
(Jerusalem) Die Charedim, allgemein als ultraorthodoxe Juden bekannt, von denen sie einen Teil bilden, erleben durch die Corona-Maßnahmen der israelischen Regierung einen Umbruch, der ihr Leben auch in der Zeit nach Corona verändern dürfte. Der Blick in eine weitgehend unbekannte Welt.
Sie selbst bezeichnen sich als „charedisch“, als „gottesfürchtig“. Daher rührt auch die Gruppenbezeichnung Charedim, „die Gottesfürchtigen“ (im Englischen auch Haredim geschrieben).
Jahrhundertelang lag Israel in Ostmitteleuropa
Entstanden ist diese jüdische Strömung im einstigen Zentrum des Judentums, das geographisch dem einstigen Territorium von Polen und Litauen entspricht. Diese beiden Staaten am Übergang von Mitteleuropa zu Osteuropa bildeten von 1385 bis 1795 eine Union. In diesem Grenzraum des einstigen (nicht heutigen) polnischen Staatsgebiets und den westlichen Gebieten der heutigen Ukraine und Weißrußlands sowie Teilen Litauens lebten Ende des 19. Jahrhunderts noch zwei Drittel aller Juden weltweit. Vor Beginn der Auswanderungswellen nach Übersee im 19. Jahrhundert, was heute kaum mehr bekannt ist, waren es sogar über 80 Prozent. Die jüdische Konzentration in einem Staat war in der polnisch-litauischen Union in weit stärkerem Maße verwirklicht, als es 72 Jahre nach der Staatsgründung durch Israel der Fall ist. Je nach Angabe leben heute 40–45 Prozent aller Juden in Israel (einschließlich der annektierten und der besetzten Gebiete).
Als im 19. Jahrhundert die europäischen Staaten die staatsbürgerliche Gleichstellung umsetzten, nützten viele Juden die Gelegenheit, um fluchtartig die jüdischen Ghettos mit ihrer Enge, aber jüdischen Selbstverwaltung (und jüdischen Überwachung) zu entkommen. Sie nützten bereitwillig die sich ihnen bietenden neuen Möglichkeiten und strebten eine möglichst schnelle Assimilierung in ihre nicht-jüdische Umgebung an. Am weitesten fortgeschritten und zahlenmäßig am bedeutsamsten war diese Entwicklung in den deutschen Staaten Mitteleuropas, die westlich an das jüdische Hauptsiedlungsgebiet angrenzten und seit den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert sogar Anteil daran hatten (Preußen, vor allem aber Österreich). Die Folge waren zahlreiche Konversionen zum Christentum, die teils allerdings konventionelle Fassade blieben, um in ein formal christliches, in Wirklichkeit aber kirchenfernes, liberales Bürgertum einzutreten. In der zweiten Generation folgte auf diese Identitätsbrüche nicht selten der Schritt in einen militanten Atheismus und eine Militanz in den Reihen der radikalen Linken, deren Entwicklung und Programmatik in den vergangenen 200 Jahren maßgeblich von Abkömmlingen assimilierter, aber atheistischer oder agnostischer Juden geprägt wurde.
Die alten Ghetto-Autoritäten (in Polen-Litauen die Schtetl-Autoritäten), die eine religiöse und gesellschaftliche Kontrolle über die jüdische Gemeinschaft ausübten, hatten sich gegen die Aufhebung der Ghettos und die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden mit den Christen gewehrt. Das Ghetto trennte zwar Juden und Christen, garantierte den Juden allerdings selbstverwaltete Orte, innerhalb derer sie selbst die gesamte Autorität über alle Lebensbereiche ausübten. Die jüdischen Eliten erkannten, daß die Gleichstellung den Verlust ihrer Autorität und ein Zerfallen der kompakten jüdischen Gemeinschaften bedeuten würde. In der Assimilierung der den Ghettos entflohenen Juden sahen sie die Bestätigung ihrer Befürchtungen. Als Gegenbewegung, mit dem erklärten Ziel das Judentum zu bewahren, entstanden deshalb die Charedim.

Israels Charedim – ein Staat im Staate
Sie haben sich auch im Staat Israel ihre Besonderheiten bewahrt. Dazu gehört ihre Kleidung, weshalb sie bereits äußerlich auffallen. Zu den Paradoxa gehört, daß sie eigentlich Antizionisten in einem zionistischen Staat sind (es gibt auch zionistische Charedim-Gruppen). Ihr Leben am Rande des zionistischen Israels bringt ihnen vom Rest der jüdischen Gesellschaft nicht nur Sympathien ein. Zwei Drittel der ultraorthodoxen Männer gehen keiner Erwerbsarbeit nach, sondern widmen sich ganz dem Studium von Talmud und Tanach. Die Weigerung, Wehrdienst zu leisten, führte zu einem jahrelangen Konflikt. Seit 2014 gilt die Wehrpflicht zwar auch für die Charedim und andere Ultraorthodoxe, wird aber durch großzügige Freistellungen und Aufschübe abgeschwächt.
Ihr Anteil an der israelischen Bevölkerung wurde 2017 mit 12 Prozent angegeben, was in etwa einem Anteil von 16 Prozent unter den Juden entspricht. Ein Viertel der israelischen Bevölkerung sind Muslime (vorwiegend) und Christen (nur mehr wenige). Die Zahl der Charedim wächst allerdings schnell. Ihre Frauen bringen im Durchschnitt sieben Kinder zur Welt. 2009 lag der Anteil der Charedim bei den unter-20-jährigen Juden bei 21 Prozent. Laut unterschiedlichen Schätzungen wird ihr Anteil an der jüdischen Bevölkerung in Israel 2059 zwischen 33 und 50 Prozent ausmachen.1
Nun zwingen die Maßnahmen der israelischen Regierung die Charedim einige Änderungen in ihrem Lebensstil vorzunehmen, die sich wahrscheinlich auch in den Nach-Corona-Zeiten nicht mehr zurückdrehen lassen werden. Dazu gehört die Nutzung digitaler Kommunikationsmittel bzw. die Art des Zugangs zu ihnen.

