![Der heilige Augustinus, Bischof von Hippo (396–430). Der heilige Augustinus, Bischof von Hippo (396–430].](https://katholisches.info/tawato/uploads/2021/09/Augustinus.jpg)
Von Roberto de Mattei*
Im Laufe der Jahrhunderte hat die katholische Kirche immer gegen die gegensätzlichen Entstellungen ihrer Morallehre gekämpft. Auf der einen Seite die Laxheit, d. h. die Verleugnung der absoluten Moral im Namen eines Vorrangs des Gewissens; auf der anderen Seite der Rigorismus, d. h. die Tendenz, Gesetze und Vorschriften zu schaffen, die die katholische Moral nicht vorsieht. Heute hat die Laxheit ihren Ausdruck in der modernistischen „Situationsethik“, während der Rigorismus eine sektiererische Versuchung für den Traditionalismus darstellt. Vor dieser letzteren Gefahr möchte ich warnen, indem ich daran erinnere, was in den ersten Jahrhunderten der Kirche mit den Irrlehren der Montanisten, der Novatianer und der Donatisten geschah.
Die Montanisten zum Beispiel vertraten die Ansicht, daß das Martyrium bewußt angestrebt werden sollte, ohne es jemals vermeiden zu wollen. Die Haltung der wahren Christen war ganz anders: Sie suchten nicht den Märtyrertod, aber wenn sie vor die Wahl gestellt wurden, zögerten sie nicht, den Tod der Apostasie vorzuziehen. Die Märtyrerakten zeigen den Unterschied zwischen dem Verhalten von Quintus Phrygius und dem von Polykarp, Bischof von Smyrna, im Jahr 155 n. Chr. Quintus bekannte sich zum Christentum, fiel aber dann unter Drohungen und Folter vom Glauben ab. Polykarp hingegen wurde vom Prokonsul Statius Quadratus gefangengenommen und erlangte die Märtyrerpalme, obwohl er sie nicht gesucht hatte.
Der Montanismus wurde von der Kirche verurteilt, aber sein strenger Geist tauchte hundert Jahre später in der sogenannten Lapsi-Frage wieder auf. Im Jahr 250 erließ Kaiser Decius ein Edikt, in dem er anordnete, daß alle Bürger des Reiches unter Androhung der Todesstrafe vor heidnischen Göttern Weihrauch verbrennen sollten. Als Lapsi (Abgefallene) wurden jene Christen bezeichnet, die, um ihr Leben zu retten, den christlichen Glauben verleugneten, aber nach Beendigung der Verfolgung darum baten, wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen zu werden.
Einige afrikanische Bischöfe verweigerten den Lapsi den Zugang zu den Sakramenten, einschließlich des Bußsakraments. In Rom wurde diese moralische Strenge von Novatian (ca. 220–258) übernommen, einem ehrgeizigen Priester, der eine herausragende Stellung im Klerus einnahm. Nach Novatian konnten die Sünden der Lapsi von Gott vergeben werden, nicht aber von der Kirche, die sie auch auf dem Sterbebett nicht wieder aufnehmen konnte.
Papst Cornelius (251–253) entschied, daß die Lapsi, die öffentlich Buße getan hatten, wieder in die Kirche aufgenommen werden konnten. Novatian bestritt die Gültigkeit der Wahl des Cornelius und beanspruchte, nachdem er sich durch einen Betrug zum Bischof weihen hatte lassen, das Papsttum für sich, wobei er im ganzen Reich eine intensive Propaganda betrieb. Er gilt als der erste „Gegenpapst“.
Hatte Novatian den Apostaten die Absolution verweigert, so dehnten seine konsequenteren Anhänger diesen Irrtum auf alle schweren Sünden aus: Götzendienst, Mord und Ehebruch, die ihrer Meinung nach nicht von der Kirche, sondern nur von Gott vergeben werden könnten. Diese Ideen wurden unter Diokletian (301–303) von den Donatisten aufgegriffen, benannt nach Donatus, Bischof von Casae Nigrae in Afrika.
Bei seiner letzten Verfolgung ordnete der Kaiser an, daß jede Heilige Schrift der Kirche abzuliefern war und öffentlich verbrannt werden sollte. Diejenigen, die sich diesem Edikt unterwarfen, wurden von anderen Christen Traditores genannt, weil sie sich der Traditio schuldig gemacht hatten, d. h. der Übergabe von heiligen Schriften und Gegenständen an die Verfolger. Bischof Donatus behauptete, die Weihe des Bischofs von Karthago, Cecilianus, sei ungültig, weil sie von einem Verräter, Felix von Aptunga, vorgenommen worden war. Für Donatus und seine Anhänger gehörten weder Häretiker noch öffentliche und offene Sünder zur wahren Kirche, und die von ihnen gespendeten Sakramente waren ungültig. Der Wert der Sakramente hing für sie von der Heiligkeit des Spenders ab.
Der größte Gegner des Donatismus war der heilige Augustinus, Bischof von Hippo, der innerhalb von zwanzig Jahren, zwischen 391 und 411, mehr als zwanzig Abhandlungen gegen die Sekte verfaßte. Auf dem Konzil von Karthago im Jahr 411 sprach Augustinus mehr als siebzig Mal in drei Sitzungen, deren Protokolle uns überliefert sind, und widerlegte ihre Lehre.
