von Roberto de Mattei*
Die katholische Kirche hat, getreu dem Auftrag ihres göttlichen Meisters: „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium allen Geschöpfen“ (Mk 16,15), seit ihrer Gründung ein großes Missionswerk vollbracht, durch das sie der Welt nicht nur den Glauben, sondern auch die Zivilisation gebracht und Orte, Völker, Institutionen und Sitten geheiligt hat. Dank dieser Arbeit hat die Kirche auch die Völker der beiden Amerikas zivilisiert, die eingetaucht waren in Heidentum und Barbarei.
In Kanada gelangte die erste Jesuitenmission im Jahr 1625 nach Québec unter der Leitung von Pater Charles Lallemant (1587–1674). Im Jahr 1632 folgte eine zweite Mission unter der Leitung von Pater Paul Le Jeune (1591–1664). Pater Jean de Brébeuf (1593–1649) kehrte 1633 mit zwei Patres nach Kanada zurück. Von Hütte zu Hütte begannen sie, Kindern und Erwachsenen Katechismusunterricht zu erteilen. Aber einige Zauberer überzeugten die Indianer, daß die Anwesenheit der Priester Dürre, Epidemien und jedes andere Unglück verursachte. Die Jesuiten beschlossen daraufhin, die Katechumenen [Taufanwärter] zu schützen, indem sie sie in christlichen Dörfern isolierten. Das erste Dorf wurde vier Meilen außerhalb von Québec errichtet. Es hatte ein kleines Fort, eine Kapelle, Häuser, ein Krankenhaus und die Residenz der Patres [so nennen die Jesuiten eine Ordensniederlassung].
Zur gleichen Zeit boten sich einige Freiwillige an, die Indianer zu bekehren: die heilige Maria von der Menschwerdung Guyart Martin (1599–1672), eine Ursuline aus Tours, die mit zwei Schwestern in Québec ein Internat für die Erziehung von Indianerkindern gegründet hatte; Madame Marie-Madeleine de la Peltrie (1603–1671), eine französische Witwe, die mit einigen Hospitalschwestern aus Dieppe ein Krankenhaus, ebenfalls in Québec, aufgebaut hatte; die Mitglieder der Société Notre-Dame, die mit Hilfe des Sulpizianerpaters Jean-Jacques Olier (1608–1657) und der Compagnie du Saint-Sacrement 1642 die Missionsstation Ville-Marie gegründet hatten, aus der Montreal hervorgehen sollte.**
Die Irokesen-Indianer erwiesen sich jedoch als unerbittlich feindselig. Sie hatten Pater Isaac Jogues (1607–1646) und seinen Coadjutor René Goupil (1608–1642) auf grausame Weise verstümmelt, indem sie heiße Kohlen über sie schütteten. Im März 1649 wurden die Patres de Brébeuf und Gabriel Lallemant (1610–1649) von den Irokesen gemartert. Pater Brébeuf wurde mit glühenden Stangen durchbohrt, und die Irokesen rissen ihm Fleischfetzen vom Leib und verschlangen sie vor seinen Augen. Als der Märtyrer weiter Gott lobte, schnitten sie ihm Lippen und Zunge ab und stießen ihm brennende Glut in die Kehle. Pater Lallemant wurde unmittelbar danach mit noch größerer Grausamkeit gefoltert. Dann schlug ihm ein Wilder mit einer Axt den Kopf ab, riß ihm das Herz heraus und trank sein Blut, um sich seine Kraft und seinen Mut anzueignen. Eine weitere Welle des Hasses führte im Dezember zu zwei neuen Märtyrern, den Patres Charles Garnier (1605–1649) und Noël Chabanel (1613–1649). Die acht Jesuitenmissionare, die als „kanadische Märtyrer“ bekannt sind, wurden 1925 von Papst Benedikt XV. selig- und 1930 von Papst Pius XI. heiliggesprochen.
Diese Episoden sind Teil des historischen Gedächtnisses Kanadas und dürfen nicht vergessen werden. Als Jesuit sollte Papst Franziskus mit diesem Epos vertraut sein, das unter anderem von seinem Mitbruder Pater Celestino Testore in seinem Buch I santi martiri canadesi („Die heiligen kanadischen Märtyrer“) erzählt wurde, das 1941 erschien und 2007 in Italien vom Verlag Chirico neu aufgelegt wurde.
Vor allem aber hätte der Heilige Vater den „Fall“ der angeblichen Entdeckung von Massengräbern in den sogenannten „Indian Residential Schools“ in Kanada mit größerer Umsicht behandeln sollen. Dabei handelt es sich um ein Netz von Internaten für kanadische Ureinwohner, das von der Regierung gegründet und hauptsächlich der katholischen Kirche, teilweise aber auch der anglikanischen Kirche von Kanada (30 %) anvertraut wurde, um die Jugendlichen gemäß dem 1857 vom kanadischen Parlament verabschiedeten Gradual Civilization Act in die Kultur des Landes zu integrieren. In den letzten Jahrzehnten wurde die katholische Kirche jedoch beschuldigt, an einem Plan zur kulturellen Auslöschung der Ureinwohner beteiligt gewesen zu sein, deren junge Menschen aus ihren Familien entführt, indoktriniert und manchmal mißbraucht wurden, um von der dominanten Kultur „assimiliert“ zu werden. Im Juni 2008 entschuldigte sich die „indigenistische“ kanadische Regierung offiziell bei den Ureinwohnern und errichtete eine Commission de vérité et réconciliation (CVR. Kommission für Wahrheit und Versöhnung für die indianischen Internatsschulen).
