Nicht 330.000, sondern „nur“ bis zu 28.000 Mißbrauchsopfer?

Gegenbericht zerpflückt die Glaubwürdigkeit des Sauvé-Berichts


Jean-Marc Sauvé am 5. Oktober, als er den Bericht der nach ihm benannten Mißbrauchskommission vorstellte.
Jean-Marc Sauvé am 5. Oktober, als er den Bericht der nach ihm benannten Mißbrauchskommission vorstellte.

(Paris) Acht nam­haf­te Mit­glie­der der Aca­dé­mie catho­li­que de France (Katho­li­sche Aka­de­mie von Frank­reich) las­sen mit einer Gegen­stu­die auf­hor­chen, mit der sie den Bericht der Sau­vé-Kom­mis­si­on über sexu­el­len Miß­brauch von Kle­ri­kern und von Lai­en an kirch­li­chen Ein­rich­tun­gen in Frank­reich demon­tie­ren. Die Zah­len des Sau­vé-Berichts, der inter­na­tio­nal für Ent­set­zen sorg­te, sei­en halt­los auf­ge­bläht. Es gehe nicht um 330.000 Opfer, son­dern um eine Grö­ßen­ord­nung zwi­schen 4–27.000. Die Autoren des Gegen­be­richts wer­fen der Sau­vé-Kom­mis­si­on „Befan­gen­heit und Ideo­lo­gie“ vor. Papst Fran­zis­kus sag­te die geplan­te Audi­enz für Sau­vé ab.

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Jean-Marc Sau­vé, Absol­vent der Eli­te­hoch­schu­le ENA und rang­ho­her fran­zö­si­scher Beam­ter, war von 1995 bis 2006 Gene­ral­se­kre­tär der fran­zö­si­schen Regie­rung und anschlie­ßend bis Mai 2018 Vize­prä­si­dent des Staats­ra­tes (Ober­ster Ver­wal­tungs­ge­richts­hof). Seit­her ist Sau­vé Ehren­prä­si­dent des Staats­ra­tes. Im Novem­ber 2018 wur­de er von der Fran­zö­si­schen Bischofs­kon­fe­renz zum Vor­sit­zen­den der Unab­hän­gi­gen Unter­su­chungs­kom­mis­si­on zum sexu­el­len Miß­brauch Min­der­jäh­ri­ger in der katho­li­schen Kir­che (CIASE) ernannt.

Die Ernen­nung wur­de damit begrün­det, daß Sau­vé „eine Per­sön­lich­keit ist, deren Glaub­wür­dig­keit und Bekannt­heit Unpar­tei­lich­keit und Unab­hän­gig­keit garantieren“.

Am 5. Okto­ber 2021 leg­te die soge­nann­te Sau­vé-Kom­mis­si­on ihren Abschluß­be­richt vor und schockier­te die Welt­öf­fent­lich­keit. Laut der CIASE wur­den in den ver­gan­ge­nen 70 Jah­ren in Frank­reich 330.000 Min­der­jäh­ri­ge in einem kirch­li­chen Kon­text sexu­ell miß­braucht. Eine gigan­ti­sche Zahl.

Im Okto­ber war der Sau­vé-Bericht ein Haupt­the­ma beim Ad-limi­na-Besuch der Bischö­fe in Rom

Dem haben nun meh­re­re Mit­glie­der der Aca­dé­mie catho­li­que de France wider­spro­chen, dar­un­ter ihr Prä­si­dent Hugues Por­tel­li. Bereits zuvor waren Stim­men laut gewor­den, die den Ein­druck for­mu­lier­ten, die Kir­che sol­le mit dem Sau­vé-Bericht öffent­lich gede­mü­tigt wer­den. Lui­sel­la Scro­sa­ti äußer­te schon am 9. Okto­ber den Ver­dacht, die Kir­che sol­le dazu gedrängt wer­den, jede „Lösung“ zu akzep­tie­ren, die von lai­zi­sti­scher, kir­chen­feind­li­cher Sei­te vor­ge­bracht wird.

