
(Paris) Acht namhafte Mitglieder der Académie catholique de France (Katholische Akademie von Frankreich) lassen mit einer Gegenstudie aufhorchen, mit der sie den Bericht der Sauvé-Kommission über sexuellen Mißbrauch von Klerikern und von Laien an kirchlichen Einrichtungen in Frankreich demontieren. Die Zahlen des Sauvé-Berichts, der international für Entsetzen sorgte, seien haltlos aufgebläht. Es gehe nicht um 330.000 Opfer, sondern um eine Größenordnung zwischen 4–27.000. Die Autoren des Gegenberichts werfen der Sauvé-Kommission „Befangenheit und Ideologie“ vor. Papst Franziskus sagte die geplante Audienz für Sauvé ab.
Jean-Marc Sauvé, Absolvent der Elitehochschule ENA und ranghoher französischer Beamter, war von 1995 bis 2006 Generalsekretär der französischen Regierung und anschließend bis Mai 2018 Vizepräsident des Staatsrates (Oberster Verwaltungsgerichtshof). Seither ist Sauvé Ehrenpräsident des Staatsrates. Im November 2018 wurde er von der Französischen Bischofskonferenz zum Vorsitzenden der Unabhängigen Untersuchungskommission zum sexuellen Mißbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche (CIASE) ernannt.
Die Ernennung wurde damit begründet, daß Sauvé „eine Persönlichkeit ist, deren Glaubwürdigkeit und Bekanntheit Unparteilichkeit und Unabhängigkeit garantieren“.
Am 5. Oktober 2021 legte die sogenannte Sauvé-Kommission ihren Abschlußbericht vor und schockierte die Weltöffentlichkeit. Laut der CIASE wurden in den vergangenen 70 Jahren in Frankreich 330.000 Minderjährige in einem kirchlichen Kontext sexuell mißbraucht. Eine gigantische Zahl.
Dem haben nun mehrere Mitglieder der Académie catholique de France widersprochen, darunter ihr Präsident Hugues Portelli. Bereits zuvor waren Stimmen laut geworden, die den Eindruck formulierten, die Kirche solle mit dem Sauvé-Bericht öffentlich gedemütigt werden. Luisella Scrosati äußerte schon am 9. Oktober den Verdacht, die Kirche solle dazu gedrängt werden, jede „Lösung“ zu akzeptieren, die von laizistischer, kirchenfeindlicher Seite vorgebracht wird.
Die acht namhaften Wissenschaftler haben ihren Bericht nicht im Namen der Katholischen Akademie, sondern in ihrem eigenen veröffentlicht, dennoch kommt dem Gegenbericht durch die Mitwirkung von Akademie-Präsident Portelli besondere Autorität zu. Laut den beiden einflußreichsten französischen Tageszeitungen, Le Figaro (bürgerlich) und Le Monde (links), zeitigte der Gegenbericht bereits erste Konsequenzen: Die für den 9. Dezember geplante Audienz für Sauvé und die CIASE-Mitglieder wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Der Gegenbericht von Portelli und den sieben Co-Autoren äußert sich auf fünfzehn Seiten sehr kritisch zur CIASE-Untersuchung. Er wurde dem Vorsitzenden der Französischen Bischofskonferenz, dem Apostolischen Nuntius in Frankreich und direkt dem Vatikan übermittelt. Der Sauvé-Bericht wird darin regelrecht demontiert. Die Autoren sind:
- Jean-Robert Armogathe, Schriftleiter der theologischen Zeitschrift Communio;
- Philippe Capelle-Dumont, Professor der Philosophie, Theologische Fakultät der Universität Straßburg;
- Jean-Luc Chartier, Rechtsanwalt;
- Jean-Dominique Durand, Historiker;
- Yvonne Flour, Juristin;
- Pierre Manent, Philosoph;
- Hugues Portelli, Dekan der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät des Institut Catholique de Paris;
- Emmanuel Tawil, Rechtswissenschaftler, Dozent an der Universität Paris-II.
