Hat das I. Vatikanische Konzil den Glauben verändert?

Wie ein Professor für Kirchengeschichte den Glauben untergräbt


Hubert Wolf, der Erfinder des „erfundenen Katholizismus“.
Hubert Wolf, der Erfinder des „erfundenen Katholizismus“.

Von Pater Mat­thi­as Gaudron*

Anzei­ge

In der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung erschien am 3. August – wohl anläss­lich des 150. Jah­res­tags des Unfehl­bar­keits­dog­mas am 18. Juli 1870 – ein ganz­sei­ti­ger Auf­satz von Pro­fes­sor Hubert Wolf mit dem Titel Die Erfin­dung des Katho­li­zis­mus. Dar­in behaup­tet er, das I. Vati­ka­ni­sche Kon­zil habe „eine Behaup­tung als von Gott geof­fen­bar­te Wahr­heit aus­ge­ge­ben, die bis dahin aus­drück­lich als falsch gegol­ten hat­te: dass der Papst allein, ohne Rück­bin­dung an den ein­mü­ti­gen Kon­sens der Bischö­fe und die Glau­bens­über­zeu­gung der gan­zen Kir­che, unfehl­ba­re Ent­schei­dun­gen fäl­len kön­ne.“ Die­se Behaup­tung ist nichts ande­res als eine drei­ste Lüge.

Prof. Wolf ist katho­li­scher Prie­ster und Pro­fes­sor für Mitt­le­re und Neue­re Kir­chen­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Mün­ster. Als sol­cher soll­te er den Glau­ben ver­tei­di­gen. Wer sei­ne Aus­füh­run­gen liest, muss dar­aus jedoch die Schluss­fol­ge­rung zie­hen, dass die Kir­che auf dem I. Vati­ka­num den Glau­ben ver­än­dert hat, dass der Katho­li­zis­mus, wie wir ihn ken­nen, erst eine Erfin­dung des 19. Jahr­hun­derts ist und dass das Dog­ma von der Unfehl­bar­keit des Pap­stes unmög­lich wahr sein kann.

„Ist es mög­lich, bis zum 18. Juli etwas für unwahr und ab dann für wahr zu hal­ten?“ zitiert Wolf einen der Geg­ner des Unfehl­bar­keits­dog­mas. Natür­lich kann man das als Katho­lik nicht. Hät­te das I. Vati­ka­num einen sol­chen Tra­di­ti­ons­bruch began­gen, hät­te es den Katho­li­zis­mus nicht neu erfun­den, son­dern die Kir­che zerstört.

Vor­her, schreibt Wolf wei­ter, habe immer die Über­zeu­gung gegol­ten, ver­pflich­ten­der Glau­bens­satz kön­ne nur etwas wer­den, was „immer, über­all und von allen“ geglaubt wur­de, wie es der hl. Vin­zenz von Lerin aus­drück­te. Abge­se­hen davon, dass die­se Leh­re des hl. Vin­zenz den Moder­ni­sten nor­ma­ler­wei­se gar nicht gefällt, da sie Ände­run­gen der kirch­li­chen Leh­re ja aus­drück­lich wün­schen, hat das I. Vati­ka­num in der Dog­ma­ti­schen Kon­sti­tu­ti­on Dei Fili­us die Ent­wick­lung der Glau­bens­leh­re gera­de mit ganz ähn­li­chen Wor­ten des Vin­zenz von Lerin beschrie­ben: Die Erkennt­nis des Glau­bens und die theo­lo­gi­sche Wis­sen­schaft möge wach­sen, „aber ledig­lich in der ihnen zukom­men­den Wei­se, näm­lich in der­sel­ben Leh­re, dem­sel­ben Sinn und der­sel­ben Auf­fas­sung“. Wenn die Leh­re von der päpst­li­chen Unfehl­bar­keit also wirk­lich das Gegen­teil der bis­he­ri­gen Kir­chen­leh­re gewe­sen wäre, hät­te sie unmög­lich dog­ma­ti­siert wer­den können.

