(Rom) „Was die derzeitige Kirchenführung – vor, während und nach dem Gipfel im Vatikan vom 21.– 24. Februar – nicht imstande war, über den Mißbrauchsskandal zu sagen, hat nun der ‚emeritierte Papst‘ Benedikt XVI. gesagt und geschrieben.“ Mit diesen Worten kommentiert der Vatikanist Sandro Magister heute den Aufsatz, den Benedikt XVI. gestern veröffentlichen ließ. Zuvor hatte er in seiner korrekten Art Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und Papst Franziskus persönlich davon in Kenntnis gesetzt.
Eine Vorbemerkung
Unklar ist, wie das gestern weltweit, konzertiert und massiv verbreitete Dokument an die Öffentlichkeit gelangte. Die Angaben sind verwirrend. Die Rede ist vom Klerusblatt, von der New York Post, ACIPrensa/CNA, die gestern auch die deutsche Version publizierte, gibt keine Angabe über die Herkunft. Für welches Medium der Aufsatz also bestimmt war, darüber kann nur gemutmaßt werden. Es dürfte sich um den Corriere della Sera gehandelt haben, der den Aufsatz in seiner gestrigen Ausgabe auf der Titelseite abdruckte.
Die ungeklärte Herkunft ließ bei manchen Zweifel zur Autorenschaft von Benedikt XVI. aufkommen. Kurienerzbischof Gregor Gänswein versicherte jedoch der New York Times, daß der Text „absolut von ihm“ stammt. Das deckt sich mit der verwendeten Sprache.
Dem zeitgleich in verschiedenen Sprachen veröffentlichen Text geht allerdings ein Vorspann voraus, der sich deutlich von der Sprache Benedikts XVI. unterscheidet. CNA Deutsch setzte ihn kursiv, gab aber keine Auskunft, ob er Teil des Aufsatzes ist.
Dem ist nicht der Fall. Magister deutet es an. Benedikt XVI. informierte vorab Papst Franziskus und den Kardinalstaatssekretär. Von dieser Seite stammt der Vorspann. Es handelt sich also um eine vom Vatikan „kontrollierte Veröffentlichung“. Der Vorspann betont mit Nachdruck die Bedeutung des Anti-Mißbrauchsgipfels, versucht also die implizite Kritik von Benedikt XVI. vorab abzumildern .
Damit zum Inhalt
Benedikt XVI. beließ es nicht bei schönen Worten, oberflächlichem Kratzen und der Ausklammerung wesentlicher Punkte. „Er ging zur Wurzel des Skandals“, zur sexuellen Revolution von 1968. Er dringt vor bis „zum ‚Kollaps‘ von katholischer Doktrin und Moral“, die zwischen den 60er und 80er Jahren einsetzt; bis zur Beseitigung der Unterscheidung von Gut und Böse und von Wahrheit und Lüge; bis zur Ausbreitung von „Homo-Clubs“ in Priesterseminaren und der Unantastbarkeit der Kirchenmänner, die jede Neuerung rechtfertigten, einschließlich des sexuellen Mißbrauchs.
Seine Schlußfolgerung ist ebenso ernst wie frappierend, ja befreiend einfach: Der Mißbrauchsskandal ist die Folge, weil sich die Kirche und ihre Vertreter von Gott entfernt haben. Die logische Quintessenz wurde in dieser Form von der derzeitigen Kirchenführung nicht ausgesprochen. Genau darin bestätigt sich das von Benedikt XVI. genannte Phänomen.
Er dringt in seinem Text in gewohnt allgemeinverständlicher und direkter Sprache zur Substanz vor. Darin liegt der erkennbare, für alle zumindest spürbare Unterschied zu seinem Nachfolger. Die Kirche von heute muß, so Benedikt XVI., den Mut wiederfinden „von Gott zu sprechen“ und Gott allem vorzuziehen. Sie muß wieder lernen, an die Realpräsenz Gottes in der heiligsten Eucharistie zu glauben, anstatt sie auf eine bloß zeremonielle Geste zu reduzieren.
Der Ernst der Mahnung kann kaum noch überboten werden. Sie zwingt geradezu die Frage auf: Was ist los mit der Kirche? Eine Frage, die nach einer Antwort verlangt.
Während Benedikt XVI. vor allem die Rechte der Opfer betont, stehen im Vatikan mehr die Rechte der Angeklagten im Vordergrund. Dazu Magister:
„Bis zum vergangenen Herbst war ‚Nulltoleranz‘ eines der am häufigsten wiederholten Wörter in den Reden und Dokumenten von Papst Franziskus, wenn es darum ging, zu sagen, wie dem sexuellen Mißbrauch von minderjährigen Opfern durch Kleriker entgegengewirkt werden soll. Seither ist das Wort aber verschwunden. Es ist aus dem Schlußdokument der Jugendsynode verschwunden, aus dem nachsynodalen Schreiben Christus vivit und aus den Reden und Dokumenten des Anti-Mißbrauchsgipfels, der vom 21.–24. Februar im Vatikan stattfand.“
Am Beginn des Gipfeltreffens verteilte Papst Franziskus 21 Gedanken, die er verfaßt hatte, und über die die Gipfelteilnehmer nachdenken sollten.
„Mit der ‚Nulltoleranz‘ standen sie ganz und gar nicht in Einklang.“
Magister wird noch deutlicher:
„Die Maßnahmen, die in den vergangenen zwei Monaten gegen fünf Kardinäle und Erzbischöfe ergriffen wurden, die wegen begangenem oder ‚vertuschtem‘ Mißbrauch angeklagt wurden, bestätigen diese Änderung der Linie ganz.“
„Nur in einem Fall kam es zu einer Zurückversetzung des Angeklagten in den Laienstand, obwohl aufgrund der ‚Nulltoleranz‘ diese Sanktion gegen alle zu verhängen wäre, die auch nur an einem Opfer Mißbrauch begangen haben.“
Sind sie also nicht schuldig? Wenn das zutrifft, müßte die Kirche für ihre Unschuld eintreten. Sind sie aber schuldig, müßte Franziskus die Konsequenzen daraus ziehen.
Das Schweigen und die Linienänderung des Vatikans veranlaßten Benedikt XVI. sein Schweigen zu unterbrechen und zu sagen, was Papst Franziskus sagen müßte.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL