
(Rom) Am 29. April 2020 verstarb in Rom nach kurzer Krankheit der 80. Fürst und Großmeister des Souveränen Malteserordens, Fra Giacomo Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto. Am 5. Mai fand ein Corona-Begräbnis statt. Die derzeitige Ordensregierung unter Großkanzler Albrecht Freiherr von Boeselager muß durch die Wahl eines neuen Großmeisters erneut um ihren Einfluß bangen. Im ältesten Ritterorden der Kirche sind deshalb Manöver im Gange, um den drohenden Machtverlust zu verhindern.
Die Bestattung des 80. Großmeisters hatte etwas von der Glanzlosigkeit seiner Amtszeit. „Sie wird nicht durch Feierlichkeit aus der Ordenschronik herausragen“, so der Vatikanist Marco Tosatti. Die staatlich verordneten und kirchlich verhängten Maßnahmen ließen zu der Zeit in Rom nicht mehr Spielraum.
Kaum begraben, setzten im Orden Manöver ein für die Nachfolge. Seit einigen Jahren ist ordensintern ein Machtkampf zwischen zwei Gruppen im Gange, die nach der Herkunft ihrer führenden Vertreter als „britische“ und als „deutsche Richtung“ bezeichnet werden. Die „Briten“ hatten zuletzt zwei Großmeister gestellt, während die „Deutschen“ mit Albrecht Freiherr von Boeselager als Großkanzler sich in die Ordensregierung (Souveräner Rat) vorgearbeitet und diesen übernommen hatten. 2016/2017 war es zum offenen Konflikt zwischen dem 79. Großmeister, dem Briten Fra Matthew Festing, und dem deutschen Großkanzler, Albrecht von Boeselager, gekommen. Der Deutsche konnte ihn mit Hilfe des vatikanischen Staatssekretariats und von Papst Franziskus für sich entscheiden, allerdings auf eine für den Orden erschütternde Art und Weise. Obwohl in der Sache der Großmeister im Recht war, zwang Papst Franziskus den Großmeister zum Rücktritt. Der Vorgang war in mehrerlei Hinsicht für den Orden traumatisch, da ein Großmeister wie ein Papst auf Lebenszeit gewählt ist.

Der Papst ordnete zudem damals an, obwohl rechtlich dazu nicht befugt, daß Boeselager wieder als Großkanzler einzusetzen war und alle Entscheidungen seit seiner Absetzung Anfang Dezember 2016 bis Ende 2017 null und nichtig waren. Der unglaubliche Eingriff ließ den Souveränen Malteserorden wenig souverän aussehen. Seither gilt Boeselager zwar nicht formal, aber faktisch als der mächtige Mann im Orden. Seine Position, und die der von ihm vertretenen Richtung, kann nur durch den Großmeister gefährdet werden, wenn dieser seine Vollmachten als souveräner Fürst ausübt. Die Wahl des neuen Großmeisters birgt aber einige Unwägbarkeiten.
Das hat zunächst vor allem mit dem sehr kleinen Kreis von Ordensrittern zu tun, die zu Großmeistern gewählt werden können. Der Orden zählt weltweit mehr als 13.500 Ritter und Damen, die sich seit alters in drei Stände gliedern. Wählbar sind aber nur Angehörige des Ersten Standes, die sogenannten Profeßritter, die Gelübde der evangelischen Räte ablegen und sich zu Keuschheit, Armut und Gehorsam verpflichten. Sie sind mit den Angehörigen eines religiösen Ordens zu vergleichen. Die Angehörigen des Zweiten und des Dritten Standes hingegen sind Laien, die zwar Ämter in der Ordensregierung ausüben, aber nicht die höchsten Ämter des Ordens bekleiden können, der als internationales Völkerrechtssubjekt den Status eines souveränen Staates genießt, eigene Münzen prägen, Briefmarken herausgeben und Diplomatenpässe ausstellen kann. Doch nicht einmal alle Profeßritter sind wählbar, sondern nur jene, die ein bestimmtes Alter haben, seit einer Mindestzeit dem Orden angehören und deren Großeltern zu allen vier Teilen dem Adel entstammen. Der Kreis der „Papabili“ ist daher sehr klein, was die Wahl für manche im Orden offenbar als „gefährlich“ erscheinen läßt, weil sie die Einflußnahme erschwert.
