Von Roberto de Mattei*
Der römische Geist ist das, was man nur in Rom atmet, der heiligen Stadt schlechthin, dem Zentrum der Christenheit, der ewigen Heimat eines jeden Katholiken, der sagen kann, „civis romanus sum“, „ich bin römischer Bürger“ (Cicero, In Verrem, II, V, 162), indem er eine geistliche Staatsbürgerschaft beansprucht, deren geographische Grenzen nicht die einer Stadt, sondern eines Reiches sind: nicht das Reich der Cäsaren, sondern das der katholischen, apostolischen und römischen Kirche.
Einst schickten die Bischöfe der entferntesten Diözesen ihre Seminaristen und Priester nach Rom, nicht nur um an den besten theologischen Fakultäten zu studieren, sondern auch diese geistliche Romanitas zu erwerben. Aus diesem Grund äußerte sich Pius XI. vor den Professoren und Studenten der Gregoriana wie folgt:
„Ihre Anwesenheit sagt uns, daß Ihr höchstes Streben, wie das Ihrer Hirten, die Sie hierher geschickt haben, Ihre römische Bildung ist. Möge dieses Römischsein, das zu suchen Sie in das ewige Rom gekommen sind, von dem der große Dichter [Dante Alighieri] – nicht nur der Italiener, sondern der ganzen Welt, weil er der Dichter der christlichen Philosophie und Theologie ist – den römischen Christus verkündete, diese Stadt zur Frau Ihres Herzens machen, so wie Christus dessen Herr ist. Möge diese Romanität Sie und Ihre Arbeit beherrschen, damit Sie als Lehrer und Apostel in Ihre Länder zurückkehren können“ (Ansprache vom 21. November 1922).
Der „römische Geist“ wird nicht in Büchern studiert, sondern in der nicht greifbaren Atmosphäre eingeatmet, die der große katholische Polemiker Louis Veuillot (1813–1883) „le parfum de Rome “ nannte: ein natürliches und übernatürliches Parfüm, das aus jedem Stein und jeder Erinnerung hervorgeht, gesammelt in dem Landstrich, wo die Vorsehung den Stuhl des Petrus hinstellte. Rom ist gleichzeitig ein heiliger Raum und ein heiliges Gedächtnis, eine „Heimat der Seele“, wie sie von einem Zeitgenossen von Veuillot, dem ukrainischen Schriftsteller Nikolaj Gogol, definiert wurde, der zwischen 1837 und 1846 in Rom in der Via Sistina lebte.
Rom ist die Stadt, in der sich die Gräber der Apostel Petrus und Paulus befinden. Es ist die unterirdische Nekropole, die in ihrem Inneren Tausende von Christen umschließt. Rom ist das Kolosseum, wo die Märtyrer den wilden Tieren gegenüberstanden. Es ist San Giovanni in Laterano, ecclesiarum mater et caput, „der Kirchen Mutter und Haupt“, wo der einzige Knochen des heiligen Ignatius von Antiochien verehrt wird, der von den Löwen verschont blieb. Rom ist das Kapitol, wo Augustus einen Altar für den wahren Gott errichtete, der im Begriff war, von einer Jungfrau geboren zu werden, und wo die Basilika des Aracoeli errichtet wurde, wo der Leichnam der heiligen Helena ruht, der Kaiserin, die die Passionsreliquien gefunden hat, die heute in der Basilika Santa Croce in Gerusalemme aufbewahrt werden. Rom, das sind die Straßen, Plätze, Häuser und Paläste, in denen die heilige Katharina von Siena und die heilige Franziska von Rom, der heilige Ignatius von Antiochien und der heilige Philipp Neri, der heilige Paul vom Kreuz und der heilige Leonhard von Porto Maurizio, der heilige Gaspare del Bufalo und der heilige Vinzenz Pallotti, der heilige Pius V. und der heilige Pius X. gelebt haben und gestorben sind. In Rom können die Räume der heiligen Birgitta von Schweden auf der Piazza Farnese, des heiligen Benedikt Joseph Labre in der Via dei Serpenti und des heiligen Stanislaus Kostka in Sant’Andrea al Quirinale besucht werden. Hier können die Reste der Krippe Jesu Christi verehrt werden, der Arm des heiligen Franz Xaver in der Chiesa del Gesù und die Füße der heiligen Maria Magdalena in der Kirche San Giovanni dei Fiorentini.
Rom hat in seiner langen Geschichte unter Geißeln aller Art gelitten: Es wurde 410 von den Goten, 455 von den Vandalen, 546 von den Ostgoten, 846 von den Sarazenen und 1527 von den Landsknechten geplündert. Die Jakobiner fielen 1799 ein, die Piemonteser 1870, und 1943 wurde es von den Nationalsozialisten besetzt. Rom trägt die Narben dieser tiefen Wunden an seinem Körper, und noch andere wie die der Antoninischen Pest (180), der Schwarzen Pest (1348), der Cholera-Epidemie von 1837 und der Spanischen Grippe von 1917. Laut dem amerikanischen Historiker Kyle Harper („Climate, Disease and the Fate of Rome“, Princeton University Press, New Jersey 2017; dt. Ausgabe: „Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches, C. H. Beck, München 2020) wurde der Zusammenbruch des Römischen Reiches nicht nur durch die Invasionen der Germanen verursacht, sondern auch durch Epidemien und klimatische Umwälzungen, die die Zeit vom zweiten bis zum sechsten Jahrhundert nach Christus prägten. Diese Kriege und Epidemien wurden auch in den folgenden Jahrhunderten immer als göttliche Bestrafung interpretiert. So schreibt Ludwig von Pastor, daß allgemein unter Ketzern und Katholiken „im schrecklichen Sacco di Roma die gerechte Strafe des Himmels für die Hauptstadt der Christenheit gesehen wurde, die in den Lastern versunken war“ (Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Freiburg im Breisgau, 1886–1933). Aber Rom erhob sich immer wieder, gereinigt und stärker, so auf der Medaille, die Paul IV. 1557 prägen ließ und die nach einer schrecklichen Hungersnot Roma resurgens gewidmet war. Von Rom kann gesagt werden, was wir von der Kirche sagen: Ecclesia impugnari potest, expugnari non potest, „die Kirche kann angegriffen, aber nicht erobert werden“.