Die Forscher der Kommission haben trotz der 71 Millionen Dollar, die sie erhalten haben, sieben Jahre lang gearbeitet, ohne die Zeit zu finden, die Archive der Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria (OMI) zu konsultieren, des Ordens, der Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einrichtung von Internatsschulen begann. Der Historiker Henri Goulet, der sich in seiner Histoire des pensionnats indiens catholiques au Québec. Le rôle déterminant des pères oblats (Presses de l’Université de Montréal, 2016) hingegen auf eben diese Archive stützt, erbrachte den Nachweis, daß die Oblaten die einzigen Verteidiger der traditionellen Sprache und Lebensweise der Indianer Kanadas waren – im Gegensatz zur Regierung und der anglikanischen Kirche, die auf einer Integration bestanden, die die Ureinwohner von ihren Ursprüngen entwurzelte. Diese historiografische Linie wird in den Arbeiten eines der führenden internationalen Wissenschaftler für die Religionsgeschichte Kanadas, Prof. Luca Codignola Bo von der Universität Genua, bestätigt.
Vom Vorwurf des „kulturellen Völkermordes“ sind wir inzwischen zum Vorwurf des „physischen Völkermordes“ übergegangen. Im Mai 2021 stellte die junge Anthropologin Sarah Beaulieu, nachdem sie mit einem Georadar das Gelände in der Nähe der ehemaligen Internatsschule in Kamloops untersucht hatte, die Behauptung auf, daß es ein Massengrab gibt, obwohl sie noch nicht einmal eine Ausgrabung durchgeführt hatte. Die Behauptungen der Anthropologin, die in den Mainstream-Medien verbreitet und von Premierminister Justin Trudeau unterstützt wurden, haben sich in verschiedene Narrative verwandelt, von denen einige behaupten, daß „Hunderte von Kindern“ „getötet“ und „heimlich“ in „Massengräbern“ oder in unregelmäßigen Grabhügeln auf dem Gelände „katholischer Schulen“ in „ganz Kanada“ begraben wurden.
Diese Nachricht entbehrt jeder Grundlage, denn es wurden nie Leichen exhumiert, wie Vik van Brantegem bereits am 22. Februar 2022 in seinem Blog Korazym.org dokumentierte. Am 1. April 2022 erschien im Uccr-Blog ein ausführliches Interview mit dem Historiker Jacques Rouillard, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Montreal, der den kulturellen und physischen Völkermord an den kanadischen Ureinwohnern kategorisch leugnet und die Existenz von Massengräbern in Internaten bestreitet. Er ist überzeugt, daß der Versuch einer millionenschweren Entschädigungseintreibung dahintersteckt. Am 11. Januar veröffentlichte Prof. Rouillard einen ausführlichen Artikel im kanadischen Portal Dorchester Review, in dem er feststellte, daß in den angeblichen Massengräbern klandestiner, illegaler Beerdigungen in der Schule von Kamloops keine Kinderleichen gefunden wurden. Bei dem Internat befanden sich nur normale Friedhöfe, auf denen Angehörige der örtlichen Gemeinschaft, Schüler und die Missionare selbst beerdigt wurden. Nach den von Rouillard vorgelegten Unterlagen starben zwischen 1915 und 1964 51 Kinder. Bei 35 von ihnen wurden Dokumente gefunden, die die Todesursache belegen, hauptsächlich Krankheiten und in einigen Fällen Unfälle. Ein neuer Artikel von Professor Tom Flanagan und Richter Brian Gesbrecht, der am 1. März 2022 in der Dorchester Review unter dem Titel The False Narrative of the Residental Schools Burials veröffentlicht wurde, weist erneut darauf hin, daß es in der 113jährigen Geschichte der katholischen Internatsschulen nicht die Spur eines einzigen angeblich getöteten Schülers gibt. Nach denselben Daten der Commission de vérité et réconciliation (CVR) lag die Sterblichkeitsrate bei den Jugendlichen, die die Internate besuchten, bei durchschnittlich 4 Todesfällen pro Jahr je 1.000 Jugendlichen, wobei die Hauptursache Tuberkulose und Grippe waren.
Es scheint, daß die Ausgrabungen in Kamloops endlich genehmigt wurden, aber, wie Prof. Rouillard sagt, wäre es besser gewesen, wenn sie im vergangenen Herbst stattgefunden hätten, damit die Wahrheit bekannt wird und Papst Franziskus nicht Kanada besucht, um sich auf der Grundlage unbewiesener Annahmen zu entschuldigen. Der kanadische Akademiker sagte:
„Es ist unglaublich, daß eine Voruntersuchung zu einem angeblichen Massengrab in einer Obstplantage zu einer solchen Spirale von Behauptungen führen konnte, die von der kanadischen Regierung gebilligt und von den Medien weltweit aufgegriffen wurden. Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen Geschichte und mündlicher Überlieferung der Ureinwohner, sondern zwischen letzterer und dem gesunden Menschenverstand. Es bedarf harter Beweise, bevor die Anschuldigungen gegen die Oblaten und die St.-Anna-Schwestern in die Geschichte eingehen können. Mit der Exhumierung wurde noch nicht begonnen, und es wurden noch keine Leichen gefunden. Ein begangenes Verbrechen erfordert überprüfbare Beweise, insbesondere wenn die Beschuldigten schon lange tot sind. Deshalb ist es wichtig, daß die Ausgrabungen so bald wie möglich stattfinden, damit die Wahrheit über Fantasie und Emotionen siegt. Ist es auf dem Weg zur Versöhnung nicht der beste Weg, die ganze Wahrheit zu suchen und zu sagen, anstatt sensationelle Mythen zu schaffen?“
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
* * Ursprünglich waren die beiden an der Gründung von Montreal beteiligten religiösen Gesellschaften durch Zuordnung zu jüngeren Gemeinschaften falsch wiedergegeben worden. Wir bitten den Übersetzungsfehler zu entschuldigen. GN