Mit einiger Mühe und nur mit Hilfe des vatikanischen Staatssekretariats war es der „deutschen Richtung“ im Frühjahr 2017 gelungen, den Profeßritter Fra Giacomo aus dem Geschlecht der Grafen Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto zum interimistischen Statthalter und 2018 zum 80. Großmeister zu küren. Sein plötzlicher Tod wirft die mühsam erreichte Ruhe wieder durcheinander. Boeselagers Richtung riskiert viel, sollte der „falsche“ Profeßritter zum 81. Großmeister gewählt werden. Theoretisch wäre sogar die Wiederwahl des von Franziskus zum Rücktritt gezwungenen 79. Großmeisters Fra Matthew Festing möglich.

6. Mai: Die Verlängerung bis irgendwann
Am 6. Mai, nur einen Tag nach dem Begräbnis des 80. Großmeisters, erging ein Schreiben an Amtsträger des Ordens von Großkomtur Fra Ruy Gonçalo do Valle Peixoto de Villas Boas. Der Großkomtur nimmt in der Zeit der Sedisvakanz im Orden die Position des Kardinalstaatssekretärs in der Kirche ein. Er wird automatisch interimistischer Statthalter, allerdings mit sehr begrenzter Amtszeit. Als solcher verfügt er über keine eigentlichen Leitungsbefugnisse, hat aber Sorge zu tragen, daß die Interessen des Ordens gewahrt werden können und die Wahl des neuen Großmeisters ordnungsgemäß einberufen werden und stattfinden kann. Doch genau das erweist sich als problematisch, und das Problem dabei scheint der Großkomtur selbst zu sein.
Der 80 Jahre alte Portugiese befindet sich in seiner Heimat und nahm wegen des Coronavirus nicht an dem Begräbnis des Großmeisters teil. Das Schreiben erging jedoch von Rom aus an die Mitglieder des Großen Staatsrats, der den Großmeister wählt, und die Vorsitzenden der nationalen Ordensvereinigungen. Vergessen wurden einige hohe Würdenträger, vor allem Profeßritter. Das erstaunt insgesamt, aber auch speziell, da der Großkomtur im Orden für die Profeßritter zuständig ist und die Zukunft des Ordens den Ersten Stand noch mehr betrifft als die anderen Stände.
In dem Schreiben teilte der Großkomtur in seiner Funktion als interimistischer Statthalter nicht etwa die Einberufung des Wahlkapitels zur Wahl des 81. Großmeisters mit, sondern das genaue Gegenteil. Zunächst versicherte er, daß für den verstorbenen Großmeister nach dem Ende der Corona-Maßnahmen ein feierliches Requiem zelebriert werde. Einen Staatsakt, wie er dem Rang eines Großmeisters gebührt, erwähnte er nicht.
Dann kam der Großkomtur auf das zu sprechen, was als eigentlicher Grund seines Schreibens zu erkennen ist. In einer seiner schriftlichen Hinterlassenschaften, „verbal legacies“, wie es in der englischen Fassung des Briefes heißt, habe Großmeister Dalla Torre „sein tiefes Bedauern“ zum Ausdruck gebracht, „nicht imstande gewesen zu sein, seinem Versprechen nachzukommen, das er dem Heiligen Vater gegeben hatte, die Reform des Ordens zu vollenden“.
Es folgt ein Bekenntnis des Großkomturs, genau diesem Beispiel und dieser Verpflichtung folgen und diesen Weg fortsetzen zu wollen. Wörtlich schrieb er:
„Viel Arbeit wurde bereits getan. Wir müssen die Ordensreform vorwärtsbringen. Ich hoffe, daß wir imstande sein werden, über die Reform unserer Verfassung und des Kodex noch in diesem Jahr beim außerordentlichen Generalkapitel zu entscheiden.“

Wegen der Corona-Pandemie sei es „nicht möglich“, das Wahlkapitel zur Wahl des neuen Fürsten und Großmeisters innerhalb der in der Ordensverfassung vorgesehenen drei Monate einzuberufen. Vielmehr gibt der Großkomtur zu verstehen, daß das Wahlkapitel erst nach dem außerordentlichen Generalkapitel vom November stattfinden werde können, voraussichtlich erst im Frühjahr 2021.
Dabei bleibt völlig unklar, weshalb das außerordentliche Generalkapitel mit mehr Teilnehmern trotz Coronavirus stattfinden kann, das Wahlkapitel aber wegen Corona auf 2021 verschoben werden muß. Für das außerordentliche Generalkapitel schreibt die Ordensverfassung keine Einhaltung bestimmter Fristen vor, sehr wohl aber für die Abhaltung des Wahlkapitels. Das Wahlkapitel ist vom Großkomtur in seiner Funktion als interimistischer Statthalter frühestens drei Wochen, spätestens aber drei Monate nach dem Tod des Großmeisters abzuhalten. Erfolgt keine Einigung auf einen Nachfolger des Großmeisters, kann vom Wahlkapitel (Großer Staatsrat) für die Dauer eines Jahres ein ordentlicher Statthalter gewählt werden, wie es 2017 geschehen ist. Er löst den interimistischen Statthalter ab und verfügt über mehr Zuständigkeiten.
Im Schreiben des Großkomturs kommt es dann aber noch heftiger. Der Souveräne Rat (die Ordensregierung unter der Führung von Großkanzler von Boeselager) habe einhellig zugestimmt, daß der interimistische Statthalter, also der schreibende Fra Ruy Gonçalo do Valle Peixoto de Villas Boas selbst, entsprechend länger im Amt bleiben solle. Er solle bis zur Wahl des neuen Großmeisters, für dessen Wahl es aber noch nicht einmal einen Termin gibt, obwohl do Valle Peixoto de Villas Boas ihn festlegen könnte und festzulegen hätte, als interimistischer Statthalter im Alt bleiben.
Dieser Weg ist von der Ordensverfassung aber nicht vorgesehen, denn er bedeutet, daß die klaren Fristen zur Großmeisterwahl mißachtet werden und ein Status quo ohne Billigung durch die rechtmäßigen Ordensorgane prolongiert wird. Das Coronavirus, das in Europa längst nicht mehr den Status einer Epidemie hat, muß dazu als Vorwand herhalten.
Doch warum dieser Rechtsbruch?
Dafür gibt es derzeit nur zwei mögliche Gründe. Die Ordensregierung um Boeselager verfügt noch über keinen geeigneten, ihr nahestehenden Kandidaten, der Aussicht auf Erfolg hat. Und offensichtlich soll die Reform des Ordens noch vor der Wahl des neuen Großmeisters durchgezogen werden.
Was hat es aber mit dieser Ordensreform auf sich?
Bekannt ist, daß die „deutsche Gruppe“ um Boeselager, hauptsächlich im Zweiten und Dritten Stand beheimatet, unzufrieden damit ist, daß nur der Erste Stand die höchsten Ämter und damit die Letztgewalt im Orden ausüben kann. Boeselager selbst ist allein schon deshalb von der Wahl zum Großmeister ausgeschlossen, weil er dem Zweiten Stand angehört.
Bevor Boeselager Großkanzler wurde, hatte er in der Ordensregierung das Amt des Großhospitaliers inne und war damit für das internationale Hilfswerk des Ordens, Malteser International, zuständig. Dabei kam es zur engen Zusammenarbeit mit der UNO. Kritiker werfen seiner Richtung vor, den Malteserorden zu einer humanitären NGO umbauen zu wollen, zu einer ganz besonderen, denn der Orden hat durch seinen völkerrechtlichen Status Instrumente zur Verfügung, die ihm einen Alleinstellungscharakter verleihen.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Orden und der UNO war nicht zuletzt Grund für den Bruch zwischen Großmeister Festing und dem Großkanzler. Malteser International hatte sich im Widerspruch zur kirchlichen Morallehre an mehreren UNO-Kampagnen zur Verteilung von Verhütungsmitteln beteiligt. Als der Großmeister dahinterkam, verlangte er von Boeselager Rechenschaft. Am Ende des Streites, Anfang Dezember 2016, setzte er ihn ab. Der gefeuerte Boeselager aktivierte seine Kontakte zum vatikanischen Staatssekretariat und es begann eine beispiellose Einmischung in die Anliegen eines anderen Staates, denn im Konflikt ging es nicht um religiöse Aspekte, sondern Fragen der Staatsregierung. Der Vatikan kehrte die moralischen Streitpunkte kurzerhand unter den Tisch, stellte Boeselager einen Persilschein aus und Papst Franziskus forderte von Großmeister Festing die Wiedereinsetzung Boeselagers als Großkanzler. Als sich Festing weigerte, verlangte Franziskus seinen Rücktritt. Eine Forderung des Papstes, der sich der Großmeister nicht entziehen konnte.

Das Schreiben des Großkomturs vom 6. Mai zeige, so der Vatikanist Marco Tosatti, daß die Ordensregierung Zeit gewinnen und die von ihr angestrebte Reform der Ordensverfassung durchziehen will. Tosatti deutet zugleich Zweifel an, ob das Schreiben überhaupt vom Großkomtur stammt („Es ist zu hoffen, daß ihm zumindest ein Entwurf vorgelegt wurde“).
Tosatti spricht von einer „Phantomreform“ des Ordens, von der zwar ständig die Rede sei, von der aber selbst Angehörige des Ersten Standes nichts Näheres wissen noch einen konkreten Entwurf kennen. Ist das ein Grund, weshalb das Schreiben nur an ausgewählte Ordensvertreter ging?
Der Großkomtur vermittelt darin den Eindruck, als sei die „Phantomreform“ ein Legatum mortis causa (Vermächtnis) des verstorbenen Großmeisters. Sie wird zu einer „moralischen Pflicht“ zu seinem Gedenken erklärt, was eine ziemlich massive Beeinflussung und Lenkung des Ordens in eine bestimmte Richtung ist. Und darum scheint es ja auch zu gehen.
Eine solche Willensbekundung stehe im Kontrast zu den ersten Pflichten eines Souveräns, der nicht seinen Willen durchzusetzen, sondern seine Pflichten zu erfüllen habe, so Tosatti. Das gelte im konkreten Fall um so mehr, weil es zur Reform im Orden keinen Konsens gibt.
Die Sache ist noch schwerwiegender. Es fehlt nicht an weiteren Ungereimtheiten. Die Einberufung eines außerordentlichen Generalkapitels zur Ordensreform erfolgte just am Tag, an dem Großmeister Dalla Torre ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er am nächsten Tag gestorben ist. Ende Januar war eine Erkrankung diagnostiziert worden, derentwegen der Großmeister seither in Behandlung war. Am 28. April verschlechterte sich sein Gesundheitszustand aber abrupt. In einem Begleitschreiben zur Einberufung, das von Großkanzler Boeselager stammt, teilte dieser mit, den Entwurf für die Reform der Ordensverfassung und des Kodex dem Heiligen Stuhl zur Begutachtung übermittelt zu haben.
Welcher Entwurf?
„Kein Angehöriger des Ersten Standes hat bisher den Reformentwurf zu Gesicht bekommen“, so Tosatti.
Ist es denkbar, daß der verstorbene Großmeister den Orden „moralisch“ auf etwas verpflichten wollte, was ordensintern nicht einmal bekannt ist? Kein Wunder, daß Zweifel bestehen, ob da nicht mit dem tatsächlichen oder vermeintlichen „Willen“ des verstorbenen 80. Großmeisters etwas gespielt wird.
Dunkle Schatten liegen bereits auf dem Rücktritt des 79. Großmeisters. Sie haben die Wahl des 80. Großmeisters überschattet, und nun scheinen die derzeitigen Ordensregisseure, allen voran Großkanzler Boeselager, es zu schaffen, daß auch die Wahl des 81. Großmeisters davon getrübt wird.
In der englischen Fassung des Großkomtur-Schreibens lautet der entscheidende Satz: „We will use this time to actively finalize the texts for the reform”. Während ordensintern gegenüber einem Teil der Verantwortungsträger der Eindruck erweckt wird, die Frage sei noch offen, während ein anderer Teil erst gar nicht informiert wird, scheint die Boeselager-Gruppe vollendete Tatsachen schaffen zu wollen. Wie aber kann ein außerordentliches Generalkapitel einberufen werden, wenn es nicht einmal einen konkreten Entwurf gibt? „Kann es sein, daß ein Mann wie Dalla Torre, der allgemein als vorsichtig und klug beschrieben wird, eine so gewagte Unvorsichtigkeit begangen haben könnte?“

Aus den Widersprüchen lesen einige Ordensangehörige zweierlei heraus: Es gibt Kräfte im Orden, die das Generalkapitel zur Ordensreform so schnell als möglich abhalten und die Wahl des neuen Großmeisters so lange als möglich verzögern wollen.
Dafür spricht die auf unbestimmte Zeit verlängerte interimistische Statthalterschaft von Großkomtur Fra Ruy Gonçalo do Valle Peixoto de Villas Boas, die von der Ordensverfassung nicht gedeckt ist. Daran ändert auch nichts, daß der Souveräne Rat dem einstimmig oder einhellig zustimmte. Die Willensbekundung der Ordensregierung reicht nicht aus, um neues Recht zu setzen. So funktioniert ein Staatswesen nicht.
Ob eine päpstliche Dispens, die derzeit nicht vorliegt, ausreicht, um den Rechtsbruch zu sanieren, werden die Juristen zu klären haben. Und noch eine Vorfrage dazu, denn: Welche Einstimmigkeit oder Einhelligkeit wurde vom Souveränen Rat überhaupt erzielt, da nie eine Sitzung dazu stattfand und auch kein entsprechender Beschluß vorliegt. Die einzige Erwähnung findet sich im Schreiben des Großkomturs, der nachweislich nicht in Rom war, da er nicht einmal an der Beerdigung des Großmeisters teilnahm, sondern sich in Portugal aufhält.
Rechtlich gesehen hat der Souveräne Rat in der Frage nur eine beratende, aber keine beschließende Funktion. Kurzum, die ganze Vorgehensweise steht auf tönernen Füßen, als wären hier juristische Hasardeure am Werk. Eine Rechtsordnung ist eine nach Belieben biegbare Knetmasse.
Laut geltender Rechtsordnung des Malteserordens hat das Wahlkapitel zur Wahl des 81. Großmeisters bis Ende Juli zusammenzutreten. Coronavirus hin oder her: Angesichts der nun in schnellem Rhythmus folgenden Lockerungen der von zahlreichen Staatsregierungen verhängten Radikalmaßnahmen ist eine Einberufung für den Sommer im Bereich des Realistischen, aber offenbar nicht gewünscht.
Über den Inhalt der „Phantomreform“ kann in Ermangelung eines Entwurfs nur spekuliert werden. Die Vorgehensweise liefert allerdings starke Indizien, daß der Erste Stand entmachtet werden und die Wahl des nächsten Großmeisters bereits unter ganz anderen Vorzeichen und Möglichkeiten zur Einflußnahme stattfinden soll.
De facto hat sich die eigentlich Macht bereits vom Großmeister auf den Großkanzler verlagert. Großmeister Festing, der sich Boeselager in den Weg stellte, wurde mit Hilfe von Papst Franziskus aus dem Weg geräumt. Großmeister Dalla Torre ließ den Großkanzler gewähren. Kann oder will der 81. Großmeister seine souveränen Vollmachten nicht ausüben, wird das Großmeisteramt auf eine „dekorative Rolle“ eingeschmolzen. Die selektive Auswahl der Adressaten, an die das Schreiben des Großkomturs vom 6. Mai ging, spricht eine klare Sprache. Unter den Würdenträgern, die „vergessen“ wurden, befindet sich auch der 79. Großmeister, Fra Matthew Festing, der als Profeßritter nicht nur zu den Wählern, sondern auch zu den wenigen Wählbaren gehört.

