Buchbesprechung von Wolfram Schrems*
Mit Dankbarkeit nimmt man Informationen zu wertvollen theologischen Neuerscheinungen an. Ein solcher war der Hinweis auf das Werk des belgisch-kanadischen thomistischen Theologen und Philosophen Charles de Koninck (1906 – 1965). Dieser gilt als wichtiger Erneuerer der thomistischen Theologie und Philosophie im 20. Jahrhundert. Leider ist er außerhalb der Spezialistenkreise wie Sancrucensis und The Josias derzeit kaum bekannt.
Der Philosoph und Verleger Dr. Rafael Hüntelmann brachte im vergangenen Jahr eine Übersetzung des Traktates Über den Primat des Gemeinwohls – Gegen die Personalisten und das Prinzip der neuen Ordnung (1943) in seinem Verlag Editiones Scholasticae auf Deutsch heraus.
Das Thema Gemeinwohl bzw. „gemeinsames Gut“, bonum commune, ist angesichts der weitgehenden planvollen Zerschlagung gewachsener Strukturen wie Familie, Nation und Staat klarerweise wichtig und relevant. Darüber hinaus geht es beim Gemeinwohl letztlich um Gott. Daher dürfen Mißverständnisse oder bewußte Perversionen des bonum commune, wie sie im Marxismus und anderen Totalitarismen propagiert wurden, nicht für das Original gehalten werden. Der Traktat geht auch auf Feuerbach und Marx ein und zeigt, inwiefern diese Art von Verständnis von Person und Kollektiv nichts mit dem Gemeinwohl zu tun hat.
„Personalismus“?
Der äußere Anlaß der Veröffentlichung des Werkes im Jahr 1943 war der aufkommende „Personalismus“, dem sich de Koninck entgegenstellte. Beim „Personalismus“ handelt es sich allerdings um eine facettenreiche philosophische Strömung, deren vielfältige Ausprägungen nur schwer auf den Punkt zu bringen sind. Der gemeinsame Nenner aller dieser Ausprägungen ist, etwas schematisch gesagt, eine falsche Auffassung von der Begründung der Menschenwürde.
Im Vorwort zum Traktat von de Koninck schreibt Jean-Marie-Rodrigue Kardinal Villeneuve O.M.I., Erzbischof von Québec, zur Gefahr der Über- und Falschbewertung der Würde der menschlichen Person:
„Derzeit ist es der Personalismus, der in Mode gekommen ist. Sehr aufrichtige Köpfe befürworten ihn. Die Würde der menschlichen Person wird gepriesen, die Achtung vor der menschlichen Person wird gewünscht, Autoren schreiben, um eine personalistische Ordnung zu verteidigen, und man arbeitet daran, eine Zivilisation zu schaffen, die für den Menschen ist. Das ist alles schön und gut, aber zu einfach, denn die Person, der Mensch, ist nicht auf sich selbst als sein Ziel bestellt, noch ist er das Ziel von allem. Der Mensch hat Gott als seinen Zweck“ (8).
Damit ist angedeutet, worum es geht, bzw. was der Kardinal als inkompatibel mit dem Glauben sieht: die menschliche Person als Ziel in sich selbst.
„Personalistische“ Weichenstellungen hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts großen Einfluß etwa auf die Ehelehre ausgeübt (Karol Wojtyła sollte etwa eine eigene Form des „katholischen Personalismus“ entwickeln – wenn man diese Etiketten überhaupt verwenden will). Kardinal Villeneuve ist hier ablehnend:
„Nicht in einer personalistischen Auffassung der Ehe, auch nicht in einem sogenannten christlichen und sozialistischen Personalismus, die beide aus theoretischen und ethischen Zugeständnissen an den Irrtum resultieren, wird man daher die Lösung der Probleme finden können, die Abweichungen von der Wahrheit immer tragischer produzieren. Es ist immer die Wahrheit, die uns erlösen muss. Aber diese Vorstellungen zielen nur darauf ab, die gefährliche Einsamkeit, in die der Mensch versetzt wird, sobald er unter dem Vorwand, seine Würde zu erhöhen, vom Gemeinwohl losgelöst und isoliert wird, bis zur Verzweiflung zu treiben“ (11f).
Privates Gut, allgemeines Gut und Seligkeit
Im eigenen Vorwort erklärt de Koninck selbst, wo er das Problem im Personalismus sieht:
„Vergessen wir nicht, dass die Sünde dessen, der sündigt, von Anfang an in der Überhöhung seiner persönlichen Würde und des Eigengutes seiner Natur bestand; er zog sein Eigengut dem Gemeinwohl vor, einer Seligkeit, die teilhat und vielen gemeinsam ist; er lehnte letztere ab, weil es teilhat und gemeinsam ist“ (15).
Dazu ein illustrierendes Beispiel: Nach Johannes vom hl. Thomas wählen die Eingeladenen, die sich wegen des Kaufes der Ochsen oder der frisch stattgefundenen Hochzeit entschuldigen lassen (Lk 14,15ff), das private Gut zuungunsten des Mahles, das vielen gemeinsam ist, und zeigen so den Geist des Hochmutes (97).
Freiheit, Bindung und Würde
De Koninck legt dar, daß die Würde der menschlichen Person in der Bindung an Gott besteht:
„Die Würde der geschaffenen Person ist nicht ohne Bindungen, und der Zweck unserer Freiheit ist nicht, diese Bindungen zu überwinden, sondern uns zu befreien, indem wir sie stärken. Diese Bindungen sind die Hauptursache für unsere Würde. Die Freiheit selbst ist keine Garantie für die Würde“ (15).
Daher sind ein totalitäres Regime und das Gemeinwohl Widersprüche:
„Man kann die persönliche Würde bejahen und sich gleichzeitig in sehr schlechter Gesellschaft befinden. Reicht es dann aus, den Vorrang des Gemeinwohls zu bejahen? Auch das wird nicht ausreichen. Totalitäre Regime erkennen das Gemeinwohl als Vorwand, um Personen auf die schändlichste Weise zu unterjochen“ (16).
Der Grundsatz: das Gute und Gott
De Koninck ist ein klassisch thomistisch ausgebildeter Philosoph und kommt von daher zum Kern der Dinge:
„Das Gute ist das, was alle Dinge insofern begehren, als sie ihre Vollkommenheit begehren. Daher hat das Gute den Begriff einer letzten Ursache“ (18).
Das mag trivial klingen. Aber schon Platon hatte die Intuition, daß das Gute die höchste Idee ist. Leider versteht sich heutzutage das Gute nicht mehr von selbst und das Böse drängt dreist nach vorne und beansprucht dieselben Rechte.
Da wir aufgrund der Offenbarung weiter sind als Platon, wissen wir, daß Gott das höchste und damit auch das allgemeine Gut ist.
Die kreatürliche Freiheit erlaubte es den Engeln, genau das abzulehnen:
„Die gefallenen Engel lehnten nicht die Vollkommenheit des Gutes ab, das ihnen angeboten wurde; sie lehnten die Tatsache ab, dass es gemeinschaftlich ist, und sie verachteten diese Gemeinschaft“ (23).
Privates Wohl gegen das Gemeinwohl gesetzt gebiert Tyrannei
Für das gemeinschaftliche Leben, auf das der Mensch hingeordnet ist, ist die Ausrichtung auf das Gemeinwohl der einzige Schutz vor der Tyrannei:
„Eine Gesellschaft, die von Personen gebildet wird, die ihr privates Gut über das Gemeinwohl stellen oder das Gemeinwohl mit dem privaten Gut identifizieren, ist eine Gesellschaft nicht freier Menschen, sondern von Tyrannen – ‚und so wird das ganze Volk wie ein Tyrann‘ –, die sich gegenseitig mit Gewalt führen, wobei das oberste Oberhaupt niemand anderes ist als der Klügste und Stärkste unter den Tyrannen und die Untertanen nur frustrierte Tyrannen sind. Diese Verweigerung des Gemeinwohls entspringt an der Wurzel dem Misstrauen und der Verachtung von Personen“ (23).
