(Rom) Vier Kardinäle wandten sich in angemessener Form an Franziskus, um mit Fragen eine klärende Antwort auf fünf Dubia (Zweifel) zum umstrittenen nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia zu erhalten. Tage, Monate und Jahre vergingen, doch Franziskus antwortete ihnen nicht. Vielmehr nutzte er die tägliche morgendliche Messe in Santa Marta, um diese Kardinäle zu verunglimpfen. Sein Hofstaat und andere Anhänger taten es ihm gleich.
Franziskus erteilte dem Präfekten der Glaubenskongregation sogar ausdrückliche Weisung, sich nicht zu den Fragen dieser Kardinäle zu äußern. Inzwischen sind zwei der vier verstorben, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Fünf Jahre läßt sich Franziskus nun schon Zeit für die Entscheidung, ob er antworten will oder nicht. Die Fragen scheinen ihm sehr unangenehm zu sein. Er müßte eine Antwort geben, nämlich die bisherige Ehe- und Morallehre bekräftigen, die er offensichtlich nicht geben will.
In diesem Sommer ist eine ähnliche Situation aufgetreten. Paradoxerweise bedurfte es in diesem Fall aber nur eines Monats, damit Franziskus die Antwort gab. Liegt es daran, daß er mehr Wertschätzung empfindet oder mehr Rücksicht nimmt auf jene, die zu seinen Aussagen in der Generalaudienz vom 11. August 2021 über das Gesetz des Mose Zweifel überkamen.
Die schnelle Antwort an seine jüdischen Kritiker ist für diese sicher ein schönes Zeichen. Sie haben erreicht, was die Kinder Gottes beim Nachfolger des Petrus nicht erreicht haben. Dabei ist es seine Pflicht und sein Auftrag, jene im Glauben zu bestärken, die durch die Taufe zu Kindern Gottes geworden sind.
Am 11. August hatte Franziskus in seiner Katechese gesagt:
„Das Gesetz schenkt jedoch nicht das Leben, es bietet nicht die Erfüllung der Verheißung, denn es ist nicht in der Lage, sie umzusetzen. […] Wer das Leben sucht, muß auf die Verheißung und auf ihre Erfüllung in Christus schauen.“
Das veranlaßte Rabbi Rasson Arousi, den Vorsitzenden der Kommission des israelischen Oberrabbinats für den Dialog mit dem Heiligen Stuhl, einen scharfen Brief an den Vatikan zu schreiben. Darin beklagte er sich, daß Franziskus den Eindruck erweckt habe, die Thora, das jüdische Gesetz, sei veraltet. Die päpstlichen Äußerungen hätten „Schmerz“ ausgelöst. Das Oberrabinat erwarte sich eine Klarstellung von Franziskus, um „sicherzustellen, daß alle abfälligen Schlußfolgerungen, die aus dieser Predigt gezogen werden, eindeutig zurückgewiesen werden“. Eine Antwort von Franziskus sollte also die jüdischen Bedenken zerstreuen.
Warum das Oberrabbinat für innerjüdische Bedeutungsbeimessungen einer Aussage des christlichen Papstes bedarf, mag nicht recht einleuchten. Naheliegender ist, daß der Meinungsfreiheit des Papstes Grenzen gesetzt werden sollten.
Das Oberrabbinat, an dessen Spitze zwei Großrabbiner stehen, ist die höchste religiöse Autorität des Judentums in Israel und Teil des israelischen Justizsystems. Es untersteht dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten.
Die Thora umfaßt die fünf Bücher Mose, die Teil der hebräischen Bibel, aber auch des christlichen Alten Testaments sind. Sie enthalten Hunderte von Geboten, die Juden im täglichen Leben befolgen müssen. Verschiedene jüdische Richtungen wie Orthodoxe und Reformjuden halten in unterschiedlichem Maße daran fest.
Das Schreiben von Rabbi Arousi war an Kardinal Kurt Koch gerichtet, den Vorsitzenden der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, die Papst Paul VI. zur 1974 Förderung der Beziehungen zwischen Katholiken und Juden gegründet hatte.
Franziskus erteilte Kardinal Koch den Auftrag, seinem jüdischen Gesprächspartner im Oberrabbinat mitzuteilen, daß die Worte des Papstes über die Thora jene des Apostels Paulus im Neuen Testament widerspiegelten und nicht als ein Urteil über das jüdische Gesetz zu verstehen seien.
Vergangene Woche schickte Kardinal Koch sein Antwortschreiben an Rabbi Arousi mit einem Zitat von Franziskus aus dem Jahr 2015:
„Die christlichen Konfessionen finden ihre Einheit in Christus; das Judentum findet seine Einheit in der Thora.“
Auf jüdischer Seite reagierte man zufrieden. Das Antwortschreiben sei ein „Zeichen der Versöhnung“.
Am 30. August hatte bereits Msgr. Victor Manuel Fernandez, Erzbischof von La Plata (Argentinien) und enger Vertrauter von Franziskus, auf der Titelseite des Osservatore Romano indirekt eine „beruhigende“ Antwort gegeben. Die Überschrift seiner Ausführungen lautete: „Gesetz und Gnade für Juden und Christen“.
Auch Franziskus selbst bemühte sich nach dem Arousi-Brief das „Mißverständnis“, wie es im Vatikan genannt wird, bei den beiden Generalaudienzen, die seither stattfanden, zu klären. Vergangene Woche, am 1. September, sagte der Papst bei der Generalaudienz, daß seine Worte über die Briefe des Apostels Paulus „einfach eine Katechese“ seien „und nichts weiter“.
Die beiden noch lebenden Kardinäle der Dubia zu Amoris laetitia müssen sich offensichtlich weiter gedulden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons