Von Wolfram Schrems*
Im Anschluß an die Darstellung der Botschaft der Muttergottes an die Kirche zur Weihe Rußlands (Beitrag vom 14. Mai d. J.) beschäftigen wir uns kurz mit der Situation Rußlands selbst, soweit diese für uns von außen zu erheben ist.
Dazu eine wichtige Vorbemerkung:
Bekanntlich findet jede Diskussion über die russisch-westlichen Beziehungen in einem Minenfeld statt. Jede noch so vorsichtige Relativierung des offiziellen westlichen Standpunktes, gemäß dem Präsident Putin ein Diktator nach innen und Aggressor nach außen sei, d. h., jedes Vergleichen oder In-Beziehung-Setzen (was „relativieren“ ja heißt) mit westlichen oder vom Westen wohlgelittenen orientalischen Potentaten, trägt einem schnell die Bezeichnung „Putin-Versteher“, „Putinist“, „Putin-Agent“ o. a. ein.
Als ich im Winter 2013/14 einen ukrainischen Freund, Katholik des östlichen Ritus, Pro-Lifer, Philosoph an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg (UKU), in den 1980er Jahren wegen oppositionellen Verhaltens in ein weitgehend asiatisch zusammengesetztes Strafbataillon der Roten Armee an die tschechoslowakische Grenze versetzter Soldat, warnte, daß die Maidan-Bewegung möglicherweise ein westlich orchestrierter Putsch ist und daß die neuen Herren letztlich für die wohlverstandenen ukrainischen Interessen, gar für Kirche und Christentum, bestimmt nichts übrig haben werden, kündigte er mir kurzerhand die Freundschaft auf und mutmaßte, ich sei ein Agent Putins.
Na ja.
Jeder weitere Gedankenaustausch wurde abgeblockt. Noch unerfreulicher war ein e‑mail-Wechsel mit einem anderen Vortragenden an der UKU. Dieser meinte sogar, zu Beleidigungen greifen zu müssen.
Mittlerweile machte ich die Entdeckung, daß die Diskussion mit Ukrainern, aber auch anderen östlichen Mitteleuropäern zum Thema Putin meistens sinnlos ist.1 Von solchen Gesprächspartnern hörte ich, wenn ich mich zu Illustrationszwecken auf westliche Medien berief, die – völlig absurde – Behauptung, daß auch die westlichen Hauptstrommedien von Rußland manipuliert worden wären.
Hier liegt natürlich eine historisch verstehbare mentale Blockade etwa auf ukrainischer oder slowakischer oder sonstiger Seite vor, die Rußland immer mit der Sowjetmacht in Verbindung bringt.
Aber noch etwas ist wichtig:
Es wird – nicht nur in dieser Frage – regelmäßig übersehen, daß „die Wahrheit in der Proportion liegt“, wie Hilaire Belloc, englisch-französischer katholischer Weltklasseautor sagte. Mißt man Putin an strengen moralischen Maßstäben, dann müßte man auch bei denen so vorgehen, die ihn kritisieren, ihm Konkurrenz machen und ihn ersetzen wollen. Die Ukrainer könnten sich beispielsweise fragen, ob es ihnen unter den jetzigen Machthabern besser geht oder nicht.
Die Frage lautet daher: Was strebt derjenige, der Putin kritisiert, an? Geht es um Menschenrechte oder um Propaganda, um Freiheit oder um die psychologische Vorbereitung zum Krieg gegen Rußland?
Es wird in den vielen Diskussionen noch etwas ausgeblendet: Rußland hat, wie auch immer man zu politischen Detailfragen steht, legitime Sicherheitsinteressen. Die russische Führung kann vom Ausland gesteuerte Subversion im Inneren genauso wenig dulden wie das Heranrücken eines gegnerischen Militärbündnisses bis an die Staatsgrenzen.
Das vorausgeschickt sei aber auch gleich festgehalten, daß aus der Sicht der Botschaft von Fatima kein Grund zu übertriebenem Optimismus besteht. Rußland wurde, wie im 1. Teil festgehalten, nie, wie vom Himmel gewünscht, von Papst und Weltepiskopat transparent und ausfluchtfrei dem Unbefleckten Herzen der Gottesmutter geweiht. Daher können wir die Situation dieses Staates nur mit innerer Reserve betrachten und analysieren. Weder Dämonisierung noch Glorifizierung sind aus dieser Sicht angezeigt.
