
Von Roberto de Mattei*
Vor siebzig Jahren, am 15. August 1950, wurde das Dogma der Himmelfahrt der heiligen Jungfrau Maria proklamiert. Die Verkündigung des Dogmas fand am 1. November 1950 mit der Dogmatischen Konstitution Munificentissimus Deus statt, aber Pius XII. machte die Ankündigung bereits am 15. August, dem Tag, an dem das Fest Mariä Himmelfahrt seit undenklichen Zeiten gefeiert wird.
Die Himmelfahrt ist der Übergang der heiligen Jungfrau mit Leib und Seele vom irdischen zum himmlischen Leben. Diese Glaubenswahrheit entspringt der göttlichen Mutterschaft und der jungfräulichen Unversehrtheit des Leibes Mariens. Für Maria, da Gottesmutter und frei vom Makel der Erbsünde, wäre es nicht angemessen gewesen, sie dem Tod zu unterwerfen, der eine Strafe der Sünde ist. Das Dogma der Unbefleckten Empfängnis ist die Schlußfolgerung daraus, ihre Himmelfahrt der Abschluß eines folgerichtigen Verständnisses ihrer Vorrechte als Muttergottes.
Pius XII. erklärt in der Bulle, mit der er das Dogma verkündete:
„Durch seinen Tod hat Christus zwar die Sünde und den Tod überwunden, und wer durch die Taufe zum übernatürlichen Leben wiedergeboren ist, hat durch Christus Sünde und Tod ebenfalls besiegt: Aber die volle Auswirkung dieses Sieges will Gott den Gerechten nach einem allgemein geltenden Gesetz erst dann zuteil werden lassen, wenn einmal das Ende der Zeiten gekommen ist.“
Infolge der Erbsünde verwesen nach dem Tod auch die Körper der Gerechten, und erst am Jüngsten Tag werden sie mit ihrer verklärten Seele wiedervereinigt.
„Von diesem allgemein gültigen Gesetz wollte Gott die allerseligste Jungfrau Maria ausgenommen wissen. Sie hat ja durch ein besonderes Gnadenprivileg, durch ihre Unbefleckte Empfängnis, die Sünde besiegt, war deshalb dem Gesetz der Verwesung des Grabes nicht unterworfen und brauchte auf die Erlösung ihres Leibes nicht bis zum Ende der Zeiten zu warten.“
Am 30. Oktober 1950, am Vorabend zur Vigil der Dogmendefinition, hatte Pius XII. die außerordentliche Gnade, in den Vatikanischen Gärten das gleiche Phänomen der Sonne zu betrachten, die sich wie ein feuriger Globus am Himmel drehte, das 70.000 Pilger und Skeptiker über 30 Jahre zuvor, am 13. Oktober 1917 in Fatima, Portugal, gesehen hatten. Der „Sonnentanz‘“ wiederholte sich am 31. Oktober und am 8. November vor den Augen des Papstes. Das Wunder war für Pius XII. das himmlische Siegel für das soeben verkündete Dogma und eine Ermutigung, die große marianische Bewegung zu entfalten, die nach der Unbefleckten Empfängnis und der Himmelfahrt mit kräftiger Stimme um die Verkündigung der Mittlerschaft Mariens und die Weihe Rußlands an ihr Unbeflecktes Herz bat.
Eugenio Pacelli war am 13. Mai 1917 in Rom zum Bischof geweiht worden, dem Tag, an dem der Zyklus der Marienerscheinungen der drei Hirtenkinder von Fatima, Lucia, Jacinta und Francisco, begann. Und am 31. Oktober 1942 hatte er als Papst Pius XII. die Kirche und die Welt dem Unbefleckten Herzen Mariens geweiht. Seitdem hatten sich der Name und die Botschaft von Fatima in der katholischen Welt verbreitet. Aus diesem Grund betrachteten ihn viele als den „Papst von Fatima“ und waren überzeugt, daß während seines Pontifikats die Bitten Unserer Lieben Frau an die drei Seherkinder der Cova di Iria erfüllt würden: die Ausbreitung der Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats und die feierliche Weihe Rußlands an das Unbefleckte Herz Mariens durch den Papst mit allen mit ihm verbundenen Bischöfen der Welt.
Leider kam es anders. Weder Pius XII. noch die Päpste, die ihm folgten, haben diese Forderungen vollständig erfüllt. Die Botschaft von Fatima hilft uns jedoch, im Lichte der mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommenen Gottesmutter, andere Wahrheiten des katholischen Glaubens zu beleuchten, insbesondere die vom Königtum Mariens und ihrer universalen Mittlerschaft.
