
Von Wolfram Schrems*
Der folgende Artikel ist die geringfügig überarbeitete Version eines im Attersee Report, Ausgabe 23, März 2020, unter dem Titel Der Greuel der Verwüstung erschienenen Aufsatzes. Die Aufgabenstellung war ein Beitrag zum Thema Nihilismus aus einer frei zu wählenden Sicht und mit einem Österreich-Bezug. Da der Beitrag etwa Mitte Februar eingereicht wurde, ist das derzeit alles beherrschende Thema Coronavirus, Abschaffung der Sakramentenspendung durch die Kirchenhierarchie und unverhältnismäßige, ja diktatorische Maßnahmen seitens der Politik noch nicht eingearbeitet. Die Veröffentlichung auf dieser Seite fällt ausgerechnet mit der Passionszeit zusammen. Sie ist mit der Aufforderung verknüpft, daß sich die kirchlichen Verantwortungsträger angesprochen und zum Handeln gemäß ihrer Pflicht aufgerufen fühlen mögen.
Die Weiterverwendung des Textes erfolgte mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion des Attersee Reports (Anm. d. Verf.).
Die Verneinung und Vernichtung von Bedeutung, das Leugnen von objektiver Wahrheit und das Bestreiten eines objektiven Sittengesetzes, also das, was gemeinhin eben „Nihilismus“ heißt, ist nicht so sehr reflektierte akademisch-philosophische Haltung, also das, was ihr Protagonist ehrlichsten Herzens für „richtig“ hielte (und sich damit schon widersprechen würde), sondern es ist Mißbrauch der Sprache, Mißbrauch der Macht (nach einem berühmten Traktat des katholischen Philosophen Josef Pieper, der diesem Thema eine Festrede im Juli 1964 an der Freien Universität Berlin gewidmet hatte).
Die lauthals verkündete Nichtigkeit ist eine Strategie von deren Propagandisten, im Trüben zu fischen, Machtwillkür ohne Verantwortung auszuüben und sich Vorteile zu verschaffen. Das ist das Grundmuster der großen Revolutionen gegen das christliche Europa. Dabei wird das Sittengesetz zugunsten vermeintlich höherer Ziele, die selbstverständlich mit den Interessen ihrer Protagonisten koinzidieren, aufgehoben („teleologische Suspension des Ethischen“, nach dem skeptischen Philosophen und scharfzüngigen Kritiker einer politisch verzweckten Geschichtsphilosophie Odo Marquard) – und am Ende sind viele tot.
Diejenige Umsetzung dieses Nihilismus mit den schlimmsten Folgen ereignet sich dort, wo dieser die göttliche Offenbarung im Munde von deren amtlichen Repräsentanten verneint. Das ist die These der folgenden Ausführungen.
Allgegenwart des Destruktiven
Der Nihilismus, im eben skizzierten Sinn verstanden, ist heutzutage allgegenwärtig. Er ist das Lebensgefühl unserer entwurzelten westlichen Gesellschaften. Nichts gilt mehr, nichts ist wahr, nichts verpflichtet. Außer natürlich, was die Vorgaben des „Sagbaren“, des politisch Korrekten, gebieten. Das aber wird mit aller Gewalt zugunsten von dessen Protagonisten erzwungen. Es mag klischeehaft klingen, weil schon allzuoft aufgezeigt, aber genau das ist das Grundmuster des Orwellschen Staates.
Wir befinden uns somit in einer Lage, vor der Sokrates und sein Schüler Platon in der Auseinandersetzung mit den Sophisten gewarnt haben: Die Sophisten seien „Verfertiger fiktiver Realitäten“. Der Sophist Gorgias hatte erklärt: Es gibt nichts. Wenn es etwas gäbe, könnten wir es nicht erkennen. Wenn wir es erkennen könnten, könnten wir nicht darüber reden. Und dennoch war er ein erfolgreicher Redner und Lehrer, hielt es also für gut und richtig und auch möglich, andere auszubilden, damit sie vor Gericht und in der Propaganda „die schwächere Sache zur stärkeren zu machen“ fähig würden. Das trug ihm höchste Honorare und gesellschaftliche Anerkennung ein (obwohl oder weil er offenbar selbst keine politisch-demagogischen Interessen verfolgte)[1].

In der Person des Gorgias begegnet uns ein Typus, der in schillernd-variabler Ausformung geschichtsmächtig wurde:
Zynischer Nihilismus als Instrument der Selbstermächtigung, rabulistische Rhetorik und eine „Sprache ohne Sein“ (Thomas Buchheim[2]) als an keine Wahrheitsforderung gebundene Waffe in Politik, Gerichtssaal und Propaganda, Amalgamierung von schmeichelnd-suggestiver peithó (Überredung) und bedrohlicher bía (Nötigung), sowie eine sich als avantgardistisch gebärdende Dreistigkeit als skrupelloses Erfolgsrezept.
Diese Dynamik blieb nicht auf das Phänomen der antiken Sophisten beschränkt. Hier wird etwas ganz aktuelles verhandelt:
Der Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte und die Apostasie der Hirten
Die nihilistisch-sophistische Tendenz hat revolutionären Charakter. Die Assoziation mit dem allerersten Revolutionär führt uns zum Kern des Nihilismus: Corruptio optimi pessima, das Ärgste geschieht, wenn das Beste verdirbt, wenn sich also dort, wo das Sein in Fülle sein sollte, das Nichts gähnend auftut, wenn der Engel aus eigener Schuld stürzt.
Die Scholastik nennt das Böse privatio entis, den „Mangel“, wörtlich die „Beraubung“, an Sein.
Auf schlimmste Weise ereignet sich diese privatio, wenn die Offenbarung Gottes, des ens realissimum, bekämpft wird. Sie ist tief eingedrungen, wo sie nicht sein dürfte, nämlich im Raum der Kirche.
Ein anschauliches Beispiel für diese „Beraubung“ ist Lehre und Politik des Wiener Erzbischofs. Bei Kardinal Schönborn ist nichts klar, nichts eindeutig, nichts real. Diese Art des Nihilismus erzeugt das schwärzeste Nichts und ebnet den Weg für die trostloseste geistige und in weiterer Folge politische Tyrannei (nach Josef Pieper). Die Auflösung der Offenbarung in Geschwätz läßt sie unerkennbar werden.
Der Kardinal ist hier seinerseits Teil eines übergeordneten korrumpierten Systems. Er hatte sich dem kirchengeschichtlich präzedenzlosen Tiefpunkt des Papsttums schon im voraus angepaßt[3] und trägt die Vernichtigung des Glaubens in diesem Pontifikat voll mit.
In der logorrheia von Papst Franziskus läßt sich der – bekanntlich in Christus menschgewordene – Logos Gottes nicht finden, es zeigt sich nur die schon genannte privatio entis. Hier „gibt“ es tatsächlich nichts, alles ist Wortgeklingel und Anti-Logos.
Die offiziellen kirchlichen Medien, von Rom bis Wien, setzen das um: Es wird nichts mitgeteilt, weil nichts erkannt wird, weil eben nichts ist. Dem Gorgias hätte das gefallen müssen (auch wenn er vermutlich der bessere Stilist war).
Die Beraubung des Seins durch die Empfänger und Verwalter der göttlichen Offenbarung ist nichts neues. Sie reicht tief in die Geschichte des Alten Bundesvolks hinein. Dort begann das systematische Vernichtigen des Wirklichen und Wahren. Franz Werfel geißelte diese Schande im Jahr 1937 mit scharfen Worten. In seinem Roman Höret die Stimme über den Propheten Jeremia kleidet er seine Kritik in historisches Gewand, um damit eine bis in seine eigene Zeit reichende Fehlhaltung zu treffen:
Durch die umfassenden Säulenhallen [des Tempels] wandelten Altpriester und Schriftmeister mit ihren Schülern. (…) Andre Gelehrte schritten einsam versunken einher, mit feinem Lächeln dem erkennenden Selbstgespräch hingegeben. Alles wie immer. Kein Auge, das auf diesem weltabgekehrt geistlichen Treiben ruhte, hätte geahnt, daß der entschlossenste Abfall über Jerusalem herrschte, daß die Großen des Tempels und der Lehre den [vom König eigenhändig verübten] Mord an einem Geheiligten Gottes [dem Propheten Urijah] wortlos geduldet hatten. Hier unter diesen Säulen herrschte nicht die grobe Sünde der Gewalt, sondern die verfeinerte Sünde des Geistes, die geschmeidig im Worte forscht, ohne das Wort wahrzumachen, die spielerisch die Lehre zerspaltet, ohne die Lehre auf sich zu nehmen.
Hier wird das Grundmuster des religiösen Nihilismus dargelegt: Das Zerreden der Offenbarung anstatt deren Umsetzung, dazu das Schweigen zu politischer Machtanmaßung und deren Greueltaten. Später kommt der Kommentar zum Kommentar. Und dann wird eine dickleibige Sammlung von skurrilen Untersuchungen erstellt, die in einem unüberblickbaren Wortschwall die einfache Wahrheit unerkennbar werden lassen und die göttlichen Gebote und Verbote praktisch aufheben. In einem inneren Zusammenhang damit wird den von der politischen Macht verübten Verstößen gegen das Gesetz Gottes, das ja den Menschen schützen soll, durch die Repräsentanten dieses Gesetzes nicht widersprochen. Damit sind wir in der Gegenwart, in der diese Gesinnung an der Spitze der Kirche angekommen ist, die mit der politischen Macht auf höchster Ebene fraternisiert, mit den Sustainable-Development-Gurus und Bevölkerungsingenieuren, die die Würde des ungeborenen Menschen verachten.
Ein besonders verabscheuungswürdiges Verbrechen ist ja die Tötung des ungeborenen Kindes. Diese ist für die Frage nach dem Nihilismus besonders sinnbildlich: Dort, wo ein Kindlein sicher unter dem Herzen seiner Mutter heranwachsen soll, ist plötzlich „nichts“ mehr, nur mehr die Leere. Und so fühlen sich dann die Betroffenen: unsagbar leer.
Nichtige Surrogate
Nachdem die Realität Gottes im Bewußtsein weiter Teile des ehemals gläubigen Volkes bzw. der ehemals gläubigen Völker vernichtet ist, füllen die Surrogate das Vakuum. Das war ja das Ziel der Protagonisten. Da der Mensch unvermeidlicherweise einer Macht dient, sie mehr oder weniger bewußt „anbetet“, verfällt er angesichts der „Beraubung“ des wahren Seins auf nichtige Götzen. Er betet beispielsweise den Mammon an. In der korrumpierten Kirchenstruktur ist das etwa die gerichtlich eintreibbare Kirchensteuer, die vielen ein Einkommen für eine Arbeitsstelle bietet, die „nichts“ hervorbringt, nihil. Oder er betet die politische Macht an. Diese deklariert sich als „alternativlos“ und historisch unvermeidlich und bildet derzeit einen monströsen Völkerkerker aus. (Übrigens gibt es auch eine Art Anbetung des „Flüchtlings“. Im derzeitigen ekklesialen Nihilismus gibt es tatsächlich nichts, was es nicht geben würde.)
Alle diese Surrogate sind in den Binnenraum der Kirche eingezogen, Sinnbilder des Greuels der Verwüstung, der dort steht, wo er nicht darf (Mk 13,14).
Der Teufel als Betreiber des Nichts
Die Surrogate können dem Menschen unmöglich genügen. Geld, Macht, Ruhm und Lust sind flüchtig und nichtig. Davon legen die in unserem Kulturkreis so bekannten Geschichten vom Pakt mit dem Teufel Zeugnis ab.
Aber auch ohne einen solchen, ausdrücklich geschlossenen Pakt kann der Böse den Menschen seiner Bestimmung berauben:
C. S. Lewis läßt den Oberteufel in seinen berühmten Screwtape Letters sagen:
Die Christen beschreiben den Feind als denjenigen, ‚ohne den das Nichts stark ist‘. Und das Nichts ist sehr stark: stark genug, die besten Lebensjahre eines Menschen nicht durch süße Sünden zu stehlen, sondern durch [Banalitäten].
Der Lewis’sche Oberteufel spielt hier in dämonisch-ironischer Weise auf ein Kirchengebet an, in dem ausgesagt wird, daß ohne Gott nichts stark ist[4]. Screwtape verändert die Aussage, indem er das Nichts gleichsam hypostasiert.
Damit hat er das Lebensgefühl einer nihilistischen Gesellschaft mit ihrer Leere, ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung durchaus getroffen.
Resümee
Das ist, wenn man sich umschaut, ein Kennzeichen unserer Zeit: die Beschäftigung mit Nichtigkeiten und der nur selten vorhandene Wille, das „eine notwendige“ (Lk 10,42) zu tun, nämlich sich an Gott auszurichten und die Früchte der Gottes- und Nächstenliebe hervorzubringen, um nicht umsonst gelebt zu haben. Die Kennzeichen des Nihilismus sind Umsturz und Leere, Euphorie und Verzweiflung.
Ob daher der Nihilismus tatsächlich von jemandem für „wahr“ gehalten wird, ist, wie gesagt, irrelevant. Wer sich aber nicht an der natürlich erkennbaren und an der geoffenbarten Wirklichkeit orientiert, kann natürlich niemals das Wahre treffen.
Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., kirchlich gesendeter Katechist, Pro-Lifer
Bild: Wikicommons/MiL
[1] Die Sophisten, Ausgewählte Texte, herausgegeben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Reclam, Stuttgart 2003, S. 52f: „Auf der Grundlage dieser Sprachmächtigkeit ist sein sophistisches Metier zu sehen, das ihm höchste Honorare einbrachte und ihn in der Öffentlichkeit mit der durch den Purpur gekennzeichneten Würde eines Priesters auftreten ließ – entgegen neuzeitlichen Vorstellungen aber nicht als Hüter oder Hirte der Sprache, sondern als deren Bildner: ein Logoplast, der göttliche Werke vollbringt (…). [Aus der Platonischen Perspektive mag Gorgias zwar ein eitler technítes sein], der sich über die moralischen Folgen seines Unterrichtes noch keine Gedanken gemacht hat, aber keine weitergehenden demagogischen Interessen verfolgt.“
[2] Ebd.
[3] Hier ist besonders der schändliche „Masterplan“-Hirtenbrief vom 15.05.2011 zu nennen. Darauf wurde bereits in einem Beitrag vom 18. Juli 2013 ausführlich eingegangen.
[4] Kollekte vom 3. Sonntag nach Pfingsten:
Protector in te sperantium Deus,
sine quo nihil est validum, nihil sanctum:
Multiplica super nos misericordiam tuam;
ut te rectore, te duce, sic transeamus per bona temporalia,
ut non amittamus aeterna.