„Die Notwendigkeit, Informationen über das Virus zu bekommen, hat unter den Charedim eine Wende erzwungen.“
Tzvika Binder, Regisseurin von Nayess (jiddisch für „Neues“), einer sehr beliebten Serie des israelischen Fernsehens, sagte dem Avvenire, der Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz, daß die Charedim durch Corona das Internet fast doppelt so häufig nutzen wie zuvor. Der Informationsbedarf über das Virus zwinge, so Binder, zur Änderung „grundlegender Dynamiken, die jahrhundertelang das tägliche Leben der Charedim bestimmten“.
„Bis Januar hätte sich niemand auch nur vorstellen können, daß Anweisungen eines Rabbiners wie des 92-jährigen Chaim Kaniewski, der höchsten Autorität des charedischen Judentums auf Weltebene, in Zweifel gezogen werden könnten.“
Kaniewski hatte im Februar zunächst die Existenz des Virus geleugnet, dann dessen Existenz zugegeben, aber gesagt, daß es die Charedim nicht erreichen werde, weil sie „die Tora schützt“. Als das Gegenteil offenkundig wurde – 70 Prozent der Infektionen ereigneten sich unter den Charedim – kam das einer Erschütterung eines ganzen Weltbildes gleich.
Ein Paradigmenwechsel
Rabbi Gershon Edelstein, 97 Jahre alt, die zweithöchste Autorität der Charedim, revidierte die Haltung gegenüber dem Virus und erteilte der ultraorthodoxen Gemeinschaft Verhaltensanleitungen über spezielle Informationskanäle. Charedim hatten nämlich auf eigene Initiative begonnen, Gesichtsmasken zu tragen, Ansammlungen zu meiden und sich über nicht-charedische Medien zu informieren.
Gerade letzteres stellt einen Bruch mit einer langen Tradition der Isolierung dar. Um die Verbreitung von Nachrichten gemäß den Kaschrut-Verboten (den jüdischen Gesetzen) auch im Internetzeitalter zu ermöglichen, wurden in jüngster Zeit eigene charedische Kanäle geschaffen. Nach charedischem Verständnis verbietet das jüdische Gesetz beispielsweise die Darstellung eines Frauengesichts. Unter besonders radikalen Charedim-Gruppen gilt deshalb für Frauen die Ganzkörperverschleierung, wie es von radikalen islamischen Gruppen bekannt ist, nur noch radikaler, da sie auch für Mädchen ab dem Kleinkindalter gilt. Dazu gehören Gruppen wie Lev Tahor westlich von Jerusalem, die Teil der antizionistischen Charedim-Richtung Toldot Aharon sind, deren Zentrum sich im Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim befindet. Sie gilt sogar als älteste Charedim-Dynastie, weshalb ihnen eine besondere Anerkennung entgegengebracht wird.

Auf den speziellen charedischen Informationskanälen ist es möglich, die gesamte Welt der Frau darzustellen, ohne jemals das Gesicht einer Frau zu zeigen. Dazu Binder:
„Sogar im Bereich der Werbung werden Perücken und Hochzeitskleider angeboten, aber ohne ein Model, das sie trägt.“
Die charedischen Internetseiten enthalten Spezialfilter, die verhindern, daß Frauengesichter zu sehen sind. Das gilt auch für Bilder von Hochzeiten der Kinder der bekanntesten Rabbiner.
„Das sind Anlässe, an denen Hunderte von Menschen teilnehmen. In einer Gesellschaft, in der es weder Theater noch Kino oder Museen gibt, sind Hochzeiten und Begräbnisse die einzigen großen Ereignisse, an denen man teilnehmen kann.“

Um sie zu feiern, werden zum Teil ganze Fußballstadien angemietet, wie es sonst für Rockkonzerte üblich ist – oder zumindest in Vor-Corona-Zeiten üblich war (zu den Begräbnissen siehe auch 700.000 orthodoxe Juden bei Beerdigung von Großrabbiner).
Im Juli wandte sich Rabbi Edelstein erstmals in einer Direktübertragung im Internet an die Juden. Was eine Nebensächlichkeit scheint, stellt für die Charedim einen Paradigmenwechsel dar. „Zwischen Schwarz und Weiß wird plötzlich ein Grau angedeutet“, so Binder. „Ist dieser Prozeß erst einmal angestoßen, ist er meines Erachtens nicht mehr zu stoppen.“ Corona, so die Filmemacherin, habe nicht nur die Ansteckung mit einem Virus gebracht, sondern für die Charedim auch eine Ansteckung mit „den Medien“. Die jüngeren Generationen dürfen erstmals nicht nur ein koscheres Handy (ohne Internetzugang) nützen, sondern sind nun berechtigt, auch ein Smartphone zu verwenden.
Das alles werde, „kräftige Konsequenzen haben, auch auf politischer Ebene“, ist sich die Filmemacherin sicher.

Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/NBQ/Wikicommons/JWI (Screenshots)
1 Israel National News. Ari Paltiel, Michel Sepulchre, Irene Kornilenko, Martin Maldonado: Long-Range Population Projections for Israel: 2009-2059, Israeli Central Bureau of Statistics; Lev, Tzvi (December 31, 2017). „Education rising, poverty dropping among haredim“.
Bei diesen Charedim scheint es sich quasi um ein jüdisches Äquivalent zu den Amischen (Amish People) zu handeln. Beide aus der Zeit gefallen, wie man so sagt.