Das Dogma der Himmelfahrt ist eng mit dem Privileg des Königtums Mariens verbunden, dessentwegen sie in der himmlischen Herrlichkeit gekrönt wurde und über Himmel und Erde als Herrin der streitenden, der leidenden und der triumphierenden Kirche, als Königin der Engel und der Heiligen, herrscht. Der Tag der Himmelfahrt ist zugleich der Tag der Herrlichkeit und der Krönung Mariens im Himmel, und wenn die Tage in der Ewigkeit unterschieden werden könnten, müßten wir sagen, daß es keinen schöneren und außergewöhnlicheren Tag als diesen gab.
Der grandiose Plan, den Gott in den grenzenlosen Visionen seines unendlichen Geistes für Maria vorausgesehen hatte, fand an dem Tag seine vollständige Umsetzung, an dem Unsere Liebe Frau die Erde endgültig verlassen hatte und mit Leib und Seele im Himmel auf den Thron der ewigen Herrlichkeit gesetzt wurde. Der Prophet Elija wurde von einem Feuerwagen in den Himmel getragen, der nach Ansicht der Übersetzer eine Gruppe von Engeln war. Maria wurde nicht nur von einer Gruppe von Engeln in den Himmel geführt, sondern, wie der heilige Alfons Maria von Liguori in seinem Meisterwerk Die Herrlichkeiten Mariae sagt, der König des Himmels selbst war es, der sie abholte und mit dem ganzen himmlischen Hofstaat ins Paradies geleitete. Aus diesem Grund definiert der heilige Petrus Damiani die Himmelfahrt Mariens als ein noch herrlicheres Schauspiel als die Himmelfahrt Jesu Christi, denn dem Erlöser kamen nur die Engel entgegen, während der Gottesmutter der Herr selbst, der König des Himmels, mit der Schar der Engel und der Heiligen entgegenging.

Als die Muttergottes in den Himmel kam, waren die Bewohner der himmlischen Sphäre wegen ihrer unvergleichlichen Schönheit sprachlos und wiederholten die Worte des Hoheliedes (8, 5):
„Wer ist dieses Geschöpf, das aus der Erdenwüste, einem Ort der Dornen und Leiden, heraufsteigt, auf den von ihr Geliebten gestützt?“
„‘Wer ist sie?‘ Die Engel, die sie begleiten, antworten mit folgenden Worten“, so der heilige Alfons:
„ ‚Das ist die Mutter unseres Königs, sie ist unsere Königin, sie ist die Gebenedeite unter den Frauen, die voll der Gnade ist, die Heilige der Heiligen, die Auserwählte Gottes, die Makellose, die Taube, das Schönste aller Geschöpfe’“ (Die Herrlichkeiten Mariae, 165).
Wenn aber der menschliche Geist, wie der heilige Bernhard sagt, die unermeßliche Herrlichkeit nicht erfassen kann, die Gott im Himmel für jene vorbereitet hat, die Ihn auf Erden geliebt haben, wer könnte dann je ermessen, ergänzt der heilige Alfons, welche Herrlichkeit Er für Seine geliebte Mutter bereitet hat, die Ihn auf Erden mehr liebte als alle Menschen, ja vom ersten Moment an, als sie erschaffen wurde, Ihn mehr geliebt hat als alle Menschen und alle Engel zusammen?
Sie erwartete ein Thron, der von Ewigkeit an für sie gedacht und vorbereitet war. Der Himmel wurde von einem neuen Licht erstrahlt, das noch nie zuvor gesehen wurde. Maria wurde über alle Chöre der Engel und der Heiligen erhoben. Nur ein Thron steht höher, der von Jesus Christus. Die anderen stehen alle unter dem ihren. Der heilige Alfons sagt:
„Da die Jungfrau Maria als Mutter des Königs der Könige erhöht wurde, ehrt die Kirche sie aus gutem Grund mit dem Titel einer Königin.“
Pius XII. führte mit der Enzyklika Ad caeli reginam vom 28. Oktober 1954 das Fest Maria Königin ein, das jedes Jahr am 31. Mai auf der ganzen Welt zu feiern ist, und ordnete an, an diesem Tag die Weihe der Menschheit an das Unbefleckte Herz Mariens zu erneuern.
Durch die Krönung der in den Himmel Aufgenommenen zur Königin machte sie der Herr zur Ausspenderin aller Gnaden.