Aus diesem Grund müssen wir in den unruhigen Tagen, in denen wir leben und noch mehr, die uns noch erwarten, unseren Blick auf die Roma nobilis richten, deren Licht niemals untergeht, das edle Rom, das ein altes Pilgerlied als Herrin der Welt grüßt:
„O Roma nobilis, orbis et domina, Cunctarum urbium excellentissima, Roseo martyrum sanguine rubea, Albis et virginum liliis candida.“
„O edles Rom, Drehscheibe und Königin, von allen Städten die ausgezeichnetste, rötlich durch das rote Blut der Märtyrer, weiß durch die weißen Lilien der Jungfrauen.“
Das christliche Rom greift die natürlichen Qualitäten des antiken Rom auf und erhebt sie auf die übernatürliche Ebene. Der Geist des Römers ist der des gerechten und starken Mannes, der ruhig und unerschütterlich den widrigsten Situationen begegnet. Der Römer ist der Mensch, der sich nicht vom Toben ringsum erschüttern läßt. Er ist der Mensch, der furchtlos bleibt, auch wenn das Universum über ihm in Stücke fällt:
„Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae“ (Horaz, Carmen III, 3),
„Wenn das Himmelsgewölbe nach dem Zerbersten herabstürzen sollte, werden die Trümmer einen Furchtlosen treffen.“
Der Katholik, der diese Tradition erbt, sagt Pius XII., begnügt sich nicht, inmitten der Ruinen aufrecht zu stehen, sondern bemüht sich, das eingestürzte Gebäude wiederaufzubauen. Er setzt seine ganze Kraft ein, um auf dem verwüsteten Feld wieder auszusäen (Ansprache an den römischen Adel vom 18. Januar 1947).
Der römische Geist ist ein entschlossener, kämpferischer, aber umsichtiger Geist. Die Klugheit ist die richtige Unterscheidung zwischen Gut und Böse und betrifft nicht das Endziel des Menschen, das Gegenstand der Weisheit ist, sondern die Mittel, um es zu erreichen. Klugheit ist daher die praktische Weisheit des Lebens und unter den Kardinaltugenden jene, die den zentralen und leitenden Platz einnimmt. Daher betrachtet der heilige Thomas sie als die Krönung aller moralischen Tugenden (Summa Theologiae , II-II, q. 166, 2 ad 1).
Die Klugheit ist die erste Tugend, die von den Regierenden verlangt wird, und unter allen Herrschern hat niemand eine höhere Verantwortung als jener, der die Kirche leitet. Ein unvorsichtiger Papst, der nicht in der Lage ist, das Schifflein des Petrus zu lenken, wäre das schlimmste Unglück, denn Rom kann nicht ohne einen Papst sein, der es regiert, und ein Papst kann nicht ohne den römischen Geist sein, der ihm hilft, die Kirche zu leiten. In diesem Fall ist die geistliche Tragödie größer als jede Naturkatastrophe.
Rom hat alle Arten von Katastrophen erlebt, aber es begegnete ihnen wie der heilige Gregor der Große im Jahr 590, als eine brutale Pestepidemie die Stadt heimsuchte. Um den Zorn Gottes zu besänftigen, ordnete der neugewählte Papst eine Bußprozession des römischen Klerus und Volkes an. Als die Prozession die Brücke erreichte, die die Stadt mit dem Mausoleum des Hadrian verbindet, sah Gregor auf der Spitze der Burg den heiligen Michael, der zum Zeichen, daß die Bestrafung zu Ende war, sein blutiges Schwert in die Scheide steckte, während ein Chor von Engeln sang:
„Regina Caeli, laetare, alleluia, quia quem meruisti portare, alleluia, resurrexit sicut dixit, alleluia.“
„Freu dich, du Himmelskönigin, Halleluja, den du zu tragen würdig warst, Halleluja, er ist auferstanden, wie er gesagt, Halleluja.
Der heilige Gregor antwortete laut:
„Ora pro nobis Deum, Alleluia.“
„Bitt Gott für uns, Halleluja.“
Auf diese Weise entstand der Marienhymnus, der noch heute von einem Ende der katholischen Welt zum anderen erklingt. Möge dieses himmlische Lied den katholischen Herzen ein immenses Vertrauen in Maria, die Beschützerin der Kirche, vermitteln, aber auch diesen starken und ausgeglichenen römischen Geist, den wir in diesen schrecklichen Tagen mehr denn je brauchen.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana