(Rom) Die italienische Tageszeitung Libero widmete am 11. Juni in ihrer Beilage LiberoPensiero (Freie Gedanken) Benedikt XVI. breiten Raum. Unter der Überschrift „Die Wüste breitet sich aus“ befassen sich zwei Autoren mit jenem Mann, der von 2005 bis 2013 als Papst die Kirche leitete. Beide berühren dabei brisante Themen.
Die Ausbreitung der Wüste
Caterina Mamaci stellt im Artikel „Ratzinger sagte den Selbstmord des Westens voraus“ das soeben erschienene Buch „L’ultimo Papa d’Occidente?“ (Der letzte Papst des Westens?) vor. Dessen Autor, der Journalist Giulio Meotti, war bisher vor allem durch seinen bedingungslosen Zionismus aufgefallen, indem er jede Kritik am Staat Israel, auch wenn er von jüdischer oder kirchlicher Seite kommt, als „Antisemitismus“ darstellt. In seinem jüngsten Buch hält Meotti, „inmitten der zerstörerischen Kraft der Wüste“, in den Schriften und Ansprachen Joseph Ratzingers und Papst Benedikts XVI. Ausschau „nach dem letzten Licht“ (Caterina Mamaci). Mit dem Fragezeichen hinter dem Buchtitel wollten Autor und Verlag offenbar vermeiden, in eine Anti-Franziskus-Ecke gerückt zu werden. Die gestellte Frage bleibt daher offen. Auch eine Bewertung, sollte die Frage mit ja beantwortet werden.
Das Vorwort steuerte der irische Journalist und Lebensschützer John Waters bei. Der ehemalige Lebensgefährte der Sängerin Sinéad O’Connor, mit der er eine Tochter hat, bezeichnet Benedikt XVI. als „Solschenizyn des 21. Jahrhunderts“. Als Priester, Theologe, Bischof und schließlich als Papst habe er erkannt, daß das Christentum in den vergangenen 400 Jahren ein einziges Rückzugsgefecht führte. Der Grund dafür, so Waters, den Joseph Ratzinger ausfindig machte, sei der zunehmende „Rückzug von der Wahrheit“.
Meotti sucht im Wirken des jüngsten deutschen Papstes nach Ankern, die in immer unruhiger werdenden Zeit festen Boden sichern. Anhand der ausgewählten Texte zeigt Meotti auf, daß Benedikt XVI. den Abschied Europas von der Katholizität voraussagte, ebenso den Relativismus und den Neomarxismus in der Kirche.
Joseph Ratzinger habe früher und deutlicher als andere erkannt, was sich in der Kirche und insgesamt in der Geschichte des Westens abzeichnete. Er sagte es auch, wenngleich auf seine leise, fast schüchterne Art und Weise. Gehört wurde er kaum. Nicht wegen seiner leisen Töne, sondern weil man ihn nicht hören wollte. Benedikt XVI. hatte frühzeitig verstanden, daß der Niedergang Europas und seiner Kultur einerseits und der Niedergang des Christentums andererseits die beiden Seiten ein und derselben Medaille sind.
Er habe sich auch nicht gescheut, diesem Niedergang einen Namen zu geben und vor seinen Folgen zu warnen: Sein Name ist Relativismus und sein Weg führt in die Diktatur. Benedikt XVI. sprach von der „Diktatur des Relativismus“, eine „prophetische“ Wortwahl, so die Rezensentin, um die sein Nachfolger Papst Franziskus – was hinzuzufügen ist – einen großen Bogen macht. Dieses Verhalten des regierenden Papstes verdeutlicht vielleicht mehr als alles andere die Brisanz der Formulierung des deutschen Papstes, und daß er damit ins Schwarze getroffen hatte.
Zu den „prophetischen“ Worten zählt Meotti die Rundfunkansprache, die der Theologe Joseph Ratzinger zu Weihnachten 1969 hielt, in der er einen Kollaps der katholischen Welt vorhersagte. Seine Kritik galt einer Kirche, die einem Aktionismus frönt und Priester vor allem als Sozialarbeiter sehe. Solche Priester aber, so Ratzinger, könnten vielleicht noch besser durch Psychotherapeuten ersetzt werden. Für ihn stehe fest, so der nachmalige Papst vor bald 51 Jahren, daß sich für die Kirche sehr schwierige Zeiten zusammenbrauten. Ihre Krise habe gerade erst begonnen, und es seien starke Erdbeben zu erwarten.
Ratzinger ging es aber nicht um die bloße Beschreibung des von ihm erkannten Ist-Zustandes. Wichtiger war für ihn, feinfühlig und hellhörig zu warnen, um frühzeitig Schaden abwenden zu können, und am wichtigsten war und ist für ihn, die Heilmittel aufzuzeigen. Nicht das Klagelied, das bedauernde Besingen des Niedergangs war sein Antrieb, sondern der suchende Blick für den möglichen Wiederaufstieg.