Putins Rußland: sowjetnostalgisch, zaristisch, orthodox – oder nicht?
Es scheint heute so zu sein, daß sich die russische Führung zu verschiedenen Anteilen an der Tradition des Sowjetkommunismus, des Zarentums und der orthodoxen Kirche orientiert. Dabei ist nach meiner Ansicht die Frage völlig offen, welche inhaltlichen Überzeugungen Präsident Putin eigentlich bewegen: Als langjähriger KGB-Mann wird er zwangsläufig bis zu einem bestimmten Grad dem sowjetkommunistischen Denken verhaftet sein. Er bezeichnete bekanntlich den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ (Rede im April 2005). Man beachte hier wohl, daß der Zerfall eines Staates natürlich immer schwere Verwerfungen nach sich zieht (oft Bürgerkriege, Versorgungskrisen u. dgl.). Insofern hat Putin wohl nicht Unrecht. 2018 noch sagte er, er würde den Niedergang der Sowjetunion rückgängig machen, wenn möglich.
Die Frage ist eben, wie sehr er abgesehen von der Frage der Ordnungspolitik und der Stabilität der Sowjetunion als solcher nachhängt. Oder den einzelnen Tyrannen, Stalin, Chruschtschow, Breschnev oder wem auch immer. Wir wissen es nicht. Vielleicht weiß er es selbst nicht.
Wie auch immer: Wladimir Putin kann oder will die Sowjetunion nicht wiederherstellen.
Dasselbe gilt für das Zarentum: Nach dem, was man lesen kann, scheint es keine nennenswerte monarchistische Bewegung in Rußland zu geben, von ernsthaften Restaurationsversuchen der Familie Romanow ist nichts bekannt. Inwieweit es tatsächlich einen „Plan Putins zur Restauration der Romanows“ gibt, wie behauptet, ist zweifelhaft. Klar ist, daß Putin mit zaristischer Symbolik spielt und offenbar eine gewisse Verehrung für den einen oder anderen Zaren zeigt.
Man konnte von Wladimir Putin übrigens Kritisches über die Sowjetunion hören. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Der Archipel Gulag von Alexander Solzhenizyn zur Pflichtlektüre an russischen Schulen gemacht worden ist und Putin den Schriftsteller besucht und postum zum 100. Geburtstag gewürdigt hat.
Ob er ein gläubiger orthodoxer Christ ist oder nicht, läßt sich nicht sagen. Ist es möglich, daß er selbst unentschieden ist, was diese Fragen betrifft? Ist es möglich, daß er sozusagen ein reiner Machtpragmatiker ist, der sich in einer Art Dauerprovisorium mit sich selbst an der Spitze eingerichtet hat? Das scheint mir persönlich die realistischste Erklärung für das Verhalten Wladimir Putins, das bekanntlich einerseits pragmatisch, besonnen und machtbewußt ist, andererseits weltanschaulich-inhaltlich kaum bestimmt werden kann.2
Hammer und Sichel, Kreuzzeichen, KP, Stalinkult, Katholische Kirche
Charakteristisch für die Überlagerung gegensätzlicher Weltanschauungen im offiziellen Rußland der Gegenwart erscheint auch die jährlich in Moskau zelebrierte Siegesparade zum Ende des Zweiten Weltkrieges: Einerseits sprechen einander Verteidigungsminister und Generalstabschef mit „Genosse“ an und sowjetische Symbole sind zahlreich vertreten (Flaggen mit Hammer und Sichel, historische Uniformen), andererseits bekreuzigt sich Verteidigungsminister Sergei Schoigu jedes Mal, wenn er durch das Tor des Erlöserturms des Kreml gefahren kommt. Gemäß der Information auf Wikipedia handelt es sich hier um eine Vorschrift, die von Zar Alexei I. 1658 eingeführt wurde.3
Für unser Thema ist von Belang, wie es in Rußland als ganzem aussieht, und da wird berichtet, daß in den vergangenen Jahren ein Anstieg des Stalin-Kultes zu verzeichnen sei. Es würden Stalin-Statuen neu errichtet werden.
Reuters berichtet, daß die neue Kathedrale der Streitkräfte ursprünglich auch ein Portrait Stalins auf einem Wandgemälde zeigen sollte, das aber wieder verworfen worden sei.
