142 Jahre nach dem Berliner Kongreß, als die europäischen Mächte nicht auf den Hilferuf der Armenier reagierten, wiederholt sich die Geschichte.
Vor wenigen Tagen meldete sich Siobhan Nash-Marshall, Professorin für Christliche Philosophie am Manhattanville College in New York, auf dem US-amerikanischen Kulturportal The Imaginative Conservative zum bewaffneten Konflikt in Bergkarabach zu Wort. Bergkarabach ist ein fast ausschließlich von Armeniern, also Christen, bewohntes Gebiet im Südosten des Kleinen Kaukasus. Bis zum Ende der Sowjetunion gehörte Bergkarabach als Autonomes Gebiet zur Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan. 1991 erklärten die Armenier von Bergkarabach ihre Unabhängigkeit und riefen die armenische Republik Arzach aus, die von der internationalen Staatengemeinschaft aber nicht anerkannt ist.
Die Armenier erlitten zwischen 1878 und 1915 eine brutale Dezimierung, Glaubwürdige Quellen geben an, daß zwei Drittel der Armenier dabei ums Leben kamen. Die türkischen „Maßnahmen“ dienten der religiösen Homogenisierung des Osmanischen Reichs, wurden aber zum Genozid. Davon betroffen war der Großteil des armenischen Siedlungsgebiets, das sich auf osmanischem (türkischem) Staatsgebiet befand. Davon ausgenommen blieben nur die Gebiete, die damals zum russischen Zarenreich gehörten (die heutige Republik Armenien und Bergkarabach). Armenien kommt als erstem christlichem Staat der Weltgeschichte für das Christentum besondere Bedeutung zu. 1375 geriet das am Mittelmeer gelegene Königreich Kleinarmenien unter osmanische Herrschaft, 1514 auch Großarmenien in Obermesopotamien und dem Kaukasus. Allerdings fiel 1639 der östliche Teil Großarmeniens wieder an das islamische Perserreich, von dem es 1828 das christliche Rußland eroberte, was sich als Glücksfall herausstellen sollte. Auf diese Weise entging zumindest dieser kleinere Teil Armeniens dem osmanischen Völkermord. Im Vertrag von Sèvres wurden 1920 der Republik Armenien, die 1918 auf dem bis dahin russischen Gebiet ausgerufen worden war, zwar große Teile von Türkisch-Armenien zugesprochen, aber der Vertrag von der Türkei nicht anerkannt. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, Großbritannien, Frankreich, Italien und die USA, zeigten keine Absicht, die Einhaltung des Vertrags durchsetzen zu wollen, weshalb er toter Buchstabe blieb.
Die unten abgebildete Supan-Karte von 1896 bietet einen detaillierten Überblick über das damalige armenische Siedlungsgebiet und den Anteil der Christen in „Türkisch-Armenien, Kurdistan und Transkaukasien“. Die rot-grüne Linie in der rechten Hälfte der Karte zeigt die bis heute kaum veränderte Ostgrenze des Osmanischen Reiches, der heutigen Türkei, an. Östlich dieser Linie, im ehemaligen Russisch-Armenien, liegt heute der verbliebene Rest des armenischen Siedlungsgebiets, während er westlich dieser Linie, im türkischen Hoheitsgebiet, ausgelöscht wurde. Ebenso ausgelöscht wurde die vor 120 Jahren noch starke christliche Präsenz in der Türkei, die nicht allein von den Armeniern gestellt wurde, sondern auch von starken griechischen und chaldäischen, aber auch georgischen und anderen christlichen Völkern. Im oberen rechten Rand der Karte sind Teile des Siedlungsgebiets der christlichen Georgier erfaßt. Links unten ist an der Mittelmeerküste um Tarsus anhand des Armenier- und Christenanteils noch das Gebiet des ehemaligen Königreichs Kleinarmenien zu erkennen.
Wie bereits 1514 sind türkische Verbände bzw. Verbände im türkischen Auftrag Ende September wieder in das östliche Armenien vorgedrungen. Das ruft historische Erinnerungen wach, die zu den gräßlichsten der jüngeren Weltgeschichte gehören. Die dabei von der Türkei eingesetzten Kämpfer, die in Syrien rekrutiert wurden, werden von Ankara von einem Kriegsschauplatz des Dschihad auf einen anderen umgelenkt. Doch die westliche, nominell christliche Welt tut sich schwer, sobald Christen die Opfer sind.
