(Rom) Der „letzte noch lebende Konzilsvater“, der „rote Bischof“, will als letzte Tat vor seinem Hinscheiden noch die Tötung ungeborener Kinder rechtfertigen – zumindest bis zum „vierten/fünften Monat“. Der Zersetzungsprozeß in der Kirche, aufgezeigt an einem konkreten, schockierenden Beispiel.
Msgr. Luigi Bettazzi wird in drei Tagen seinen 99. Geburtstag begehen. 1946 wurde er nach seiner Ausbildung am Priesterseminar von Bologna zum Priester geweiht und 1963 von Papst Paul VI. zum Weihbischof der Erzdiözese Bologna ernannt. Die Bischofsweihe spendete ihm Kardinal Giacomo Lercaro, der damalige Erzbischof von Bologna und einer der vier Moderatoren des Zweiten Vatikanischen Konzils. Kardinal Lercaro gehörte zu den progressiven Rädelsführern des Konzils und wurde als „roter Kardinal“ bekannt, und das nicht wegen des Purpurs.
Bettazzi selbst, der an drei der vier Konzilssessionen teilnahm, gefiel sich darin, in der Konzilsaula mit einem Zitat aus einem Buch zu provozieren, das sich auf dem Index librorum prohibitorum befand. Substantielle Beiträge von ihm sind nicht überliefert. Das regionale Priesterseminar der Romagna in Bologna war ein Zentrum der progressiven Subversion.
Die Bezeichnung für Kardinal Lercaro, dessen Assistent Bettazzi war, wurde auch ihm bald zu eigen, als er 1966 von Paul VI. zum Bischof von Ivrea ernannt wurde. Als „roter Bischof“ sorgte er für Aufsehen und Ärgernis, ohne für Glauben und Kirche Gewinne zu erzielen.
1994 schien es erstmals soweit, daß für Italiens Kommunisten die Machtübernahme zum Greifen nahe war. Dann wurde aber Silvio Berlusconi und sein neues Wahlbündnis im letzten Augenblick zum unerwarteten Problem. In seiner Wahlhilfe für die vereinigte Linksfront, die sich Allianz der Progressisten nannte, ging Bettazzi soweit, zu erklären, Jesus sei ein „Progressist“ gewesen.
Bettazzi gilt seit einigen Jahren als „letzter noch lebender Konzilsvater“. Das ist zwar nicht ganz zutreffend, hilft aber dem Image und soll Bettazzis Stimme mehr Gewicht verschaffen. Erst im vergangenen Juni verstarb Msgr. Gabino Díaz Merchán, ehemaliger Erzbischof von Oviedo, als letzter noch lebender Konzilsteilnehmer Spaniens. 2018 waren die letzten Konzilsväter der USA und Frankreichs verstorben, zwei Ultraprogressive: Msgr. Raymond Hunthausen, ehemaliger Erzbischof von Seattle, und Msgr. Pierre Pican, ehemaliger Bischof von Bayeux und Lisieux. Der letzte deutsche Konzilsvater, Msgr. Johannes Jobst, ehemaliger Bischof von Broome in Australien, war schon 2014 verstorben. Neben Bettazzi leben noch vier weitere Konzilsväter; drei davon in Mexiko, Südkorea und Indien, die in Europa unbekannt sind. Nur der jüngste von ihnen, der nigerianische Kardinal Francis Arinze, der von 2002 bis 2008 Präfekt der römischen Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung war, wäre in der Weltkirche bekannt. Er wurde erst am 29. August 1965 zum Bischof geweiht und streifte daher das Konzil nur mehr in den letzten Sitzungen. Wahrscheinlich der Grund, weshalb er sich mit eigenen Erzählungen dazu, eher zurückhält.
Zutreffend ist hingegen, daß Bettazzi der letzte noch lebende Unterzeichner des sogenannten Katakombenpaktes ist, der 1965 von 40 Konzilsvätern am Ende des Konzils im Geist der Befreiungstheologie geschlossen wurde. Zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung sagte Bettazzi:
„Mit Papst Franziskus lebt der Katakombenpakt wieder auf.“
2016 meinte Bettazzi erfreut, Papst Franziskus mache einen Don Andrea Gallo – einen „Priester, der fast alles leugnete“ – zum „Vorläufer“, der gesät habe, was nun geerntet werden könne.
Im Sommer 2020 erteilte Bettazzi Papst Franziskus den progressiven Ritterschlag, indem er den ersten Papst, der selbst nicht am Konzil beteiligt war, als „Sohn des Zweiten Vatikanischen Konzils“ bezeichnete. Bettazzi ging noch weiter, indem er sagte:
„Mit der Wahl von Bergoglio habe ich die programmatische Krönung des Konzils gesehen, an dem ich teilgenommen habe.“
Bettazzi: Die „neue Realität“ werde erst irgendwann ein Mensch
Am 15. August, dem Hochfest Mariä Himmelfahrt – ausgerechnet –, meldete sich Bettazzi in der Zeitschrift Rocca (16/17/2022) der Vereinigung Pro Civitate Christiana von Assisi zu Wort, einer „historischen Stimme des progressiven und pazifistischen Katholizismus“, so der Vatikanist Sandro Magister. Darin präsentierte der 99jährige „Überlegungen zur Abtreibung“.
Bettazzi erbrachte auf den zwei Seiten seines Beitrages den Beleg, daß Progressismus in Wirklichkeit Rückschritt bedeuten kann, indem er zu einer längst überwunden geglaubten Position zurückkehrte und die These vertrat, ein ungeborenes Kind sei erst ab dem „vierten/fünften“ Schwangerschaftsmonat ein Mensch und könne daher bis dahin durch Abtreibung getötet werden. Wissenschaftlich ist die Aussage seit den bahnbrechenden Forschungen des auf Embryogenese, insbesondere Morphologie spezialisierten deutschen Anatomen Erich Blechschmidt (1904–1992) widerlegt. Er brachte den Nachweis, daß der Mensch ab der Zeugung Mensch ist und nicht irgendwann zum Menschen wird.
Dagegen sträubt sich die Abtreibungslobby, die Scheuklappen aufhat und den aktuellen wissenschaftlichen Wissensstand nicht rezipiert, weil er ihrer „Haltung“ diametral widerspricht. Diese Lobby wird aus zwei Strömungen gespeist, die beide auf den Sozialdarwinismus zurückgehen: die finanzstarken westlichen Neomalthusianer (Überbevölkerungstheoretiker) und die marxistische (emanzipatorische) Bewegung, weshalb die Sowjetunion 1920 das erste Land weltweit war, das die Abtreibung legalisierte. Beide Strömungen arbeiten schon lange zusammen. Als es noch den Nationalsozialismus gab, war auch dieser mit von der Partie. Für die Abtreibungsbefürworter geht Ideologie vor Wissenschaft, ein moralisches Defizit, das viele Millionen Menschen das Leben gekostet hat und durch das die Abtreibung zum größten Massaker der Menschheitsgeschichte wurde.
Seit 1968 gelang es der Abtreibungslobby im Zusammenwirken von neomalthusianischen Geldgebern und marxistischen Fußtruppen in der westlichen Welt, das Lebensrecht der ungeborenen Kinder in Frage zu stellen. Dem stellte sich die katholische Kirche entgegen und wurde zum letzten großen Bollwerk der Menschlichkeit. Darunter leiden progressive Kirchenvertreter, da es ihren Schulterschluß mit der politischen Linken gefährdet, die neuerdings als globalistischer Mainstream auftritt, wobei die Führung in der Hand der Neomalthusianer liegt. Deren Thesen unterstützen manche Kirchenmänner sogar aus Überzeugung.
Unter dem Druck der linken Themenführerschaft versuchen progressive Kirchenvertreter die Quadratur des Kreises. Ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb sie bereit sind, die kirchlichen Bastionen zu schleifen und die feindliche Übernahme zu akzeptieren. Diese Position vertritt auch Bettazzi, und das konkret in einer Frage von Leben oder Tod. Die Gefährdung der Seele scheint sich, irdisch gesehen, fast erübrigt zu haben, indem die Seele selbst und das Seelenheil weitgehend erfolgreich aus dem kirchlichen Vokabular verdrängt wurde.
Aus dem Artikel in der Zeitschrift Rocco geht hervor, daß sich Bettazzi dabei genau bewußt ist, daß seine Position in entschiedenem Widerspruch zur Lehre der katholischen Kirche steht und das „kirchliche Konzept der Abtreibung untergräbt“
Piana: Wann jemand ein Mensch wird, ist „immerwährend offen“?
Vor wenigen Tagen sekundierte ihm, wiederum in derselben Zeitschrift (Rocca, 22/2022), Giannino Piana, Priester, ehemaliger Ethikdozent an den Universitäten von Turin und Urbino und einer der meistgelesenen progressiven Moraltheologen Italiens. Der 83 Jahre alte Piana greift darin Bettazzis These auf und entwickelt sie weiter, sprich, er treibt die Stollen weiter, die unter die Kirchenmauern gegraben werden, um den Sprengstoff zu plazieren, mit dem sie in die Luft gesprengt werden sollen.
Um den Widerspruch „zur traditionellen Lehre der Kirche“ zu überwinden, fabuliert Piana, daß „die authentische christliche Tradition nicht als monolithischer Block gedacht werden kann und darf, der mumifiziert und repetitiv weitergegeben wird“. Sie sei im Gegenteil „eine offene und innovative Tradition, die sich ständig weiterentwickelt“, denn „der Mut zur Veränderung, unter voller Wahrung der evangelischen Substanz, ist der Weg, um sie glaubwürdig und universalisierbar zu machen“. Soso. Ein typisch schwaches Argument eines schwachen Denkens, das meist interessengeleitet ist.
Aus den beiden Aufsätzen geht umso deutlicher hervor, daß Bettazzi und Piana – wie dies derzeit vor allem durch Angriffe gegen das Weihesakrament und mit Blick auf die Homosexualität gegen die Ehe- und Morallehre geschieht – den Dammbruch in der Lebensrechtsfrage wollen. Wo immer die katholische Kirche im Widerspruch zum tonangebenden gottlosen Denken steht, soll sie sich anpassen – um jeden Preis.
Bettazzis Argumentationsbasis ist zwangsläufig dünn. Er spricht von einer Unterscheidung zwischen „Vernunft“ und „Intuition“, zwischen einer Form der Wirklichkeitserkenntnis, die auf das „Ich“, und einer, die auf das „Wir“ konzentriert sei. Ehrlicher wäre es, vom Spannungsfeld zwischen Sollen und Wollen zu sprechen. In seinen zersetzenden Ausführungen mißbraucht er stattdessen die Genesis, wo es heißt: „Gott formte den Menschen aus dem Staub der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase, und der Mensch wurde ein lebendiges Wesen“, um daraus abzuleiten, daß die biblische Erzählung in dem, was mit dem Staub der Erde geformt wird, als „etwas Vorläufiges“ zu verstehen sei, „das noch nicht der einzelne Mensch ist“, der erst später durch den Odem des Lebens zu einem solchen werde.
So stellt Bettazzi die Frage, wann der Odem des Lebens „diese Realität“ zum Menschen mache: „Die Vernunft sagt uns, daß das der Moment ist, in dem das männliche Sperma die weibliche Eizelle befruchtet“. Die „Intuition“ sei aber „unsicherer und offen für Geheimnisse“. Sie zögere, zu sagen, „daß diese neue Realität bereits eine Person ist. Ist das der Fall, nachdem sich die befruchtete Eizelle im Mutterleib eingenistet hat? Ist das im dritten Monat der Schwangerschaft der Fall, wenn die verschiedenen Teile des Körpers bereits konfiguriert sind?“
Beide Fragen beantwortet Bettazzi mit Nein. Viel überzeugender sei die Behauptung, so der Bischof, „eines modernen Wissenschaftlers“, dessen Namen er wohlweislich nicht nennt, daß „der Mensch erst dann zu einem autonomen Individuum, zu einer Person wird, wenn er noch im Mutterleib fähig ist, als Mensch zu leben und selbständig zu atmen: also nicht vor dem vierten/fünften Monat, wie Johannes der Täufer, der im sechsten Monat auf den Gruß Marias hin in Elisabeths Schoß sprang“.
Wie praktisch, daß Bettazzis willkürliches Fischen im Trüben zu einem Ergebnis führt, das mit der geltenden Abtreibungsgesetzgebung in den meisten westlichen Staaten übereinstimmt.