Der Glau­bens­satz des I. Vati­ka­nums besagt nicht, dass der Papst rein will­kür­lich irgend­wel­che Din­ge dog­ma­ti­sie­ren kön­ne, die vor­her nicht geglaubt wur­den, wie Wolf insi­nu­iert, son­dern dass ihn der Hl. Geist bei der Defi­ni­ti­on einer Glau­bens- oder Sit­ten­leh­re vor einem Irr­tum bewahrt. Das I. Vati­ka­num betont aber: 

„Den Nach­fol­gern des Petrus wur­de der Hei­li­ge Geist näm­lich nicht ver­hei­ßen, damit sie durch sei­ne Offen­ba­rung eine neue Leh­re ans Licht bräch­ten, son­dern damit sie mit sei­nem Bei­stand die durch die Apo­stel über­lie­fer­te Offen­ba­rung bzw. die Hin­ter­las­sen­schaft des Glau­bens hei­lig bewahr­ten und getreu auslegten.“

Wolf-Auf­satz in der Frank­fur­ter Allgemeinen.

Es gab auf dem Kon­zil Anträ­ge, in das Dog­ma eine For­mu­lie­rung ein­zu­fü­gen, in dem Sinn, dass der Papst vor­her die Bischö­fe oder die Kar­di­nä­le um Rat fra­gen sol­le. Die­se Anträ­ge wur­den aber abge­wie­sen, damit kei­ne Rechts­un­si­cher­heit ent­ste­hen kön­ne, damit also die Geg­ner eines Dog­mas nach­träg­lich nicht behaup­ten könn­ten, der Papst habe sich nicht genü­gend aus­führ­lich bera­ten und dar­um sei die Dog­ma­ti­sie­rung ungül­tig. Das Kon­zil defi­nier­te dage­gen sogar, dass die Defi­ni­tio­nen des Römi­schen Bischofs „aus sich, nicht aber auf­grund der Zustim­mung der Kir­che unab­än­der­lich“ seien.

Wolf ver­schweigt zudem, dass unter den Kon­zils­vä­tern selbst die Geg­ner der Dog­ma­ti­sie­rung fast alle mit der Unfehl­bar­keit des Pap­stes ein­ver­stan­den waren. Was sie bekämpf­ten, war nur die Oppor­tu­ni­tät die­ser Dog­ma­ti­sie­rung. Die Geg­ner einer Defi­ni­ti­on stamm­ten näm­lich über­wie­gend aus Län­dern mit kir­chen­feind­li­chen Regie­run­gen und fürch­te­ten die Schwie­rig­kei­ten, die durch eine Dog­ma­ti­sie­rung kom­men wür­den. So war es auch bei den deut­schen Bischö­fen, und zwar nicht ganz zu Unrecht, denn Bis­marck benutz­te die Defi­ni­ti­on des I. Vati­ka­nums dann tat­säch­lich als Vor­wand für sei­ne repres­si­ven Maß­nah­men gegen die katho­li­sche Kir­che. Trotz­dem gab es auch unter den deut­schen Bischö­fen Befür­wor­ter des Unfehl­bar­keits­dog­mas, wie K. Mar­tin von Pader­born und Sene­stréy von Regensburg.

Zu denen, die ein neu­es Dog­ma für inop­por­tun hiel­ten, gehör­te auch der Kon­ver­tit John Hen­ry New­man, der spä­te­re Kar­di­nal. In einem besorg­ten Brief schrieb er Anfang 1870: 

„Da wir alle in Ruhe sind und kei­ne Zwei­fel haben und – wenig­stens prak­tisch, um nicht zu sagen lehr­mä­ßig – an die Unfehl­bar­keit des Hei­li­gen Vaters glau­ben, da erhebt sich plötz­lich Gedon­ner in der kla­ren Luft …“1.

New­man fürch­te­te die Fol­gen einer Dog­ma­ti­sie­rung für die Katho­li­ken im angli­ka­ni­schen Eng­land und hielt die­se zudem für unnö­tig, da alle Katho­li­ken sowie­so an die päpst­li­che Unfehl­bar­keit glaub­ten. Das ist das Gegen­teil von dem, was uns Prof. Wolf glau­ben machen will.

