und seine Kontrolle über die palästinensisch-arabischen Bürger Israels ausgeweitet.“
Zur Untermauerung des „Apartheids“-Vorwurfs zitiert Neuhaus eine Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die im September 2022 in Karlsruhe abgegeben wurde. Der Jesuit stellt dazu fest, daß sich auf politischer und diplomatischer Ebene „der Schwerpunkt langsam auf ein verändertes Vokabular verlagert“, wobei das Schlüsselwort „Gleichheit“ laute.
Auch die demografische Entwicklung dränge laut Neuhaus in diese Richtung:
„Heute leben sieben Millionen israelische Juden und sieben Millionen palästinensische Araber Seite an Seite an diesen Orten.“
Zwei Millionen der Palästinenser wohnen in Israel und machen dort fast ein Viertel der Bevölkerung aus. Sie fordern „gleiche Rechte“ und bringen „gleichzeitig eine wachsende Enttäuschung über den politischen Prozeß im Lande zum Ausdruck“. Daher sei „der Kampf um Gleichheit zwischen israelischen Juden und palästinensischen Arabern ein integraler Bestandteil des Versuchs, den anhaltenden Konflikt zu lösen“.
Und weiter:
„Da die Möglichkeit einer Teilung – in einer Realität, in der Israel den größten Teil der im Krieg von 1967 besetzten Gebiete fast annektiert hat – jeden Tag zweifelhafter erscheint, könnte dies der richtige Zeitpunkt sein, um das Bewußtsein für die Notwendigkeit eines Kampfes für die Gleichheit von Israelis und Palästinensern zu stärken, in welchem politischen Rahmen sich die Situation auch immer entwickeln mag.“
Neuhaus verweist darauf, daß die katholischen Bischöfe des Heiligen Landes sich bereits 2019 skeptisch zur Zwei-Staaten-Lösung äußerten und die Lösung vielmehr in der „Gleichberechtigung“ erkannten:
„Wir haben in der Vergangenheit in diesem Land zusammengelebt, warum sollten wir nicht auch in Zukunft zusammenleben? Das ist unsere Vision für Jerusalem und für das gesamte Gebiet, das Israel und Palästina genannt wird und zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer liegt.“
In einer Umfrage des Israel Democracy Institute vom September 2022, so Neuhaus, sprachen sich nur 32 Prozent der israelischen Juden für eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Und laut einer im Oktober 2022 vom Palestinien Center for Policy and Survey Research durchgeführten Umfrage befürworteten nur 37 Prozent der Palästinenser in Palästina ein solches Projekt.
Und was ist mit den Christen im Heiligen Land? Der jüngste Bericht des Päpstlichen Hilfswerks Kirche in Not zeichnet diesbezüglich ein zweigeteiltes statistisches Bild.
Im ganzen Heiligen Land, also in Israel und Palästina zusammen, sind 49 Prozent der Bevölkerung Juden und 43,5 Prozent Muslime. Die Christen hingegen machen nur mehr 1,5 Prozent oder 217.000 aus. Etwa die Hälfte davon sind griechisch-orthodoxe Christen des Patriarchats von Jerusalem. In Israel schrumpfte der Anteil der Christen von zwölf Prozent auf zwei Prozent, in den Palästinensergebieten auf ein Prozent. Die jüngsten Zahlen überraschen, denn historisch lag der Christenanteil im palästinensischen Teil deutlich über dem israelischen. Gut 60 Prozent der palästinensischen Christen leben nach 75 Jahren des Konflikts in der Diaspora. Die Abwanderung aus dem muslimisch kontrollierten Teil findet kein Ende, was auch mit innerislamischen Veränderungen zu tun hat. In Betlehem, einer Stadt, die noch vor 100 Jahren fast ganz christlich war, sind die Christen gegenüber den Muslimen zur schrumpfenden Minderheit geworden.
Die Anregung von P. Neuhaus dürfte für erhebliches Aufsehen sorgen. Es ist auch denkbar, daß sie Papst Franziskus als Versuchsballon steigen läßt, um die Reaktionen beobachten zu können. Bereits jetzt belauern sich allerdings beide Seiten in demographischer Hinsicht. Wie würde das erst in einem gemeinsamen Staat sein?
Im europäischen Kontext ist es nur der Schweiz 1848 gelungen ein Modell für einen funktionierenden mehrschichtigen Ausgleich zu finden zwischen Volksgruppen und Konfessionen, Zentralismus und Föderalismus. Es spricht Bände, daß das Schweizer Modell nirgends übernommen wurde, nicht einmal in den direkten Nachbarstaaten Frankreich, dem Kaisertum Österreich und dem neugeschaffenen Italien, obwohl es dort an Konflikten nicht fehlte. Die Folge waren schlechte Lösungen, Vertreibung und Totschlag.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: La Civiltà Cattolica/Wikicommons (Screenshots)
Ich habe mich oft mit arabischstämmigen Israelis in Jerusalem unterhalten. Nicht wenige von ihnen möchten Seite an Seite mit jüdischen Israelis leben. Was so gut wie keiner von den arabischen Israelis will: Zustände wie in der Westbank oder in Gaza, auch nicht wie in Syrien, Irak, oder Lybien.
Eine Aufteilung Israels in 2 Staaten ist nicht realistisch. Wie soll dieser Flickenteppich aussehen? Und: in kürzester Zeit wäre solch ein arabischer Staat eine extremistische Hölle- das wollen die Araber ebenfalls auf keinen Fall.
Wer hier schnelle Lösungen sucht, ist bereits gescheitert.