(Rom) Die römische Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica widmet ihre aktuelle Ausgabe dem Themenschwerpunkt Europäische Union und legte einen Sonderband dazu vor. Dabei geht es mit Blick auf die bevorstehenden EU-Wahlen um eine Parteinahme für das EU-Establishment. Chefredakteur Antonio Spadaro, einer der engsten Vertrauten von Papst Franziskus, und Erzbischof Jean-Claude Hollerich, beide Jesuiten, warnen in dem Heft vor den „Populisten“, die sie als Proto-Totalitäre skizzieren.
Das Datum für die Vorstellung des Bandes war nicht zufällig gewählt. In der Kirche versteht man sich auf die Symbolsprache. Der 25. April ist zwar auch der liturgische Gedenktag des Evangelisten Markus, in Italien ist der Tag aber vor allem der wichtigste Feiertag der politischen Linken, der „Tag der Befreiung“ von Faschismus und Nationalsozialismus. Damit wurden die Grenzen für das Themenheft bereits unmißverständlich abgesteckt.
Der Sonderband Europa wurde als Band 8 in der Reihe Accènti (Akzente) der Civiltà Cattolica von Antonio Spadaro herausgegeben. Gemeint ist mit Europa allerdings die EU. Auch diese Synonymisierung zweier Begriffe, die keineswegs deckungsgleich sind, stellt einen nahtlosen Gleichschritt mit den Brüsseler Eurokraten dar.
Spadaro schreibt in seinem Leitartikel:
„Uns interessiert, die Gewissen zu formen und zu informieren, damit wichtige Entscheidungen für die Zukunft nicht nur durch Opportunismen von kurzem oder sehr kurzem Atem, von generellen Ängsten oder Ressentiments diktiert werden.“
Der Sammelband enthält die Beiträge mehrerer Autoren, von denen allerdings jener des COMECE-Vorsitzenden Hollerich und von Spadaro die relevantesten sind.
Die Veröffentlichung des Heftes 4052 und des Sonderbandes zum Thema EU begleitete Spadaro in den vergangenen Tagen mit mehreren Tweets, unter anderem mit Bildern von einer Anti-Brexit-Kundgebung. Auf Radio Radicale, einem traditionell kirchenfeindlichem Sender, konnte er die Ausgabe in einem ausführlichen Interview vorstellen und bewerben. Die Radikalen um die Ex-EU-Kommissarin Emma Bonino sind mit ihrer Liste Europa+ die radikalsten EU-Befürworter bei der bevorstehenden EU-Wahl. Eine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Chefredakteur der römischen Jesuitenzeitschrift wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. Die Radikalen sind die Partei der EU, der Abtreibung, der Masseneinwanderung, der Leihmutterschaft, der Euthanasie, der Drogenfreigabe. Für Bonino ist alles „alternativlos“. Sie wurde nicht nur von George Soros mit einem Preis ausgezeichnet, sondern sitzt im Vorstand von dessen gesellschaftspolitischer Schaltzentrale Open Society.
Spadaro wirbt nicht nur für ein Verbleiben Großbritanniens in der EU. Er setzt mit Steve Bannon und Alexander Dugin auch die „Feinde“ der EU ins Bild. Ihnen wirft er vor, „Priester des Populismus“ zu sein, die eine „falsche, pseudo-religiöse Welt“ propagieren, mit der sie „das Herz der Theologie leugnen, die Gottesliebe und die Nächstenliebe“. Dieser Satz ist ein Zitat aus dem Sonderband. Er ist eine historisch-politische Analyse aus der Feder des Luxemburger Erzbischofs Jean-Claude Hollerich, der als Nachfolger von Kardinal Reinhard Marx seit 2018 Vorsitzender der COMECE, der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaftist.
Seine Gedanken wiederholt Hollerich in kürzerer Fassung auch in Ausgabe 4052 der Civiltà Cattolica. Alberto Melloni, der Leiter der progressiven Schule von Bologna feierte Hollerichs Aufsatz als:
„die bedeutendste katholische Positionierung in der europäischen Politik der vergangenen 40 Jahre“.
Ganz anders die katholische Internetzeit Nuova Bussola Quotidiana:
„Die Feder von Msgr. Hollerich wird von der Angst geführt, daß beim bevorstehenden Urnengang eine Szenario herauskommen könnte, das den europäischen Intergrationsprozeß in Frage stellt.“
Die Bussola sieht in Hollerichs Text „eine Art von programmatischem Manifest zu den Wahlen am 26. Mai, mit dem erklärt werden soll, warum die Kirche sich die Agenda der Eurokraten vollständig zu eigen machen sollte“.
Das größte Problem für Brüssel sei, laut dem Erzbischof von Luxemburg, „daß die Bürger der postkommunistischen Staaten die EU bisher als Integration in das westliche Europa wahrnehmen und nicht als eine wirklich paneuropäische Integration“. Nach dieser minimalistischen EU-Kritik nähert sich Hollerich seinem eigentlichen Thema, indem er eine Auflistung aller seiner Ansicht nach positiven Seiten der EU veröffentlicht. Die EU bezeichnet er kritiklos im Gleichklang mit den EU-Vertretern als „Friedensprojekt“.
Damit leitet der Erzbischof zu den Gefahren über, die seiner Ansicht nach der derzeitigen EU drohen. Dazu zählt er die verbreiteten Ängste, die ein fruchtbarer Boden für den Aufstieg von „Populismen“ seien. Erst damit ist Msgr. Hollerich beim eigentlichen Thema angekommen. Der „Populismus“ ist die Zielscheibe seines Textes. Er sei die wirkliche Gefahr, eine ganz konkrete Bedrohung, denn er sei das „Vorzimmer der Totalitarismen“.
Steve Bannon und Alexander Dugin werden als Symbolgestalten des Populismus ausgemacht, bzw. der Wiederentdeckung der Identitäten der europäischen Völker gesehen. Der ehemalige Chefstratege von US-Präsident Donald Trump und der russische Philosoph, der von Putin geschätzt wird, sind für Hollerich die Haupt-Stichwortgeber der „Dynamiken, die am Ende auch das Christentum verschlingen werden“. Für den Jesuiten und Erzbischof von Luxemburg drängt der Populismus auf ein „selbstbezogenes Christentum“ und sei damit nicht nur für die EU eine tödliche Bedrohung, sondern auch für die Kirche.
Hollerich verknüpft damit das Schicksal der EU mit dem der Kirche. Das bedeutet auch, daß für Hollerich die Glaubwürdigkeit der EU mit jener der Kirche zusammenfällt – und wohl auch mit dieser auf dem Spiel steht. Als Beispiel nennt er die Masseneinwanderung:
„Europa wird katholisch bleiben, wenn wir es zu verstehen wissen, diese Begegnung mit den Migranten auf eine dem Evangelium angemessene Art zu leben.“
Das sei bisher aber, so Hollerich, nicht in ausreichendem Maße geschehen, wie „das Drama der Flüchtlinge und der Migranten im Mittelmeer“ zeige, das er „eine Schande“ für Europa nennt. Die Herausforderungen der neuen Völkerwanderungen, der Erzbischof spricht von Menschenflüssen, zeige auch Versäumnisse der Kirche auf, die oft „mehr als eine Bremse, statt als Motor“ wahrgenommen werde.
Hollerich kommt dann auf das Zweite Vatikanische Konzil und die im Anschluß daran entstandenen Bischofskonferenzen zu sprechen. Diese würden heute dazu beitragen, „im katholischen Denken die Staatsnation zu zementieren“. Dadurch aber „verlieren wir einen Teil unserer universalen Berufung“.
Die „Universalität des Latein“ wich den Nationalsprachen, „aber die Liturgie in den Nationalsprachen hat die Werte der Offenheit und des Dialogs des Zweiten Vatikanischen Konzils vergessen“.