Damit zum Text von Prof. Siobhan Nash-Marshall:
Am 26. September haben türkische Streitkräfte zusammen mit ihren aserbaidschanischen Verbündeten einen umfassenden Angriff auf Arzach und Armenien gestartet. Der Angriff erfolgte nicht unerwartet. Aserbaidschan hatte Armenien bereits Mitte Juli bombardiert. Ende Juli und Anfang August führten aserbaidschanische und türkische Streitkräfte gemeinsame Militärübungen in Nachitschewan durch.
Danach beschloß die Türkei großzügig, einige ihrer Soldaten und Waffen in den Händen ihrer aserbaidschanischen „Brüder“ zu lassen. Während ich diesen Text schreibe, sind diese Waffen und Soldaten – und auch die Tausenden von Söldnern, die die Türkei in Syrien angeworben, bezahlt und nach Aserbaidschan geschickt hat – an einem Angriff auf die gesamte Breite des Grenzraumes zwischen Aserbaidschan und Arzach beteiligt.
Die Ereignisse sind zweifellos eine Wiederholung historischer Präzedenzfälle.
Als die osmanischen Türken entschieden, daß die Armenier auf der ganzen Welt personae non gratae waren – das heißt, ihre Existenz einfach unerträglich war –, verübten sie ein Massaker nach dem anderen: die Massaker von 1878, die Massaker von Hamidian (1894–1896), die Massaker von Adana (1909), um nur einige zu nennen, bis 1915. Sie haben einen umfassenden Völkermord an den Armenien ausgelöst.
Während die Türken das taten, was sie offensichtlich am besten konnten, waren die Herrscher der europäischen Mächte – Frankreich, England, Rußland und Deutschland – damit beschäftigt, ihre Interessen im Nahen Osten zu fördern, während sie nichts gegen die unübersehbar wachsende Bedrohung für Armenien, die erste christliche Nation der Welt, unternahmen. Gewiß, Männer wie Gladstone und Clemenceau haben die Massaker angeprangert. Sie schickten Drohbriefe und machten auf Moral. Das Problem war, daß sie so hoch droben unterwegs waren, daß sie die Welt nicht berührten. Ihre Worte schwebten über den Köpfen der Mörder, die weiter töteten, weil sie verstanden, was jeder Grundschüler verstehen konnte: „Die Keulen und Stöcke können meine Knochen brechen, aber die Worte können mich niemals berühren.“
Auch die Armenier haben es verstanden. Auf dem Berliner Kongress von 1878 fragte Khrimian Hayrig, der später zum Oberhaupt der armenischen Kirche, zum Katholikos aller Armenier, werden sollte, die europäischen Führer, die Christen wie er waren: „Welchen Wert haben Ihre Appelle und Petitionen dort, wo die Pistolen sprechen und die Schwerter Geräusche machen?“ Seine Worte stießen auf taube Ohren, und sein Volk bezahlte den Preis, bis niemand mehr in dem Land war, das sie seit Tausenden von Jahren fruchtbar gemacht hatten.
Das gleiche Alptraumszenario wiederholt sich heute. Die Türkei (und Aserbaidschan) töten die Armenier. Und genau wie die Europäer in der Vergangenheit scheinen wir uns dessen nicht bewußt zu werden. Wir reden nur. Im Gegensatz zu damals machen wir nicht einmal auf Moral. Wir scheinen Dinge wie den Wert des menschlichen Lebens und der alten Kultur vergessen zu haben.
Deshalb konzentrieren wir uns auf Details.
Wer hat angefangen? Wie viele Armenier müssen sterben, bevor wir begreifen, daß Leben und Kultur kostbar sind und verteidigt werden müssen?
