(Rom) Am selben Tag als der Vatikan bekanntgab, daß Papst Franziskus 2020 keine Auslandsreisen unternehmen wird, verließ Benedikt XVI. den Vatikan und reiste nach Regensburg. Wie immer bestimmte Zusammenhänge zu bewerten sind: Ihr Zusammenfallen ist jedenfalls bemerkenswert.
Vor zwei Tagen erklärte Vatikansprecher Matteo Bruni, daß alle für 2020 geplanten Auslandsreisen des Papstes abgesagt wurden. Wegen des Coronavirus werde Franziskus anderen Ländern bis auf weiteres keine Pastoralbesuche abstatten. Ein solcher, wenn auch nur von der Dauer eines Tages, war für Ende Mai auf der Insel Malta vorgesehen. Er wurde nach Ausbruch der Corona-Krise in Italien gestrichen. Besuche waren auch im Irak, auf Zypern, in Indonesien und Montenegro in Planung. Entsprechende Einladungen der jeweiligen Regierungen lagen bereits vor.
Zudem hatte Franziskus sein Interesse bekundet, den mehrheitlich christlichen Südsudan zu besuchen, einen der jüngsten Staaten, der 2011 durch Loslösung vom mehrheitlich muslimischen Sudan entstanden ist. Dort wollte er durch seine persönliche Anwesenheit die Anstrengungen für ein wirkliches Ende des Bürgerkriegs unterstützen.
Laut Vatikansprecher Bruni werde keine dieser Reisen in näherer Zukunft stattfinden. Seine letzte Auslandsreise hatte Franziskus im November 2019 nach Thailand und Japan geführt.
Erstmals seit 1978 wird ein Papst mehr als zwölf Monate hintereinander keine Pastoralbesuche außerhalb Italiens durchführen. Seine letzte Auslandsreise absolvierte Paul VI. 1970. Zur bisher längsten Unterbrechung von 361 Tagen war Johannes Paul II. durch das Attentat gezwungen, das am 13. Mai 1981 von dem türkischen Terroristen Ali Agca auf ihn verübt wurde.
Zwischen 1814 und 1967 unternahm kein Papst eine Auslandsreise, wenn man von wenigen Reisen in andere italienische Staaten außerhalb der Kirchenstaaten absieht. Das hatte seinen Grund: Erst am 24. Mai 1814 konnte Pius VII. (1800–1823) nach Rom zurückkehren, nachdem ihn Napoleon im Juli 1809 verhaften und verschleppen hatte lassen. Bereits sein Vorgänger Pius VI. (1775–1799) war von Revolutionstruppen gefangengenommen worden und sogar in französischer Festungshaft gestorben.
Benedikt XVI. verläßt erstmals den Vatikan
Just am selben 18. Juni, als der Heilige Stuhl bekanntgab, daß der regierende Papst sich durch das Coronavirus zum „Gefangenen im Vatikan“ macht, verließ sein Vorgänger Benedikt XVI. erstmals seit 2013 den Kirchenstaat und kehrte in seine Heimat Bayern zurück.
Als „Gefangener im Vatikan“ wurde der Papst in der Zeit zwischen 1870 und 1929 bezeichnet. 1870 hatte das wenige Jahre zuvor ausgerufene Königreich Italien den Kirchenstaat militärisch erobert und annektiert. Das Königreich wurde damals durch radikale kirchenfeindliche Kräfte regiert. Das Verhältnis änderte sich erst durch die Machtübernahme des Faschismus, der einen Ausgleich mit der Kirche suchte und 1929 mit den Lateranverträgen erreichte.
Benedikt XVI. hatte nach seiner überraschenden Abdankung am 28. Februar 2013 den Vatikan verlassen und sich während der Zeit der Sedisvakanz und des Konklaves nach Castel Gandolfo zurückgezogen. Am 2. Mai desselben Jahres, inzwischen war Papst Franziskus gewählt und in sein Amt eingeführt worden, kehrte er nach Rom zurück. Dort bezog er das Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten, das er seither nicht mehr verlassen hatte.
Vor zwei Tagen reiste er überraschend nach Regensburg, um seinen älteren Bruder Georg zu besuchen, dessen Gesundheitszustand sich verschlechtert hatte. Dort wird er „die notwendige Zeit“ bleiben, wie Vatikansprecher Bruni mitteilte. Begleitet wurde er von seinem Sekretär, Kurienerzbischof Georg Gänswein, dem Vizekommandanten der vatikanischen Gendarmerie sowie weiteren Mitarbeitern und Personen, die sich um seine Gesundheit kümmern.