Das Lenin-Mausoleum ist auch noch in Betrieb. Die Kommunistische Partei erlangte bei Präsidentenwahlen 2008 und 2012 jeweils etwa 17%, 2018 nur knapp 12%. Bei den Parlamentswahlen waren es 2011 gut 19%, 2016 etwas über 13%. Das heißt natürlich, daß der Kommunismus nicht „tot“ ist. Die Zahlen mögen unspektakulär aussehen, für eine „Bekehrung“ Rußlands sind sie bei weitem zu hoch.
Die Katholische Kirche ist eine winzige Minderheit (laut Annuario Pontifico von 2017, zitiert auf Wikipedia, machen die Katholiken 0,5% der Gesamtbevölkerung der Russischen Föderation aus). Hierarchie und Gläubige sind seitens der Orthodoxie, des Staates und der Gesellschaft nicht immer wohlgelitten. Der Islam ist stark vertreten, ebenso asiatische Religionen.
Traditionelle Katholiken russischer Herkunft warnen die Westler, zu große Hoffnungen auf Rußland zu setzen. Im vergangenen Sommer hörte ich von einem Priester, daß die Abtreibungszahlen in Rußland sehr hoch seien und daß auch Rußland den Corona-Wahn mitmache und etwa die Leute vom Bargeld wegbringen wolle. (Wie man zwischenzeitlich hören konnte, werden die Coronamaßnahmen in Rußland aber eher lax umgesetzt.)
Dieser Priester sagte auch, die doktrinären Unterschiede zur Orthodoxie seien größer, als man im westlich-katholischen Denken meist annimmt.
Resümee
Wir werden gut daran tun, zwei falsche Optionen zu vermeiden: Weder darf Rußland glorifiziert und als Retter des Abendlandes ausgerufen werden. Noch darf man es dämonisieren.4 Eine politische Analyse muß die Proportionen beachten: Ist Rußland wirklich der schlimmste Menschenrechtsverletzer? Sind westliche Länder nicht mit viel schlimmeren Potentaten verbündet, etwa in der islamischen Welt? Und wie sieht es mit Israel aus?
Eine religiöse Analyse aus der Perspektive von Fatima wird das Offenkundige konstatieren: Eine Bekehrung, die diese Bezeichnung verdient, hat nicht stattgefunden.
*Wolfram Schrems, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro Lifer, machte die Entdeckungen, daß Fatima im kirchlichen Leben nicht vorkommt und daß die offiziellen Fatima-Apostolate das offizielle vatikanische Narrativ bedienen und daher wirkungslos sind.
Bild: Wikicommons/Youtube (Screenshot)
1 Im Gegenzug traf ich auch schon einen Russen, der die Existenz einer ukrainischen Nation und Sprache überhaupt leugnet. Der Karren ist verfahren.
2 Ein historischer Vergleich bietet sich m. E. sehr gut an: General Francisco Franco war als spanisches Staatsoberhaupt in einer ähnlichen Situation. Er mußte mehrere Bewegungen, auf die er sich im Bürgerkrieg gestützt hatte und die nicht miteinander kompatibel sind (Carlisten [Comunión Tradicionalista], Falange, CEDA [Confederación Española de Derechas Autónomas], Monarchisten), auf sich vereinigen. Letztlich kam ein pragmatisches, konservativ-autoritäres Regime heraus, das auf die Person Francos zugeschnitten war und mit diesem unterging. Was auf den Tod des Caudillo folgte, war leider eine Operettenmonarchie, die das Wiederaufkommen des Sozialismus in Staat und Gesellschaft begünstigte. Franco hatte, ungeachtet seiner Verdienste, nicht adäquat für die Zeit nach seinem Ableben vorgesorgt. Genau das steht auch für Rußland zu befürchten.
3 Ein kürzerer Wikipedia-Eintrag auf Deutsch mit erbaulichen Details.
4 Vor wenigen Jahren brachten deutschsprachige Wochenzeitungen zeitgleich ein Portrait Putins als Horrorfigur Joker (aus den Batman-Filmen) auf der Titelseite, etwa das österreichische News mit dem Text: „Wladimir Putin, der Feind der Welt“. Das ebenfalls österreichische Profil titelte einst: „Der gefährlichste Mann der Welt Putin“.