14. Mai: Öffentlicher Tadel für Kritik
Über die Rechtmäßigkeit der Prozeduren hätte der Päpstliche Delegat, Angelo Kardinal Becciu, zu wachen, nachdem der eigentliche Vertreter des Papstes beim Orden, Raymond Kardinal Burke, ein exzellenter Jurist, im Zuge der Entmachtung des 79. Großmeisters auch kaltgestellt wurde. Wer sich von der Predigt von Kardinal Becciu bei der Beisetzung von Großmeister Dalla Torre dazu etwas erwartete, wurde enttäuscht. Der geübte Vatikandiplomat hielt sich zurück.
„Schweigen ist in solchen Fällen Gold, aber die Klingen werden wahrscheinlich schon gewetzt“, schreibt Tosatti.
Am 14. Mail verschickte der Großkomtur, obwohl immer noch in Portugal, über seine Dienststelle in Rom eine Mail an die Profeßritter, in der er Fra James Michael von Stroebel tadelte. Der Vizeregent des Subpriorats Unserer Lieben Frau von Lourdes in den USA hatte seinen Mitbrüdern schriftlich seine Mißbilligung kundgetan, nur indirekt mit dem erwähnten Begleitschreiben erfahren zu haben, daß von Großkanzler Boeselager dem Heiligen Stuhl der Entwurf einer Ordensreform übermittelt wurde, ohne daß die Profeßritter diesen zu Gesicht bekommen haben; und diese wußten auch nichts von der Übermittlung an den Heiligen Stuhl.
Der öffentliche Tadel, den der Großkomtur gegen seinen Mitbruder aussprach, obwohl dieser berechtigte Kritik äußerte, ist ebenso ungewöhnlich. Und das will etwas heißen für einen so traditionsbewußten Orden, der bald sein tausendjähriges Bestehen begehen wird und in dem besonderer Wert auf die Einhaltung von Form und Etikette gelegt wird. Der Großkomtur, „oder wer immer für ihn“, so Tosatti, beharrte in dem Tadel darauf, daß der Entwurf von der Ordensregierung einstimmig genehmigt worden sei, was rechtlich allerdings nichts ändert, da die Ordensregierung nicht die Profeßritter ersetzt. Tosatti vermerkte dazu:
„Wir kennen nicht genau die Absichten der grauen Eminenzen dieser zunehmend verschlungenen Palastintrige, aber es wird immer deutlicher, daß die derzeitige Ordensregierung viele Unsicherheiten zeigt und immer ungeschickter versucht, die verschiedenen Mängel zu stopfen, die das System allmählich immer peinlicher offensichtlich werden läßt.“
23. Mai: Die neue E‑Mail-Adresse
Am 23. Mai erging eine weitere ungewöhnliche Nachricht an alle Profeßritter. Die Sekretärin des Großkomturs, und schon seiner Vorgänger, eine langjährige Mitarbeiterin der Ordensleitung, teilte mit, daß Fra Marco Luzzago, einer der Profeßritter, seine E‑Mail-Adresse geändert habe.
Na und, werden nun manche sagen. Eine solche Mitteilung durch den Großkomtur ist unüblich. Abgesehen davon würde der Betroffene sie direkt seinen Mitbrüdern mitteilen, die Zahl der Profeßritter ist überschaubar. Fra Luzzago verfügt über eine eigene Facebook-Seite, er weiß also mit den technischen Kommunikationsmitteln umzugehen.
Die Mitteilung der Sekretärin erfolgte im Abstand von einer Stunde sogar zweimal. Das führte dazu, daß ordensintern darin manche den Versuch sehen, daß die derzeitige Ordensregierung von Großkanzler Boeselager, die vom überraschenden Tod von Großmeister Dalla Torre auf dem falschen Fuß erwischt wurde, einen „Papabile“ ins Spiel bringen möchte. Fra Marco aus dem Uradelsgeschlecht der Grafen Luzzago, die ihre Herkunft auf die Langobarden zurückführt, gehört zu den wenigen Profeßrittern, die alle Voraussetzungen für die Wahl zum 81. Großmeister erfüllen. Laut Tosatti wurde Fra Luzzago von der Ordensregierung auch über andere Kanäle ins Gespräch gebracht.