Die Novatianer und Donatisten hatten nicht die Absicht, das Bußsakrament abzuschaffen; indem sie aber bestritten, daß die Kirche es in bestimmten Fällen spenden könne, öffneten sie den Weg für seine Abschaffung durch Luther und Calvin. Aus diesem Grund bekräftigte das Konzil von Trient am 25. November 1551 die Verurteilung der Novatianer und Donatisten (Denzinger-Hünermann, Nr. 1670), indem es feststellte, daß jeder, der nach dem Empfang der Taufe in Sünde fällt, diese immer durch wahre Buße wiedergutmachen kann. Dasselbe Konzil definierte die Gültigkeit der Sakramente, unabhängig vom Gnadenstand oder der Sünde des Spenders (DH, Nr. 1612).
Die Leugnung der kirchlichen Befugnis, nach der Taufe begangene Sünden zu vergeben, führte unweigerlich zur Ablehnung der institutionellen Dimension des mystischen Leibes Christi. Die Montanisten bezeichneten sich selbst als „spirituell“ und träumten von einer Kirche der prophetischen Inspiration und der direkten göttlichen Kommunikation; die Novatianer nannten sich selbst Katharoi, d. h. „die Reinen“, ein Begriff, der dann im Mittelalter von den albigensischen Häretikern verwendet wurde, um sich von den Angehörigen der hierarchischen Kirche zu unterscheiden; die Donatisten ließen sich vom gleichen Paradigma der „unsichtbaren Kirche“ inspirieren. Die Sekten, die sich im 16. Jahrhundert links von Luther ausbreiteten, griffen die Irrtümer der Montanisten, der Novatianer und der Donatisten auf und stellten ihre Konventikel der von Jesus Christus gegründeten katholischen Kirche entgegen.
Um nicht in diesen sektiererischen Fanatismus zu verfallen, bedurften die Christen der ersten Jahrhunderte der Abwägung und der Ausgeglichenheit.
Ein begabter Historiker, Monsignore Umberto Benigni (1862–1934), stellt fest, daß die ersten Christen sich vor allem bewußt und entschlossen waren:
„Sie wußten, was sie zu wollen hatten, und sie wollten es stark und beständig. Sie wurden zudem auch gegenüber den anarchischen oder separatistischen Tendenzen der ‚Illuminaten‘, der Hitzköpfe und der Individualisten diszipliniert; die bischöfliche Monarchie überwand sofort die oligarchischen Tendenzen einiger Propheten oder Presbyter; und der päpstliche Supremat bildete sich gegen die Oberhoheit einiger sezessionistischer Bischöfe heraus. (…) Schließlich waren die frühen Christen ausgeglichen. Das heißt, sie ließen sich nicht mitreißen von den Exzessen der Rechten und der Linken, von den Rigoristen und den Laxisten von Karthago, von den montanistischen Erschütterungen und den alexandrinischen Abstrusitäten, von der Engstirnigkeit der Judaisten und der gnostischen Anarchie. Diese ausgewogene Mentalität ermöglichte es ihnen, ihre Zeit zu verstehen und sie kompromißlos und ohne Scheu zu begleiten, weder hinkend noch galoppierend, immer bereit, sich anzupassen, aber um zu gewinnen, nicht um zu kapitulieren. Als Konstantin sie rief, die römische Gesellschaft zu erneuern, mußten sie sich weder beeilen noch ihre Reise verlangsamen, sondern nur auf dem kaiserlichen Wagen den Weg fortsetzen, den sie bis dahin zu Fuß zurückgelegt hatten“ (Storia sociale della Chiesa, Vallardi, Mailand 1906, Bd. I, S. 423f).
Bewußt und entschlossen, diszipliniert und ausgeglichen müssen die Katholiken heute sein und die Gefahr des Chaos und der Zersplitterung, die sie bedroht, zurückweisen. Ein Artikel des Priesters (und späteren Kardinals) Nicholas Wiseman in der Dublin Review, in dem er die Position der afrikanischen Donatisten mit der der Anglikaner verglich, öffnete Kardinal John-Henry Newman, der von dem von Wiseman zitierten Satz des heiligen Augustinus beeindruckt war, den Weg zur Bekehrung: „Securus iudicat orbis terrarum“ („Sicher urteilt der Erdkreis“, in: Contra Epistulam Parmeniani, Lib. III, Kap. 3). Dieser Satz bringt den römischen Geist der ersten Jahrhunderte auf den Punkt.
Nur die Kirche hat das Recht, ein moralisches Gesetz und dessen verbindlichen Charakter zu definieren. Wer den Anspruch erhebt, sich an die Stelle der kirchlichen Autoritäten zu setzen, indem er nicht existierende moralische Normen auferlegt, riskiert, in Schisma und Häresie zu verfallen, wie es in der Geschichte leider schon geschehen ist.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Eine erstaunliche Entwicklung dieser Persönlichkeit de Mattei: Die „Traditionalisten“ als Vertreter eines Rigorismus, die sich (gesamt)kirchliche Autorität anmassen? Zumindest für die Piusbruderschaft muss man das zurückweisen, da es nicht zutrifft. Wir leben in Zeiten, in denen hohe und höchste kirchliche Vertreter alles in Frage stellen oder gar bekämpfen, was katholisch ist! Kumpanei mit Marxisten, Homopropaganda von den Kanzeln, Freimaurergeschwätz…und er geisselt „rigoristische Traditionalisten“?