Die acht nam­haf­ten Wis­sen­schaft­ler haben ihren Bericht nicht im Namen der Katho­li­schen Aka­de­mie, son­dern in ihrem eige­nen ver­öf­fent­licht, den­noch kommt dem Gegen­be­richt durch die Mit­wir­kung von Aka­de­mie-Prä­si­dent Por­tel­li beson­de­re Auto­ri­tät zu. Laut den bei­den ein­fluß­reich­sten fran­zö­si­schen Tages­zei­tun­gen, Le Figa­ro (bür­ger­lich) und Le Mon­de (links), zei­tig­te der Gegen­be­richt bereits erste Kon­se­quen­zen: Die für den 9. Dezem­ber geplan­te Audi­enz für Sau­vé und die CIA­SE-Mit­glie­der wur­de auf unbe­stimm­te Zeit verschoben.

Der Gegen­be­richt von Por­tel­li und den sie­ben Co-Autoren äußert sich auf fünf­zehn Sei­ten sehr kri­tisch zur CIA­SE-Unter­su­chung. Er wur­de dem Vor­sit­zen­den der Fran­zö­si­schen Bischofs­kon­fe­renz, dem Apo­sto­li­schen Nun­ti­us in Frank­reich und direkt dem Vati­kan über­mit­telt. Der Sau­vé-Bericht wird dar­in regel­recht demon­tiert. Die Autoren sind:

  • Jean-Robert Armo­ga­the, Schrift­lei­ter der theo­lo­gi­schen Zeit­schrift Communio;
  • Phil­ip­pe Capel­le-Dumont, Pro­fes­sor der Phi­lo­so­phie, Theo­lo­gi­sche Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Straßburg;
  • Jean-Luc Char­tier, Rechtsanwalt;
  • Jean-Domi­ni­que Durand, Historiker;
  • Yvonne Flour, Juristin;
  • Pierre Manent, Philosoph;
  • Hugues Por­tel­li, Dekan der Sozi­al- und Wirt­schafts­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät des Insti­tut Catho­li­que de Paris;
  • Emma­nu­el Tawil, Rechts­wis­sen­schaft­ler, Dozent an der Uni­ver­si­tät Paris-II.

Die Autoren des Gegen­be­richts bean­stan­den vor allem die Metho­dik, mit der die CIASE auf eine Zahl von 330.000 min­der­jäh­ri­gen Opfern kam, die von einem Prie­ster, Ordens­mann oder Lai­en in einer kirch­li­chen Ein­rich­tung sexu­ell miß­braucht wurden.

Die acht Aka­de­mie­mit­glie­der spre­chen von „fal­schen und wider­sprüch­li­chen“ Ergeb­nis­sen des Sau­vé-Berichts. Sie stel­len des­sen Zah­len jenen der Wis­sen­schaft­ler der Eco­le Pra­tique des Hau­tes Etu­des (EPHE) gegen­über, die auf eine Opfer­zahl zwi­schen 4.832 und 27.808 kamen. Bri­sant: Die EPHE war von der Sau­vé-Kom­mis­si­on mit der Erhe­bung beauf­tragt worden. 

Von der EPHE wur­den die gesi­cher­ten Zeug­nis­se von 4.832 Opfern erho­ben und dann aus­ge­hend von die­ser Zahl unter Zuhil­fe­nah­me einer Umfra­ge des Insti­tut fran­çais d’O­pi­ni­on publi­que (IPOF) auf „bis zu“ 27.808 Opfer geschätzt. Zwi­schen der von der EPHE genann­ten Min­dest- und Höchst­zahl und den vom Sau­vé-Bericht behaup­te­ten 216.000 Opfern von Kle­ri­kern, die auf 330.000 anstei­gen, wenn auch die Opfer von Lai­en mit­ein­be­zo­gen wer­den, lie­ge ein sol­cher Abgrund, heißt es im Gegen­be­richt, der weder beleg­bar noch plau­si­bel über­brückt wer­den kön­ne. Dem Sau­vé-Bericht lie­ge ein Rechen­feh­ler zugrun­de, der anhand der metho­do­lo­gi­schen Anga­ben der CIASE nicht erklärt wer­den kön­ne. Die von der unab­hän­gi­gen Unter­su­chungs­kom­mis­si­on vor­ge­leg­ten Zah­len wür­den einer nähe­ren Über­prü­fung nicht stand­hal­ten, so die acht Akademiemitglieder:

