(Ottawa) Am dritten Tag seines Kanada-Besuchs predigte Papst Franziskus bei der Messe im Commonwealth Stadium in Edmonton gegen den „toten Glauben der Lebenden“. Damit meinte er nicht etwa heidnische Religionen, sondern wandte sich erneut gegen den „Traditionalismus“.
Durch die von Franziskus geprägten Neologismen „Indietrismus“ (Rückwärtsgewandtheit) und „Indietristen“ (Rückwärtsgewandte) gibt er seiner Kritik einen klaren Adressaten. Gemeint sind Priester und Laien, die der Tradition verbunden sind, wie Franziskus vor kurzem verdeutlichte.
Die erneute Schelte gegen die Tradition erfolgte, während in den benachbarten USA führende Bergoglianer unter den Bischöfen, unter Berufung auf das Motu proprio Traditionis custodes von Papst Franziskus, den überlieferten Ritus unterdrücken und die der Tradition verbundenen Gemeinschaften einschränken.
In seiner Predigt sagte Franziskus (im Video der Meßübertragung ab etwa Minute 48:20):
„Und vergessen wir nicht, daß diese lebensspendende Bewegung von den Wurzeln bis zu den Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten des Baumes reicht. Wahre Tradition drückt sich in dieser vertikalen Dimension aus: von unten nach oben. Hüten wir uns davor, in die Karikatur der Tradition zu verfallen, die sich nicht in einer vertikalen Linie – von den Wurzeln zu den Früchten – bewegt, sondern in einer horizontalen Linie – vorwärts/rückwärts –, die uns zur Kultur des „Indietrismus“[Rückwärtsgewandtheit] als egoistischem Zufluchtsort führt; und die nichts anderes tut, als die Gegenwart einzukapseln und sie in der Logik des ‚das wurde schon immer so gemacht‘ zu bewahren.
Im Evangelium, das wir gehört haben, sagt Jesus den Jüngern, daß sie gesegnet sind, weil sie sehen und hören können, was so viele Propheten und Gerechte sich nur wünschen konnten (vgl. Mt 13,16–17). Viele hatten an Gottes Verheißung des Messias geglaubt, hatten ihm den Weg bereitet und seine Ankunft angekündigt. Nun aber, da der Messias gekommen ist, sind diejenigen, die ihn sehen und hören können, dazu aufgerufen, ihn willkommen zu heißen und ihn zu verkünden.
Brüder und Schwestern, das gilt auch für uns. Diejenigen, die uns vorangegangen sind, haben uns eine Leidenschaft, eine Kraft und eine Sehnsucht weitergegeben, ein Feuer, das wir neu entfachen müssen; es geht nicht darum, Asche zu bewahren, sondern das Feuer, das sie entfacht haben, neu zu entfachen. Unsere Großeltern und Ältesten wünschten sich eine gerechtere, brüderlichere und solidarischere Welt und kämpften dafür, daß wir eine Zukunft haben. Jetzt liegt es an uns, sie nicht zu enttäuschen. Es liegt an uns, diese Tradition, die wir erhalten haben, aufzugreifen, denn die Tradition ist der lebendige Glaube unserer Toten. Bitte, lassen Sie uns nicht zum Traditionalismus übergehen, der der tote Glaube der Lebenden ist, wie ein Denker sagte. Gestützt auf sie, auf unsere Väter, die unsere Wurzeln sind, liegt es an uns, Früchte zu tragen. Wir sind die Zweige, die in der Geschichte aufblühen und neue Samen säen müssen. Stellen wir uns also eine konkrete Frage: Was tue ich angesichts der Heilsgeschichte, zu der ich gehöre, und angesichts derer, die mir vorausgegangen sind und mich geliebt haben? Ich habe eine einzigartige und unersetzliche Rolle in der Geschichte: Welche Spuren hinterlasse ich, was tue ich, was hinterlasse ich denen, die mir folgen, was gebe ich von mir? So oft messen wir das Leben an dem Geld, das wir verdienen, an der Karriere, die wir machen, an dem Erfolg und der Anerkennung, die wir von anderen erhalten. Dies sind jedoch keine generativen Kriterien. Die Frage ist: Erzeuge ich etwas? Erzeuge ich Leben? Bringe ich eine neue und erneuerte Liebe in die Geschichte ein? Verkünde ich das Evangelium dort, wo ich lebe, diene ich jemandem unentgeltlich, wie es meine Vorgänger mit mir getan haben? Was tue ich für meine Kirche, meine Stadt und meine Gesellschaft? Brüder und Schwestern, es ist leicht zu kritisieren, aber der Herr will nicht nur, dass wir Kritiker des Systems sind, er will nicht, daß wir verschlossen sind, er will nicht, daß wir „Indietristen“ sind, die sich zurückziehen, wie der Autor des Hebräerbriefs sagt (vgl. 10,39), sondern er will, daß wir Handwerker einer neuen Geschichte sind, Weber der Hoffnung, Baumeister der Zukunft, Friedensstifter.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)