Piana, einst Vorsitzender der 1966 gegründeten Italienischen Vereinigung der Moraltheologen (ATISM), springt auf Bettazzis Zug auf und betont „das besondere Gefühl der Frau“, das „von einer einzigartigen existenziellen Verstrickung“ geprägt ist, um „den menschlichen Prozeß, in dem man zur Person wird“, zu erkennen, der „in keiner Weise in vordefinierte Schemata eingeschlossen ist“ und „sich als immerwährend offen darstellt“.
Der Zeitpunkt, wann das Etwas, die „neue Realität“, zu einer Person wird, sei „immerwährend offen“. Hört, hört. Da wird von einem katholischen Bischof und einem Priester eine moraltheologische Atombombe mit ihrem ganzen Vernichtungspotential gezündet.
Da hilft auch nicht Pianas Erklärung, daß „der Zeitpunkt des Beginns des persönlichen Lebens vor den Akt der Befruchtung zu verlegen ist“, da er im gleichen Atemzug anfügt, daß „man im strengen Sinne nicht von Abtreibung sprechen kann, wenn man nicht einen beträchtlichen Abstand zu diesem Ereignis hat“, und daraus folgert – und darum geht es Bettazzi und Piana in der Sache –, daß „die Unterdrückung von Leben in den ersten Monaten der Schwangerschaft, wie schwerwiegend sie auch sein mag, nicht als Tötung eingestuft werden kann“.
Und Rom? Schweigt
Und Rom reagiert, wie man es unter Papst Franziskus schon von anderen Fronten gewohnt ist, an denen dem Zeitgeist zu widersprechen wäre: durch Schweigen.
Hat sich Franziskus aber nicht mehrfach mit sehr drastischen Worten gegen die Tötung ungeborener Kinder ausgesprochen und damit die kirchliche Lehre gegen die Tötungsorgie bekräftigt?
Ja, das hat er. Konsequenzen daraus meidet er jedoch, denn das wäre ein „Kulturkampf“, und der scheint in seinen Augen besonders verwerflich. Das ließe sich aber auch anders deuten. Bettazzis und Pianas These ist aus der Sicht ihrer Autoren jedenfalls problemlos mit der Abtreibungsverurteilung durch Franziskus vereinbar: Von einem Kind, sprich einer Person, könne erst gesprochen werden, sobald der Odem eingehaucht ist; daher könne vorher auch nicht von einer Abtreibung gesprochen werden.
Durch Ausblenden und Zurechtbiegen scheint, zumindest dialektisch, die Quadratur des Kreises also doch geglückt? Ja, auf einem Leichenberg, aber dafür mit dem Vorteil, einen Kulturkampf vermieden zu haben.
Beide, der Bischof und der Moraltheologe, würden umso entschiedener beteuern, daß aber dann, ab dem „vierten/fünften“ Schwangerschaftsmonat von einem Kind, einer Person zu sprechen sei, dessen Tötung die Vernichtung eines Menschenlebens ist, die natürlich abzulehnen ist – zumindest solange, bis „Intuition“ und „Gefühl“ (im Klartext die Abtreibungslobby), andere Trennlinien zieht, wie dies bereits in den linksregierten Staaten New York (seit 2019) und Kalifornien (2022) der Fall ist, wo ungeborene Kinder bis zum Zeitpunkt der Geburt getötet werden können. Auch deutsche Medien präsentierten die grausamste nur mögliche Abtreibungsgesetzgebung als „sicheren Hafen für Frauen“ und „Ort der Zuflucht“. Daß sie dies mit Anführungszeichen taten, unterstreicht bestenfalls die Scheinheiligkeit der Meinungskontrolle des menschenfeindlichen neomalthusianisch-marxistischen Kartells.
Einige Kirchenvertreter haben längst die Seiten gewechselt. Das ist eine Tatsache, der in die Augen gesehen und die ausgesprochen werden muß.
Papst Franziskus hüllt sich in Schweigen, als würde er nicht wissen, was der ehemalige Vorsitzende der italienischen Vereinigung der Moraltheologen und der letzte noch lebende Konzilsvater von sich geben, den er schon persönlich in Audienz empfangen hat, und die sich beide als „Bergoglianer“ verstehen.
Und ein letztes: Das häßliche Bild, das Luigi Bettazzi als letzter noch lebender Konzilsvater des Westens abgibt, scheint mit Symbolkraft auch bezeichnend für das Zweite Vatikanische Konzil.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Youtube/Rocca (Screenshots)