Meotti vergleicht den derzeitigen Niedergang, dessen Zeuge und Mahner Benedikt XVI. ist, mit dem Untergang des Römischen Reiches, als der heilige Benedikt von Nursia, inmitten der Ruinen, seine Klöster errichtete, die er wie Anker in das Meer der damaligen Wüste versenkte und damit die Grundlagen für eine neue Welt schuf: für das christliche Abendland. Man möchte hinzufügen, daß der christliche Begriff des Abendlandes nicht von ungefähr durch den „modernen“ Begriff des Westens ersetzt wurde. Dem Wort nach besagt es zwar das gleiche, meint aber nicht dasselbe. Die Idee des christlichen Abendlandes ist nicht die des „Westens“. So wie es kein Zufall ist, worauf der Autor hinweist, daß Joseph Ratzinger sich den Papstnamen Benedikt zulegte, so ist es kein Zufall, könnte man hinzufügen, daß der Niedergang der Zivilisation mit dem Begriffswechsel vom Abendland zum Westen einhergeht. Wer schon über einige Jahre an Lebenserfahrung verfügt, erinnert sich an die Verächtlichmachung des Begriffs Abendland, der damit verbunden war und letztlich den christlichen Glauben meinte.
Meotti enthält sich jedes apokalyptischen Katastrophismus. Es werden andere Päpste kommen, so der Autor, allerdings könne es sein, daß sie „post-europäisch“ und „post-westlich“ sein werden, weil Europa, das noch einen Joseph Ratzinger hervorbrachte, „im Sterben liegt“.
Zwei Päpste – zwei Kirchen?
Der zweite Artikel stammt von Andrea Cionci. Er hat nicht dieselbe Spannweite, ist dafür aber provokanter. Die Aussage wird im Titel vorweggenommen: „Der absichtlich schlecht verfaßte Rücktritt“. Cionci greift Thesen des US-amerikanischen Franziskanerseremiten Alexis Bugnolo auf. Auf Bruder Bugnolo gehen mehrere Gründungen zurück, darunter The Franciscan Archive, ein Ritterorden namens Ordo Militaris Catholicus, den er nach der rituellen Hinrichtung des katholischen Priesters Jacques Hamel im Juli 2016 durch Anhänger der Dschihad-Miliz Islamischer Staat (IS) gründete, und seit Herbst 2013 der englischsprachige Informationsdienst From Rome. Der Kirchenrechtler Bugnolo vertritt die These, daß Benedikt XVI. nach wie vor der rechtmäßige Papst ist. Heute veröffentlichte er auf der Internetseite From Rome eine „authentische Übersetzung“ der Declaratio, mit der Papst Benedikt XVI. am Rosenmontag 2013 seinen Amtsverzicht bekanntgab.
Bugnolo und Emiliano Palopoli schreiben dazu:
„Diese italienische Übersetzung wurde angefertigt, um den authentischen Sinn der Erklärung nach den Regeln des Lateinischen und nicht nach dem vom Vatikan unterstützten Narrativ zur Rechtfertigung des Konklaves 2013 aufzuzeigen.
Es gibt viele Anomalien, die deutlich die Ungültigkeit der Handlung zeigen, sowie Anzeichen dafür, daß der Verzicht von Kardinälen erzwungen wurde, die bereits mit Papst Benedikt XVI. im Schisma waren.“
Auch der Libero-Artikel vom 11. Juni bezieht sich auf diese These. Bugnolo zeigt sich darin überzeugt, daß Benedikt XVI. seinen Amtsverzicht absichtlich so formuliert habe, daß früher oder später dessen Ungültigkeit sichtbar werden müsse. Eine sehr gewagte Theorie, die Bugnolo selbst als „hochexplosiv“ bezeichnet.
Laut dem Franziskaner, dessen Familie mit italienischen Wurzeln aus New York stammt, und der sowohl die Staatsbürgerschaft der USA als auch Italiens besitzt, sei Benedikt XVI. zum Rücktritt gezwungen worden. Er habe die päpstliche Amtsgewalt der „Mafia von Sankt Gallen“ überlassen müssen. Diesem Zwang habe sich Benedikt deshalb gebeugt, weil diese innerkirchliche „Freimaurerlobby“, so Bugnolo, sich dadurch enttarnen und aus der Deckung hervortreten würde. Benedikt XVI. habe seinen Amtsverzicht aber so formuliert, daß er faktisch ungültig sei. Dadurch könne die „falsche Kirche“ Bergoglios zu gegebener Zeit weggefegt werden.