Msgr. Georg Ratzinger wurde am vergangenen 15. Januar 96 Jahre alt. Er ist ans Bett gefesselt und fast erblindet. Die beiden Brüder stehen sich sehr nahe. Am 29. Juni 1951 wurden sie gemeinsam im Freisinger Dom zu Priestern geweiht. Die argentinische Journalistin Elisabetta Piqué, die seit vielen Jahren mit Papst Franziskus befreundet ist, schrieb in der Tageszeitung La Nación, daß Franziskus seinen Vorgänger vor dessen „unvorhergesehener Reise in seine Heimat“ aufsuchte, um ihn zu grüßen.
Die Deutsche Bischofskonferenz betonte in einer Presseerklärung nach der Ankunft von Benedikt XVI. in Regensburg, daß es sich um einen „Privatbesuch“ handle, und ersuchte die Öffentlichkeit und vor allem die Presse, das maximal „zu respektieren“. Gleiches geschieht durch das Bistum Regensburg. Die Kirchenführung weiß, daß viele gläubige Katholiken Benedikt XVI. nach wie vor in besonderer Weise verbunden sind und nicht wenige in ihm den „wahren“ Papst sehen, manche sogar den „legitimen“ Papst.
Die Vatikanische Stiftung Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. sieht das mit der Abschottung nicht so eng und veröffentlichte auf Facebook ein Foto der Ankunft in Regensburg. Darauf folgte eine Polemik in deutschen Medien, die sich darüber empörten. Vatikanische Medien hatten das Bild zunächst übernommen, dann aber zurückgezogen.
Gestern konnten die zwei Brüder gemeinsam das Herz-Jesu-Fest feiern. Die Herz-Jesu-Verehrung ist beiden sehr kostbar.
Reise ohne Rückkehr?
Die Bild-Zeitung verstärkte gestern das Gerücht, Benedikt XVI. sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, um nicht mehr in den Vatikan zurückzukehren. Der Vatikan bemühte sich darauf um Beruhigung und erklärte, man erwarte seine Rückkehr in den Vatikan „in wenigen Tagen“. Zumindest wird das in Rom so gehofft.
Die italienische Presseagentur ANSA meinte, daß es sich bei diesem Gerücht um „einen Wunsch“ deutscher Medien unter Berufung auf „katholische Kreise“ in Regensburg handeln könnte. In Bayern habe man mit großer Zuneigung auch nach dem Amtsverzicht dem ehemaligen Papst nahegestanden. Die „meisten Besucher“ in Mater Ecclesiae, so ANSA, seien aus Bayern und dem angrenzenden Raum gekommen.
Personen, die Benedikt XVI. nahestehen, dem achten deutschen und zweiten bayerischen Papst in der Kirchengeschichte, versichern, daß es sein Wunsch war, dem kranken Bruder einen letzten Besuch abzustatten. Das sei ihm 1991 vor dem Tod seiner Schwester Maria, damals war er Kardinalpräfekt der römischen Glaubenskongregation, nicht gelungen, was ihn sehr geschmerzt habe.
Die unerwartete Ankunft von Benedikt XVI. in Bayern nährt noch weitere Gerüchte. Es wird eine Stelle in den Aufzeichnungen der seligen Anna Katharina Emmerich verbreitet. Die Augustiner-Chorfrau aus dem Münsterland lebte 1773–1824 und wurde als stigmatisierte Mystikerin bekannt. Ihre Visionen wurden 1819–1824 von Clemens Brentano aufgezeichnet.
Laut diesen schaute sie am 10. August 1820, also vor bald 200 Jahren:
„Ich sehe den Heiligen Vater in großer Bedrängnis. Er bewohnt einen anderen Palast und läßt nur wenige Vertraute vor sich. Würde die schlechte Partei ihre große Stärke kennen, sie wäre schon losgebrochen. Ich fürchte, der Heilige Vater wird vor seinem Ende noch große Drangsale leiden müssen. Die schwarze Afterkirche sehe ich im Wachsen und in üblem Einfluß auf die Gesinnung. Die Not des Heiligen Vaters und der Kirche ist wirklich so groß, daß man Tag und Nacht zu Gott flehen muß. Es ist mir viel zu beten aufgetragen für die Kirche und den Papst…“
Und am 1. Oktober 1820:
„Die Kirche ist in großer Gefahr. Wir müssen beten, daß der Papst Rom nicht verläßt; unzählige Übel würden entstehen, wenn er es täte.“
Auf diese letzte Aussage wird angespielt. „Der Papst“ habe am 18. Juni Rom verlassen. Ergänzt werden die Gerüchte, wie sogar von Medien in Chile berichtet wird, daß sich Benedikt XVI. in ein Kloster in Bayern zurückziehen könnte.
Das Auftreten der Emmerich-Zitate und der Gerüchte unterstreicht, wie sehr ein Teil der katholischen Welt unter der derzeitigen Lage der Kirche leidet.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/Wikicommons (Screenshot)