Die Autoren des Gegenberichts beanstanden vor allem die Methodik, mit der die CIASE auf eine Zahl von 330.000 minderjährigen Opfern kam, die von einem Priester, Ordensmann oder Laien in einer kirchlichen Einrichtung sexuell mißbraucht wurden.
Die acht Akademiemitglieder sprechen von „falschen und widersprüchlichen“ Ergebnissen des Sauvé-Berichts. Sie stellen dessen Zahlen jenen der Wissenschaftler der Ecole Pratique des Hautes Etudes (EPHE) gegenüber, die auf eine Opferzahl zwischen 4.832 und 27.808 kamen. Brisant: Die EPHE war von der Sauvé-Kommission mit der Erhebung beauftragt worden.
Von der EPHE wurden die gesicherten Zeugnisse von 4.832 Opfern erhoben und dann ausgehend von dieser Zahl unter Zuhilfenahme einer Umfrage des Institut français d’Opinion publique (IPOF) auf „bis zu“ 27.808 Opfer geschätzt. Zwischen der von der EPHE genannten Mindest- und Höchstzahl und den vom Sauvé-Bericht behaupteten 216.000 Opfern von Klerikern, die auf 330.000 ansteigen, wenn auch die Opfer von Laien miteinbezogen werden, liege ein solcher Abgrund, heißt es im Gegenbericht, der weder belegbar noch plausibel überbrückt werden könne. Dem Sauvé-Bericht liege ein Rechenfehler zugrunde, der anhand der methodologischen Angaben der CIASE nicht erklärt werden könne. Die von der unabhängigen Untersuchungskommission vorgelegten Zahlen würden einer näheren Überprüfung nicht standhalten, so die acht Akademiemitglieder:
„Der Geist, der in der Analyse der Ursachen und in der Formulierung der Empfehlungen vorherrscht, erscheint a priori ideologisch… Es fällt schwer, darin nicht einen Übergang der CIASE von einer proklamierten Unparteilichkeit zu einer Feindschaft gegenüber der Kirche zu erkennen.“
In dem Gegenbericht werden auch theologische und exegetische Aspekte behandelt und ebenso der philosophische und soziologische Kontext der 1960er und 1970er Jahre sowie der Geist der „sexuellen Revolution“ und die öffentlichen Forderungen nach Entkriminalisierung der Pädophilie (Foucault, De Beauvoir, Sartre, Althusser) analysiert. Eine juristische Beleuchtung des Sauvé-Berichts demontiert schließlich die Stichhaltigkeit und Sinnhaftigkeit jeglicher Forderung nach einer „kollektiven“ zivil- und strafrechtlichen Verantwortung der Kirche, der Bischöfe und der Beichtväter, die seit Anfang Oktober die Diskussion in Frankreich beherrscht.
Als Schlußfolgerung schreiben die katholischen Wissenschaftler in ihrem Gegenbericht:
„Der CIASE-Bericht ist weder mutig noch gerechtfertigt, sondern wurde mit einer oberflächlichen und widersprüchlichen Methodik, schwerwiegenden theologischen, philosophischen und juristischen Mängeln und mit sehr fragwürdigen Empfehlungen erstellt.“
Sauvé selbst verteidigte sich in der Samstagausgabe von La Croix, der Tageszeitung der französischen Bischöfe, mit der unglaublichen Aussage, daß „nichts in diesem Dokument der Akademiemitglieder der CIASE-Analyse widerspricht“. Gestern veröffentlichte La Croix eine Kontroverse zwischen Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort, dem Vorsitzenden der Französischen Bischofskonferenz, und Abbé Jean-Robert Armogathe, einem der acht Unterzeichner des Gegenberichts. Der Historiker Armogathe, der selbst früher an der EPHE lehrte, ist Mitglied der französischen Ehrenlegion. Während Erzbischof Moulins-Beaufort den Sauvé-Bericht als seriös verteidigte, sprach Abbé Armogathe von einer notwendigen „Entsakralisierung“ des „schwachen“ CIASE-Berichts, der „genau, ausgewogen und kritisch“ gelesen werden müsse.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ
Es wird so kommen wie immer, die Lüge wird beständig geglaubt werden.