Der 70 Jahre alte Fra Marco Luzzago lebt in einer Ordenskommende und hatte noch nie ein Amt in der Ordensleitung inne. Was eigentlich gegen ihn sprechen müßte, scheint ihn für die derzeitige Ordensregierung gerade zu einem geeigneten Kandidaten zu machen: ein Kandidat, der sich absehbar kaum in die Geschäfte einmischen dürfte und sich auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Das will nichts über die Integrität des Genannten sagen, zumal Fra Luzzago allgemein beliebt und geschätzt zu sein scheint.
27. Mai: Zwei neue Arbeitsgruppen
Am 27. Mai wurde im Namen von Großkomtur Ruy Gonçalo do Valle Peixoto de Villas Boas allen Profeßrittern und Kaplänen das außerordentliche Generalkapitel für November bestätigt („valid and stands“). Zugleich wurde „die Hoffnung“ geäußert, bis dahin in der Lage zu sein, die Entwürfe für die Reform von Verfassung und Kodex übermitteln zu können. Kurios: Warum konnten die Entwürfe nicht einfach allen zugeschickt werden, wenn Boeselager sie schon vor dem 28. April dem Heiligen Stuhl übermitteln konnte?
Weshalb diese Widersprüche? Warum diese Geheimnistuerei?
Teil der Mitteilung war auch, daß von Kardinal Becciu in seiner Funktion als Päpstlicher Sonderdelegat für den Orden die Bildung von zwei Arbeitsgruppen angeregt, sprich angeordnet, wurde. Eine Arbeitsgruppe soll sich mit der Reform des Ersten Standes, die andere mit der Reform des Zweiten und Dritten Standes befassen. Bis Monatsende werde der Kardinal die Vertreter des Heiligen Stuhls namhaft machen.
Liegt hier bereits eine Reaktion des Heiligen Stuhls auf die Boeselager-Entwürfe vor? Die Errichtung von Arbeitsgruppen legt das nahe. Will der Vatikan nur zur Einhaltung der Rechtsordnung drängen oder gibt es inhaltliche Vorstellungen? Allerdings ist nichts darüber bekannt, welche Beanstandungen durch Kardinal Becciu vorgebracht wurden, da nicht einmal die Boeselager-Texte bekannt sind.
- Der Großkomtur als interimistischer Statthalter ernannte für die erste Arbeitsgruppe Msgr. Jean Lafitte, Ordensprälat, Msgr. Andrea Ripa, Ordenskaplan und Untersekretär der römischen Kleruskongregation, sowie die beiden Profeßritter Fra Emmanuel Rousseau und Fra John Dunlap, die der derzeitigen Ordensregierung angehören
- Der zweiten Arbeitsgruppe gehören Prof. Francesco Gazzoni von der Staatsadvokatur des Ordens, Prof. Paolo Papanti, Vorsitzender des Gerichts Erster Instanz des Ordens und Richter im Vatikan, und Prof. Giuseppe Dalla Torre, ehemaliger Vorsitzender des Gerichts des Vatikanstaates und Bruder des verstorbenen 80. Großmeisters, an.
Giuseppe Graf Dalla Torre war von 2011 bis 2017 Generalstatthalter (Großmeister) des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Für einige Wochen standen die Brüder Dalla Torre gleichzeitig an der Spitze der beiden großen Ritterorden der Kirche – ein Primat. Giuseppe Dalla Torre ist nicht Angehöriger des Malteserordens, war aber Berater seines Bruders als Großmeister.
Winfried Graf Henckel von Donnersmarck, wie Boeselager Angehöriger des Zweiten Standes und ebenfalls Mitglied der Ordensregierung, wurde vom Großkomtur mit der Koordinierung beider Gruppen beauftragt. Der Großkomtur teilte zugleich mit, daß die Arbeiten erst beginnen, sobald der Heilige Stuhl seine Vertreter ernannt haben wird.
Nichts ändern soll sich nach wie vor an der auf den Kopf gestellten Reihenfolge. Wäre nicht zuerst der Großmeister zu wählen, um dem Orden eine handlungsfähige Regierung zu geben, bevor ordensinterne Reformen angegangen werden?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Ordine di Malta (Screenshots)