Die Nutzanwendung dieser Einsicht ist in Zeiten privater Aktivitäten schamlos reicher und teuflisch stolzer Oligarchen ohne weiteres klar.
Übrigens ist die Ordnung etwas sehr Wichtiges. Wir haben das heute entweder nicht am Radar oder wir fürchten uns davor, als Ordnungsfanatiker oder „law and order-Sheriffs“ verhöhnt zu werden. Das Gute der Ordnung des Universums ist das Vorbild der Ordnung der Gesellschaft:
„Die Dinge haben an der göttlichen Güte durch Ähnlichkeit teil, insofern sie selbst gut sind. Das Beste aber an den geschaffenen Dingen ist das Gute der Ordnung des Universums, das das Vollkommenste ist, wie der Philosoph sagt […]; dies steht auch im Einklang mit der Heiligen Schrift, wo es heißt: Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und es war sehr gut (Gen I, 31), während er von den Werken der Schöpfung für sich genommen nur gesagt hatte, sie seien gut.“ (28)
In einem zweiten Teil werden das „Prinzip der neuen Ordnung“ und die menschliche Selbstüberhebung im „Humanismus“ thematisiert. Es folgen fünf Anhänge mit einschlägigen Vertiefungen und Weiterführungen.
Resümee: Korrekturbedarf in der Frage der Menschenwürde nach dem II. Vaticanum
Für de Koninck ist die Frage nach der Begründung der Menschenwürde ein zentrales Thema. Dem Rezensenten scheint, daß falsche Vorstellungen von Menschenwürde, wie sie de facto (ob zu Recht oder nicht, darüber streiten die Gelehrten) über Dignitatis humanae in die Kirche eingedrungen sind, eine Hauptursache der derzeitigen Verwirrung, Apostasie und Entchristlichung der Staaten und Kulturen darstellen. De Koninck dazu:
„Indem der Mensch sündigt, stellt er sich außerhalb der Ordnung der Vernunft, und folglich verliert er die Menschenwürde.“ (34, Zitat aus der Summa theologiae)
Hier kommt die Frage nach dem Gemeinwohl wieder in den Blick:
„Der Mensch versagt in seiner Menschenwürde, wenn er das eigentliche Prinzip dieser Würde ablehnt: das im Gemeinwohl verwirklichte Wohl des Verstandes“ (34).
Schließlich ist keine menschliche Person ihr eigener Endzweck. Der Mensch ist berufen, in der Ordnung Gottes zu bleiben, des wahren Gottes natürlich, und so seine Würde zu erlangen und sein Heil zu erreichen:
„Weil kein anderes Agens [außer Gott] sein eigener Endzweck ist und weil der Eigenzweck aller anderen Wesen auf einen höheren Zweck hingeordnet werden kann, ist das vernunftbegabte Geschöpf fehlbar und kann seine Würde verlieren; seine Würde ist nur insoweit gesichert, als es in der Ordnung des Ganzen bleibt und nach dieser Ordnung handelt“ (35).
Mit der klassischen Theologie zeigt de Koninck auf, daß es legitimen Widerstand gegen ungerechte Obrigkeiten geben kann. In Zeiten der Tyrannei in Kirche und Politik ist daher dieses von Relevanz:
„Daher kann der Untergebene gezwungen sein, sich von der Ordnung eines Oberen zurückzuziehen, wenn der Obere selbst von der Ordnung abweicht, der er folgen sollte. (…) Die Revolte des Unteren gegen den sich nicht unterordnenden Oberen ist also eine Revolte gegen die Unordnung“ (38). –
Charles de Koninck machte die Lehre des hl. Thomas in bezug auf die gesellschaftliche Ordnung für seine Zeit fruchtbar. Die Ergebnisse seines Schaffens sind auch für uns, die wir über ein halbes Jahrhundert nach ihm leben, von Belang. Freilich setzt de Koninck beim Leser erhebliche Kenntnisse der thomistischen Theologie und ein hoch entwickeltes Problembewußtsein voraus. Vorliegendes Werk ist sicherlich als Fachliteratur zu bezeichnen.
Dr. Rafael Hüntelmann gebührt das Verdienst, dieses einem deutschsprachigen Publikum erschlossen zu haben. Sein gesamtes Verlagsprojekt Editiones Scholasticae bietet dem interessierten Leser klassische Texte der scholastischen Theologie und Philosophie sowie aktuelle Werke an – durchaus ein interessantes Projekt. –
Kritisch anzumerken ist, daß die Übersetzung an manchen Stellen in der Syntax holprig oder fehlerhaft ist. Nicht immer sind die Zitate klar abgegrenzt. An manchen Stellen blieben im Endnotenapparat englische Sätze stehen. „Luft“ (7) muß „Atmosphäre“ oder „Ausstrahlung“ o. ä. lauten.
Wichtig wäre eine gründliche Einführung in die Problematik des „Personalismus“ gewesen, was seine allenfalls berechtigten Anliegen und seine Übertreibungen und Irrtümer sind, und wie er von Theologen und katholischen Philosophen, etwa Karol Wojtyła, rezipiert und in das kirchliche Denken und die Lehre aufgenommen worden ist. So wäre die Frage zu beantworten, ob allenfalls der „Personalismus“ hinter der optimistischen Haltung von Johannes Paul II. in Bezug auf den „Dialog“ mit den falschen Religionen und das inakzeptable Religionstreffen von Assisi 1986 stand. Oder inwieweit der „Personalismus“ die „Theologie des Leibes“ bestimmte und daher möglicherweise ein allzu optimistisches Menschenbild förderte.
Vielleicht kann das in einer wünschenswerten Zweitauflage erfolgen.1
Charles De Koninck, Über den Primat des Gemeinwohls – Gegen die Personalisten und das Prinzip der neuen Ordnung, editiones scholasticae, Neunkirchen-Seelscheid, 2021, 122 S.
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Pro Lifer, kirchlich gesendeter Katechist, Interesse an sozialen und sozialphilosophischen Fragen.
1 Der deutsch-kanadische thomistische Theologe P. Ignatius Eschmann OP kritisierte vorliegenden Traktat, worauf de Koninck seinerseits replizierte (freundlicher Hinweis von P. Dr. Edmund Waldstein OCist). Daraus kann man schließen, daß es sich beim gegenständlichen Thema um brisante Fragen von großer Tragweite handelt. Theoretische Weichenstellungen, so subtil sie auch sein mögen, haben nun einmal erhebliche Auswirkungen in der Praxis.
Der Mensch der Gegenwart ist in zwei Dingen gefangen. Einmal in der äusseren Leitkultur, die auf der Annahme beruht, es gäbe keinen Gott. Und dann in der verstärkten Selbstwahrnehmung. Diese Wahrnehmung hat so stark zugenommen, dass die Menschen nur noch ihre eigenen Interessen vertreten.
Dieses Gefangensein zwischen gottesverneinender äusserer Welt und innerer Selbstzentriertheit führt zu einer Fehlhandlung. Der Mensch lehnt göttliche Gebote ab (Naturrecht) und ersetzt sie durch eigene Gesetze (positives Recht). Fast alle tun das. Es wird überhaupt keine moralische Richtlinie mehr anerkannt.
Eigene Gesetze werden „in situ“ gemacht. Plötzlich, wenn Bedarf herrscht. Der Handelnde ist in einem Moment davon überzeugt, dass es richtig ist, den ganzen Verkehr zum Stillstand zu bringen, weil er sein Auto in 2. Reihe parken will. Die schwangere Frau kommt während ihrer Schwangerschaft zu dem Schluss, eine Abtreibung wäre jetzt akzeptabel, während sie vor der Schwangerschaft anderer Überzeugung war.
Immer ist es die Kombination von Gottesverneinung und überhöhten Eigeninteressen, die zur Fehlentscheidung und Fehlhandlung führt. So gesehen halte ich Personalismus nicht für eine philosophische Strömung, sondern für eine Tatsache im praktischen Handeln und Denken. Jedes Gesetz, jede Moral wird Gruppen- oder Eigeninteressen geopfert.