Der Schrift- und Tra­di­ti­ons­be­weis für die päpst­li­che Unfehl­bar­keit ist nicht schwer zu füh­ren. Zu Petrus sag­te der Herr, er habe für ihn gebe­tet, damit sein Glau­be nicht schwin­de, und er gab ihm den Auf­trag, sei­ne Brü­der zu stär­ken (Lk 22,32). Von Anfang an wand­te man sich dar­um an den Nach­fol­ger des hl. Petrus auf dem Bischofs­stuhl in Rom, wenn Glau­bens­zwei­fel oder ‑strei­tig­kei­ten auf­tra­ten. Bereits auf dem Kon­zil von Chal­ze­don (451) sol­len die Kon­zils­vä­ter nach der Ver­le­sung eines dog­ma­ti­schen Briefs von Papst Leo aus­ge­ru­fen haben: 

„Durch Leo hat Petrus gesprochen.“ 

Sogar Luther schrieb vor sei­nem end­gül­ti­gen Bruch mit der Kir­che in einem Brief an den Papst: 

„Dei­ne Stim­me erken­ne ich als die Stim­me Chri­sti an, die in dir anwe­send ist und redet.“

Der Gal­li­ka­nis­mus aller­dings, der seit dem 17. Jh. ver­such­te, die fran­zö­si­sche Kir­che von Rom mög­lichst unab­hän­gig zu machen, behaup­te­te tat­säch­lich, der Papst brau­che bei Ent­schei­dun­gen in Glau­bens­fra­gen die Zustim­mung der Gesamt­kir­che. Der 4. Gal­li­ka­ni­sche Arti­kel von 1682 sag­te: „In Glau­bens­fra­gen hat der Papst das erste Wort, und sei­ne Dekre­te gehen alle Kir­chen an und jede Kir­che im Beson­de­ren; aber sein Urteil ist nicht unum­stöß­lich, ehe ihm die Zustim­mung der Kir­che erteilt ist.“ Ähn­li­che natio­nal­kirch­li­che Bestre­bun­gen gab es auch in ande­ren Län­dern. Will nun Wolf behaup­ten, der Gal­li­ka­nis­mus sei Kir­chen­leh­re gewe­sen? Das wäre eine völ­li­ge Ver­dre­hung der Tat­sa­chen. Rich­tig ist nur, dass die The­se, der Papst brau­che die Zustim­mung der Gesamt­kir­che, vor dem I. Vati­ka­num noch nicht for­mell ver­ur­teilt war. Sie wur­de noch gedul­det. Dar­um gab es auf die­sem Kon­zil tat­säch­lich noch eini­ge weni­ge Gal­li­ka­ner unter den Kon­zils­vä­tern, aber auch die­se unter­war­fen sich der Ent­schei­dung des Kon­zils, wie im Übri­gen alle Bischöfe.

Katholisch.de, Diözesanmedien oder Internetseiten wie die des Erzbistums Wien bieten Wolf eine Plattform für seine Thesen.
Kirch­li­che Medi­en wie Katho​lisch​.de oder die Inter­net­sei­te des Erz­bis­tums Wien bie­ten Wolf eine Platt­form für sei­ne These.

Unwahr ist außer­dem die Behaup­tung Wolfs, nicht nur die Dog­men, son­dern „sämt­li­che lehr­amt­li­chen Äuße­run­gen des Pap­stes [sei­en nun] der Dis­kus­si­on ent­zo­gen“. Das I. Vati­ka­num hat die Unfehl­bar­keit des Pap­stes aus­drück­lich nur für die weni­gen Fäl­le einer soge­nann­ten Ex cathe­dra- Ent­schei­dung defi­niert. Es gab auf dem Kon­zil zwar eini­ge Bischö­fe, die die Unfehl­bar­keit des Pap­stes ger­ne wei­ter aus­ge­dehnt hät­ten, etwa in dem Sinn, dass alle lehr­amt­li­chen Ver­laut­ba­run­gen des Pap­stes Unfehl­bar­keit besä­ßen. Das Kon­zil hat die­se Posi­ti­on aber nicht ange­nom­men. Sicher­lich muss ein Katho­lik auch nicht-unfehl­ba­re Ver­laut­ba­run­gen des Pap­stes mit einer Hal­tung des Respekts und reli­giö­sen Gehor­sams anneh­men. Wenn man aber ern­ste Grün­de hat, die Aus­sa­gen eines Pap­stes zu bezwei­feln oder sogar für falsch zu hal­ten, ver­fehlt man sich nicht gegen den Glauben.

Auch nach dem I. Vati­ka­num ist der Papst also kei­nes­wegs der abso­lu­te Herr über die katho­li­sche Kir­che, der mit ihr machen könn­te, was er woll­te. Dar­um ist Josef Ratz­in­ger zuzu­stim­men, der – bevor er selbst Papst wur­de – schrieb: 

„Tat­säch­lich … hat das I. Vati­ka­num den Papst kei­nes­wegs als abso­lu­ten Mon­ar­chen defi­niert, son­dern ganz im Gegen­teil als Garan­ten des Gehor­sams gegen­über dem ergan­ge­nen Wort: Sei­ne Voll­macht ist an die Über­lie­fe­rung des Glau­bens gebun­den“ (Vom Geist der Lit­ur­gie, S. 142 f).

Die Geschich­te hat zudem die Befürch­tun­gen eini­ger Defi­ni­ti­ons­geg­ner, der Papst wür­de nach dem Kon­zil am lau­fen­den Band neue Dog­men fabri­zie­ren, nicht bestä­tigt. Seit dem I. Vati­ka­num wur­de erst ein ein­zi­ges Mal von einem Papst ein Dog­ma ver­kün­det, näm­lich das Dog­ma von der leib­li­chen Auf­nah­me Mari­ens in den Him­mel von Papst Pius XII. Es war dies kei­ne neue Wahr­heit, denn das Fest der Him­mel­fahrt Mari­ens ist das älte­ste Mari­en­fest der Kir­che. Pius XII. ver­kün­de­te das Dog­ma auch nicht im Allein­gang, son­dern nach­dem er zuvor sämt­li­che Bischö­fe der Welt um ihre Stel­lung­nah­me gebe­ten hat­te. Das I. Vati­ka­num hat ja nicht ver­bo­ten, dass der Papst vor­her die Mei­nung der ande­ren Bischö­fe ein­holt, son­dern nur defi­niert, dass ein sol­ches Vor­ge­hen des Pap­stes für die Gül­tig­keit einer Dog­ma­ti­sie­rung nicht nötig sei.

Übri­gens scheint Prof. Wolf die Him­mel­fahrt Mari­ens nicht von der Unbe­fleck­ten Emp­fäng­nis unter­schei­den zu kön­nen, denn er schreibt, Pius IX. habe 1854 die Him­mel­fahrt Mari­ens dog­ma­ti­siert. Für einen Prie­ster ist das schon erstaun­lich. Pius IX. hat die Unbe­fleck­te Emp­fäng­nis Mari­ens defi­niert – 16 Jah­re vor dem I. Vati­ka­num! Damals konn­te man immer­hin noch der Mei­nung sein, die­se Defi­ni­ti­on sei nur gül­tig, weil sie die Zustim­mung der Gesamt­kir­che fand.

Wolf schließt sei­nen Auf­satz mit einem Wort von Ignaz Döl­lin­ger, einem Prie­ster und Gelehr­ten, der sich nach dem I. Vati­ka­num von der Kir­che trenn­te: „Man hat eine neue [Kir­che] gemacht!“ Die Kir­che sei also nach dem I. Vati­ka­num nicht mehr die­sel­be wie vor­her, wird hier behaup­tet. Da Wolf sich die­sem Wort Döl­lin­gers offen­bar anschließt und er das Dog­ma von der Unfehl­bar­keit des Pap­stes nicht annimmt, ist er eben­falls von der Kir­che abge­fal­len, darf aber trotz­dem sei­ne häre­ti­schen The­sen unter Theo­lo­gie­stu­den­ten verbreiten.

*Pater Mat­thi­as Gau­dron lehrt Dog­ma­tik am Prie­ster­se­mi­nar Herz Jesu der Prie­ster­bru­der­schaft St. Pius X., der er selbst angehört. 

  1. Zitiert nach: But­ler, Das I. Vati­ka­ni­sche Kon­zil, 2. Aufl., Mün­chen: Kösel, S. 190
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