„Der Geist, der in der Ana­ly­se der Ursa­chen und in der For­mu­lie­rung der Emp­feh­lun­gen vor­herrscht, erscheint a prio­ri ideo­lo­gisch… Es fällt schwer, dar­in nicht einen Über­gang der CIASE von einer pro­kla­mier­ten Unpar­tei­lich­keit zu einer Feind­schaft gegen­über der Kir­che zu erkennen.“

In dem Gegen­be­richt wer­den auch theo­lo­gi­sche und exege­ti­sche Aspek­te behan­delt und eben­so der phi­lo­so­phi­sche und sozio­lo­gi­sche Kon­text der 1960er und 1970er Jah­re sowie der Geist der „sexu­el­len Revo­lu­ti­on“ und die öffent­li­chen For­de­run­gen nach Ent­kri­mi­na­li­sie­rung der Pädo­phi­lie (Fou­cault, De Beau­voir, Sart­re, Alt­husser) ana­ly­siert. Eine juri­sti­sche Beleuch­tung des Sau­vé-Berichts demon­tiert schließ­lich die Stich­hal­tig­keit und Sinn­haf­tig­keit jeg­li­cher For­de­rung nach einer „kol­lek­ti­ven“ zivil- und straf­recht­li­chen Ver­ant­wor­tung der Kir­che, der Bischö­fe und der Beicht­vä­ter, die seit Anfang Okto­ber die Dis­kus­si­on in Frank­reich beherrscht.

Als Schluß­fol­ge­rung schrei­ben die katho­li­schen Wis­sen­schaft­ler in ihrem Gegenbericht:

„Der CIA­SE-Bericht ist weder mutig noch gerecht­fer­tigt, son­dern wur­de mit einer ober­fläch­li­chen und wider­sprüch­li­chen Metho­dik, schwer­wie­gen­den theo­lo­gi­schen, phi­lo­so­phi­schen und juri­sti­schen Män­geln und mit sehr frag­wür­di­gen Emp­feh­lun­gen erstellt.“

Sau­vé selbst ver­tei­dig­te sich in der Sams­tag­aus­ga­be von La Croix, der Tages­zei­tung der fran­zö­si­schen Bischö­fe, mit der unglaub­li­chen Aus­sa­ge, daß „nichts in die­sem Doku­ment der Aka­de­mie­mit­glie­der der CIA­SE-Ana­ly­se wider­spricht“. Gestern ver­öf­fent­lich­te La Croix eine Kon­tro­ver­se zwi­schen Erz­bi­schof Éric de Moulins-Beau­fort, dem Vor­sit­zen­den der Fran­zö­si­schen Bischofs­kon­fe­renz, und Abbé Jean-Robert Armo­ga­the, einem der acht Unter­zeich­ner des Gegen­be­richts. Der Histo­ri­ker Armo­ga­the, der selbst frü­her an der EPHE lehr­te, ist Mit­glied der fran­zö­si­schen Ehren­le­gi­on. Wäh­rend Erz­bi­schof Moulins-Beau­fort den Sau­vé-Bericht als seri­ös ver­tei­dig­te, sprach Abbé Armo­ga­the von einer not­wen­di­gen „Ent­sa­kra­li­sie­rung“ des „schwa­chen“ CIA­SE-Berichts, der „genau, aus­ge­wo­gen und kri­tisch“ gele­sen wer­den müsse.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: NBQ

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