Unsere Liebe Frau war bereits von ihrem ersten Fiat an mit dem erlösenden Werk Jesu verbunden. Das Erlösungswerk ist ein einzigartiges Ganzes, das jedoch zwei Teile umfasst. Einen Teil hat Jesus mit seiner Passion vollbracht und die Gottesmutter als „Corredemptrix“ mit sich verbunden: Damit wurden alle für unser Heil notwendigen Gnaden erlangt. Der zweite Teil ist die Anwendung dieses Gnadenschatzes: Jesus vollzieht ihn im Himmel und verbindet sich dazu erneut mit der Muttergottes, die Er sich als Vermittlerin aller Gnaden an Seine Seite stellte. Das ist eine Wahrheit von immenser Bedeutung für unser geistliches Leben, aber auch für die gesamte Menschheit.
Wir wissen in der Tat, daß wir ohne Gottes Hilfe nichts vermögen, aber mit Gottes Hilfe alles möglich ist. Diese Hilfe Gottes kommt durch Seine Gnade, der wir mit unserem Glauben und mit unseren Werken entsprechen müssen. Die Gnade hängt von Gott ab, aber Er wollte, daß die Verteilung der Gnaden durch Unsere Liebe Frau erfolgt. Maria ist die universale Mittlerin und der Kanal, durch den alle Gnaden fließen. Wenn ein Mensch, wenn eine Nation, wenn ein Volk Maria um Gnade bittet, werden sie diese erhalten. Sonst gehen sie verloren. Diese Glaubenswahrheit muß von uns nicht geglaubt werden, um wahr zu sein. Sie ist unabhängig von uns wahr. Wenn wir aber an diese Wahrheit glauben, sie in Wort und Tat bekennen, werden wir alle Vorteile daraus erlangen. Und an diesen Gnadengaben haben wir in den schwierigen Zeiten, in denen wir leben, einen außerordentlichen Bedarf. Wir brauchen sie, jeder von uns, individuell; unsere Familien brauchen sie; unsere Nation braucht sie; vor allem die Kirche braucht sie, die eine dramatische Stunde in ihrer Geschichte erlebt.
Wir müssen dafür beten, damit siebzig Jahre nach der Verkündigung des Dogmas von der Himmelfahrt Mariens die Weihe Rußlands an das Unbefleckte Herz Mariens vollzogen wird und die Kirche neue Mariendogmen verkündet. Die offizielle Verkündigung eines großen marianischen Dogmas, die universale Mittlerschaft Mariens und ihre Miterlösung der Menschheit, könnte eine entscheidende Antwort auf die Krise unserer Zeit bieten: der Menschheit zu zeigen, daß sie angesichts der Probleme, die sie quälen, nur in Maria und dank Maria einen rettenden Anker finden kann.
Manchmal haben wir den Eindruck, uns in der Finsternis zu befinden, aber wenn wir nach oben schauen, auf diejenige, die mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, scheint sich der Himmel ein wenig aufzutun, und wir erblicken den strahlende Anblick Unserer Lieben Frau, die persönlich nach Fatima gekommen ist, um uns ihr Königreich im Himmel und auf Erden zu verheißen mit den Worten:
„Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren.“
Wer auf sie vertraut, wird nicht enttäuscht werden.

*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Giuseppe Nardi/Wikicommons
Vielen Dank, verehrter Herr Professor, für diesen Artikel voll Begeisterung, Hochachtung und fundiertem Wissen.
Währen die Aussagen der Berufenen ähnlich ergreifend und – vor allem – deutlich, lebten wir in einer besseren Welt!
„„ ‚Das ist die Mutter unseres Königs, sie ist unsere Königin, sie ist die Gebenedeite unter den Frauen, die voll der Gnade ist, die Heilige der Heiligen, die Auserwählte Gottes, die Makellose, die Taube, das Schönste aller Geschöpfe’“ (Die Herrlichkeiten Mariae, 165).“
Ja, sie ist die Tochter des Vaters und die Mutter des Sohnes und die Braut des Heiligen Geistes. Sie ist die dreifach gekrönte Königin, und ich möchte dabei sein, wenn sie den Synodalen Weg der deutschen Bischöfe angreift. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Per Mariam ad Christum.
Warum ist es so wichtig, das Dogma der „Miterlöserin“ zu verkünden? In der heutigen katholischen Kirche werden die anderen marianischen Dogmen schon nicht mehr geglaubt. Was soll also ein neues Dogma bewirken?
Und warum beharren konservative Kreise auf „Miterlöserin“? Reicht ihnen Jesus Christus nicht?