Die Ideen von Nationalkirche und Staatsnation sind für den Erzbischof zu überwinden, weil sie eine Exklusion der Einwanderer begünstigen könnten. Seinen Zeilen kann man entnehmen, daß er parallel zur europäischen Integration auch eine kirchliche Integration empfiehlt. Die Vertretung der Bischöfe wäre damit die COMECE, die an die Stelle der Bischofskonferenzen treten würde.
Mit der Migration behandelt Hollerich auch die Frage der Identität. Man könnte auch sagen, er kanzelt sie ab. Die Identität sei etwas ganz anderes als der Reisepaß, „den wir in unsere Tasche stecken können“. Der Populismus sei verantwortlich dafür, eine „falsche Identität“ zu konstruieren, indem er mit dem Finger auf Feinde zeige, die für alle Übel verantwortlich gemacht würden. Als Beispiel, auf die mit dem Finger gezeigt werde, nennt er die EU und die Migranten. Wie zuvor bereits Kardinal Marx nimmt auch Hollerich die Berufung auf „eine christliche Identität Europas“ ins Visier. Sie sei nicht authentisch, weil sie „politischen Wünschen“ untergeordnet werde, die „einer auf dem Evangelium gegründeten Perspektive“ widersprechen.
Schließlich macht sich der COMECE-Vorsitzende zum Sprecher der Politik der aktuellen EU-Kommission. Deren Prioritäten müßten fortgeführt werden: der Kampf gegen Fake News und die Lösung der ökologischen Herausforderungen. Auf sozialer Ebene sei der Juncker-Plan umzusetzen, wobei der Kirchenvertreter beklagt, daß von diesem viel zu wenig gesprochen werde.
Hollerich endet mit einem Aufruf an die Kirche, die von der EU repräsentierten „Träume und Hoffnungen“ zu begleiten, und dies „mit größerem Bewußtsein“ dafür zu tun, daß die EU „nicht existiert, damit ihr gedient wird, sondern, um zu dienen“.
Bei den Ausführungen handelt es sich nicht um eine Einzelmeinung des COMECE-Vorsitzenden Hollerich. Ähnliche Aussagen machte bereits sein Vorgänger Kardinal Marx. Daß es sich auch um die Position des Vatikans handelt, verdeutlicht Chefredakteur Antonio Spadaro in seinem Leitartikel. Darin bekräftigt er die Ausführungen Hollerichs. Bekanntlich erscheint keine Ausgabe der Civiltà Cattolica ohne vorherige Druckerlaubnis des Vatikans. Papst Franziskus übt die Zensur zu wichtigen Themen persönlich aus. Politische Fragen sind ihm besonders wichtig.
Spadaro greift den „Teufel“ auf, den Hollerich an die Wand malt:
„Den Prozeß der europäischen Integration zu unterbrechen, heißt, Gespenster zu rufen, die wir zum Schweigen gebracht haben.“
Die Christen, so der Vertraute des Papstes, „können sich nicht vor ihrer historischen Verantwortung für die Zukunft unseres Kontinents zurückziehen, und das verlangt nach klaren und kohärenten Entscheidungen.“
Im Klartext bedeutet das, daß laut Erzbischof Hollerich und P. Spadaro Christen keine Kräfte unterstützen dürfen, die „den Prozeß zum Aufbau Europa oder sogar seine Existenz in Frage stellen“. Konkreter formuliert: Für die offizielle Kirchenführung in Europa und in Rom ist das derzeitige EU-Establishment zu unterstützen, wofür es notwendig ist, deren Kritiker zum unwählbaren Feindbild zu erklären.
Nur am Rande sei bemerkt, daß das „Friedensprojekt“ Europa nicht nur bedeutet, daß in der EU kein Krieg geführt wurde, wie derzeit betont wird. Es bedeutet auch, daß in dieser EU Dutzende von Millionen ungeborener Kinder getötet wurden und jeden Tag getötet werden. Längst mehr als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen an militärischen und zivilen Opfern gefordert haben. Der Unterschied besteht nur darin, daß sich die EU mit einer glänzenden Fassade präsentiert, hinter der sie ihre Makel versteckt.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: La Civiltà Cattolica/Twitter (Screenshots)