Eine Anmerkung
Der Mittelteil von Nash-Marshalls aufrüttelndem Text wurde weggelassen, was eine Begründung verlangt. Die Autorin leitet ihn wie folgt ein:
„Auch Hitler verstand den türkischen Präzedenzfall. Sobald er das Rheinland wieder militarisierte, ohne daß die Entente einen Finger rührte, richtete er seinen Blick auf größere Ziele. Von den deutschen Verbündeten, den Türken, erfuhr er, daß politische Führer, die protestieren und nicht handeln, schnell vergessen. Er vertrat das ausdrücklich in seiner Rede am Obersalzberg, die er eine Woche vor dem Einmarsch in Polen hielt.“
Darauf folgt ein längeres Zitat, das Hitler zugeschrieben wird. Von der hier gemeinten Ansprache Hitlers an die Oberbefehlshaber vom 23. August 1939 existiert aber keine wörtliche Niederschrift. Es gibt von der mehrstündigen Ansprache nur mehr oder weniger vollständige Gedächtnisprotokolle. Die von Nash-Marshall zitierte Stelle entstammt der sogenannten „Dschingis-Khan-Rede“, einer Fälschung, die im Zuge des Nürnberger Prozesses auftauchte, aber selbst vom alliierten Siegertribunal, da so offensichtlich gefälscht, nicht als Beweismittel zugelassen wurde.
Die Autorin zitiert diese Version, weil darin die Armenier erwähnt werden. Hitler habe demnach zu seinen Oberbefehlshabern gesagt, man müsse mit größter Härte Lebensraum erobern, denn wer spreche noch über die Ausrottung der Armenier. Dieser Bezug macht die Zitierung verständlich, dennoch macht sich die Autorin damit angreifbar, weil die angebliche Niederschrift der Hitler-Rede mit übertriebenen Kraftausdrücken und überzeichnender Härte von deutschen Widerstandskreisen fabriziert und vom deutschen Generalstabschef Generaloberst Ludwig Beck in einem Akt von Landesverrat dem britischen Botschafter übergeben wurde, um die britische Regierung gegen die deutsche Reichsregierung in Stellung zu bringen.
Und noch einer zweiten Fälschung ist Nash-Marshall erlegen, wenn sie schreibt:
„Wir alle wissen, wozu diese Rede [Hitlers] geführt hat. Deutsche sind fleißige Schüler, besonders wenn sie die Möglichkeit haben, die Lektion aus erster Hand zu lernen. Der erste Kommandant von Auschwitz war während des Völkermords an den Armeniern in Westarmenien stationiert.“
Auch das trifft nicht zu. Gemeint ist Rudolf Höß, der von Mai 1940 bis November 1943 erster Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz war. Als der Genozid an den Armeniern geschah, war er 13 Jahre alt. Höß hatte seinen 1936 verfaßten Lebenslauf „ausgeschmückt“, seinen Geburtstag um ein Jahr vordatiert und behauptet, sich im Alter von 15 Jahren freiwillig zum Einsatz im Ersten Weltkrieg gemeldet zu haben und auf eigenen Wunsch nach Mesopotamien versetzt worden zu sein. Nichts davon entsprach jedoch der Wahrheit. Höß wurde im November 1901 geboren, gehörte damit einem „weißen Jahrgang“ an, der nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Auch eine Freiwilligenmeldung und die Verleihung von Kriegsauszeichnungen, wie von Höß behauptet, läßt sich nicht nachweisen. Selbst wenn sein Kriegseinsatz gestimmt hätte, wäre er frühestens Anfang 1917, also deutlich nach dem Ende des osmanischen Genozids an den Armeniern, im Nahen Osten eingetroffen. In Wirklichkeit war er nie dort. Zur fraglichen Zeit besuchte er die Volksschule in Mannheim, die er 1916 abschloß, und begann anschließend eine Lehre. Seine ständige Anwesenheit in Mannheim während des Ersten Weltkrieges ist durch seinen Schulbesuch und mehrere Wohnungswechsel genau dokumentiert. Erst 1919 nahm er im Alter von 18 Jahren als Angehöriger des Freikorps Roßbach an Kämpfen im Baltikum und Oberschlesien teil. 1922 wurde er Mitglied der NSDAP und 1933 der SS. 1947 wurde Höß, den die Briten nach Kriegsende an die Polen ausgeliefert hatten, von einem polnischen Kriegsverbrechertribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Wer dem Anliegen der Armenier dienen will, sollte sich nicht unnötig angreifbar machen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Tempi/Wikicommons (Screenshot)