Auf diese menschlich verständliche, sachlich aber schwer nachvollziehbare und noch weit schwieriger durchsetzbare These soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.
Tatsache ist, daß bereits im Frühjahr 2013 namhafte Latinisten wie Wilfried Stroh und Luciano Canfora darauf aufmerksam machten, daß die Declaratio schwere Grammatikfehler enthält. Bugnolo sagt, weitere 40 sprachliche Ungenauigkeiten festgestellt zu haben. Zu viele für einen so guten Lateinkenner wie Benedikt XVI., erst recht zu viele für einen Text, von dem Benedikt wußte, daß er Weltgeschichte schreiben würde.
Entscheidend, so der Franziskaner, seien aber weniger diese sprachlichen Gebrechen, sondern der Aufbau des Textes. Johannes Paul II. hatte 1983 das Kirchenrecht geändert, um einen Amtsverzicht rechtlich einwandfrei abzusichern. Er schrieb dabei den ausdrücklichen Verzicht auf das petrinische Munus vor, womit das Amt des Papstes gemeint ist. das sich vom Ministerium, der Ausübung der Amtsgewalt, dem Dienst, unterscheidet. Bugnolo vertritt die Ansicht, daß Benedikt XVI. in seiner Declaratio zwar zunächst das Munus erwähnt, allerdings nur sehr allgemein, dann aber ausdrücklich nur auf das Ministerium verzichtet, was für die Gültigkeit des Schrittes völlig irrelevant sei.
Der Vatikan habe die Erklärung Benedikts XVI. „absichtlich verfälscht“, indem in den volkssprachlichen Übersetzungen auch der Begriff „Munus“ (Amt) mit „Ministerium“ (Dienst) wiedergegeben wurde. Bugnolo beharrt darauf, daß in keiner vom Vatikan veröffentlichen Übersetzung die von Benedikt XVI. vorgenommene Unterscheidung zu finden ist, die er auch später wiederholte, so in seinem jüngsten Gesprächsbuch „Benedikt XVI. Ein Leben“ (2016).
Der Widerspruch fiel auch anderen auf. Im Sommer desselben Jahres nahm Msgr. Giuseppe Sciacca, der Sekretär der Apostolischen Signatur, in einem auführlichen Interview dazu Stellung. Kurienbischof Sciacca ist Benedikt XVI. freundschaftlich verbunden, woran auch der Amtsverzicht nichts änderte. Das Interview wurde von interessierter Seite geführt, von Andrea Tornielli, dem Haus- und Hofvatikanisten von Papst Franziskus. Anlaß dafür war der damals von Kurienerzbischof Georg Gänswein unternommene Versuch, eine Art von Doppel-Pontifikat zu begründen, was in Santa Marta gar nicht gut aufgenommen wurde. Durch eine befreundete Stimme wie Msgr. Sciacca wollte das päpstliche Umfeld den Vorstoß gleich wieder zum Erliegen bringen. In der Tat übte der Kirchenrechtler vernichtende Kritik, die vor allem dem Titel eines „emeritierten Papstes“ galt, den sich Benedikt XVI. selbst zugelegt hatte. Sciacca bestritt zudem, daß beim Papst zwischen Munus und Ministerium unterschieden werden könne. Allerdings äußerte er auch grundsätzliche Zweifel daran, ob ein Papst überhaupt zurücktreten könne.
Auf den konkreten Fall bezogen, führte Sciacca aus, daß der Verzicht auf das Ministerium (Dienst) automatisch auch den Verzicht auf das Munus (Amt) bedeute. Dem widersprach Br. Bugnolo in der Tageszeitung Libero:
„Das stimmt nicht, weil Benedikt auch einen Vikar ernennen hätte können, der das Ministerium ausübt, während er sein Amt, das Munus, das auch aus theologischen Gründen essentiell ist, beibehält.“
Bugnolo verweist zudem auf den Umstand, daß in den 18 Tagen, die von der Bekanntgabe der Declaratio bis zum Beginn der Sedisvakanz vergingen, niemand den fehlerhaften Text korrigierte, obwohl das die Aufgabe der Kardinäle wäre.
Zumindest mit einer Annahme, dem Grund dafür, dürfte der Franziskaner allemal richtig liegen:
„Das beweist, daß die Kardinäle so geblendet waren von der Eile, die Macht zu ergreifen, oder daß einige ‚Komplizen‘ Benedikts waren und geschwiegen haben. In beiden Fällen fand eine Usurpation statt.“
Libero schließt den Artikel mit den Worten:
„Kurzum: Gerade zum Rücktritt von Benedikt XVI. könnte der Konflikt zwischen den ‚beiden Kirchen‘ neu ausbrechen.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Libero/LiberiLibri/Crusade Channel (Screenshots)