Sterben 40 Prozent in den Niederlanden keines natürlichen Todes?

Das Sterbehilfegesetz und die Praxis


Abtreibung, offene und verdeckte Euthanasie, Mord und Selbstmord: Bis zu 40 Prozent der Niederländer sterben keines natürlichen Todes.
Abtreibung, offene und verdeckte Euthanasie, Mord und Selbstmord: Bis zu 40 Prozent der Niederländer sterben keines natürlichen Todes.

(Den Haag) Zah­len spre­chen eine kla­re Spra­che. Über ihre Inter­pre­ta­ti­on wird den­noch nicht sel­ten gestrit­ten. Je nach Les­art läßt sich sagen, daß von allen Todes­fäl­len in den Nie­der­lan­den bis zu 40 Pro­zent kei­nes natür­li­chen Todes ster­ben. Erschrecken­de Aus­sich­ten oder nur fal­sche Lesart?

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Die Ver­gleichs­zah­len bezie­hen sich auf das Jahr 2017 und wer­den durch die bereits vor­lie­gen­den Sta­ti­sti­ken für das Jahr 2018 bestä­tigt. Alle Zah­len­wer­te sind zur leich­te­ren Dar­stel­lung gerundet. 

Todesfälle und Tötungsvarianten

Laut nie­der­län­di­schem Sta­ti­stik­amt wur­den 2017 150.000 Todes­fäl­le und 170.000 Lebend­ge­bur­ten registriert. 

Die­se Zahl ist jedoch zu kor­ri­gie­ren, da wie in allen Abtrei­bungs­staa­ten – das sind Staa­ten, in denen die Tötung unge­bo­re­ner Kin­der lega­li­siert ist – die durch Abtrei­bung getö­te­ten Kin­der nicht in die all­ge­mei­ne Bevöl­ke­rungs­sta­ti­stik ein­flie­ßen. Im Sin­ne der Abtrei­bungs­lob­by gel­ten die unge­bo­re­nen Kin­der als inexi­stent. Sie wur­den vom Staat noch in kei­nem Geburts­re­gi­ster oder Ein­woh­ner­ver­zeich­nis geführt.

Die Zahl der regi­strier­ten Abtrei­bun­gen wird in den Nie­der­lan­den mit jähr­lich 30.000 ange­ge­ben. Hin­zu­kom­men Opfer von Mord und Tod­schlag (50), Dro­gen­to­te (50), Selbst­mor­de (1900), Ver­kehrs­to­te (600).

Die Tötungs­ar­ten Abtrei­bung, Mord und Tot­schlag machen in den Nie­der­lan­den fast 17 Pro­zent aller Todes­fäl­le aus.

Der „gute Tod“ der Euthansie

Das nie­der­län­di­sche Par­la­ment ver­ab­schie­de­te 2001 ein Ster­be­hil­fe­ge­setz. Damit wur­den der Eutha­na­sie die Türen geöff­net, die euphe­mi­stisch „guter Tod“ genannt wird. 2017 wur­den nach die­sem Gesetz 6.600 Men­schen „sui­zi­diert“. Wei­te­re 1900 Nie­der­län­der begin­gen (gewis­ser­ma­ßen ille­gal) Selbst­mord. Das sind zusam­men 8.500 Men­schen­le­ben oder fast fünf Pro­zent aller Todes­fäl­le. Folgt man der offi­zi­el­len Sta­ti­stik, ohne Ein­rech­nung der Abtrei­bungs­op­fer, sind es sogar zwei Pro­zent mehr. 

Euthanasie-Befürworter im Parlament von Victoria (Australien)
Eutha­na­sie-Befür­wor­ter im Par­la­ment von Vic­to­ria (Austra­li­en)

Die Zwi­schen­bi­lanz lau­tet daher: Tötungs­de­lik­te, Eutha­na­sie und Selbst­mord zusam­men­ge­zählt machen in den Nie­der­lan­den 21,5 Pro­zent aller Todes­fäl­le aus.

Bei 32.000 der regi­strier­ten Todes­fäl­le wur­de eine pal­lia­ti­ve Sedie­rung ange­wandt, über deren Wir­kung gestrit­ten wird. Han­delt es sich dabei nur um eine „mil­de Gabe“, Angst und Schmer­zen zu dämp­fen oder aus­zu­schal­ten? Oder wird damit das Ster­ben beschleu­nigt? Han­delt es sich also um eine ver­steck­te Form der „Ster­be­hil­fe“? Ver­bun­den mit der pal­lia­ti­ven Sedie­rung ist jeden­falls eine Bewußt­seins­dämp­fung. Die Sin­ne wer­den bene­belt. Kri­ti­ker sehen die­se Pra­xis als Form der Eutha­na­sie, da die Gren­zen durch die Dosie­rung leicht ver­wischt wer­den können.

Wer­den Tötungs­de­lik­te (fast 17 Pro­zent der Todes­fäl­le), lega­li­sier­ter und ille­ga­ler Sui­zid sowie pal­lia­ti­ve Sedie­rung zusam­men­ge­zählt ergibt das in den Nie­der­lan­den eine Gesamt­zahl von über 70.000 Todes­fäl­len oder mehr als 39 Pro­zent aller Toten des Jah­res 2017. Wer­den noch Dro­gen­to­te und Ver­kehrs­to­te ein­ge­rech­net, kommt man der Zahl von 40 Pro­zent aller Todes­fäl­le sehr nahe. 

Es läßt sich zumin­dest sagen, daß zwi­schen 22 und 40 Pro­zent aller Todes­fäl­le in den Nie­der­lan­den durch den Mensch selbst indu­ziert wur­den. Der genaue Wert liegt je nach Les­art irgend­wo im Grau­be­reich dazwischen.

„Die Euthanasie ist etwas Normales geworden“

Chri­sto­pher de Bel­lai­gue ver­öf­fent­lich­te im bri­ti­schen Guar­di­an einen Bericht über die Anwen­dung des Ster­be­hil­fe­ge­set­zes in den Nie­der­lan­den. Dazu besuch­te er den Arzt Bert Kei­zer von der Leven­sein­de­kli­niek (Lebens­en­de­kli­nik), in der 2017 750 Per­so­nen „sui­zi­diert“ wur­den. Kei­zer ist es gewohnt, die Men­schen, die nach dem Ster­be­hil­fe­ge­setz ster­ben wol­len, auch zu Hau­se auf­zu­su­chen. Dabei erlebt er auch für ihn unge­wöhn­li­che Szenen. 

Als er zusam­men mit einer Kran­ken­schwe­ster das Zim­mer des Man­nes betrat, den er töten soll­te, stan­den an die 35 Per­so­nen in dem Raum und „tran­ken, schrien und lach­ten. Es herrsch­te ein gro­ßer Lärm und ich dach­te: ‚Und was mache ich jetzt?‘ Zum Glück wuß­te der Mann, der ster­ben woll­te, genau, was zu tun war. Plötz­lich sag­te er: ‚Ok, Jungs‘, und alle haben ver­stan­den. Sie schwie­gen, die Kin­der wur­den raus­ge­bracht, und ich habe ihm die Sprit­ze gegeben.“

Die­ses Erleb­nis erzählt Kei­zer, um zu ver­an­schau­li­chen, daß „die Eutha­na­sie etwas Nor­ma­les gewor­den ist“. In den ersten 15 Jah­ren seit Inkraft­tre­ten des Geset­zes hat sich die Zahl der „auf Wunsch“ eutha­na­sier­ten fast vervierfacht.

Anfangs konn­ten nur Erwach­se­ne eutha­na­siert wer­den, inzwi­schen auch Kin­der. Es braucht als Bedin­gung auch kei­ne unheil­ba­re Krank­heit im End­sta­di­um mehr, um die töd­li­che Sprit­ze gesetzt zu bekom­men. Es genügt, das Leben als sub­jek­tiv „untrag­bar“ zu emp­fin­den. Das kann von Demenz bis Depres­si­on rei­chen. Soll­te der Haus­arzt sich wei­gern, gibt es die Lebens­ein­de­kli­niek.

„Todespille“ für alle ab 70?

Chri­sto­pher de Bel­lai­gue geht nach sei­nen Recher­chen davon aus, daß das nie­der­län­di­sche Par­la­ment bald auch die „Lebens­en­de­pil­le“ zulas­sen könn­te. Gemeint ist eine „Todes­pil­le“ für alle, die aus irgend­ei­nem Grund Lebens­mü­de sind. Geht es nach dem Vor­schlag von Gesund­heits­mi­ni­ster Hugo de Jon­ge und Justiz­mi­ni­ster Fer­di­nand Grap­per­haus, sol­len alle Nie­der­län­der, sobald sie 70 wer­den, die­se Pil­le erhal­ten – auf Vorrat. 

Bei­de Mini­ster sind Christ­de­mo­kra­ten der CDA. Der Jong gehört dem neu­en Zusam­men­schluß der Pro­te­stan­ti­schen Kir­che der Nie­der­lan­de an, Grap­per­haus ist Katholik.

Jubel­trä­nen für die Eutha­na­sie im Ita­lie­ni­schen Parlament

Die Eutha­na­sie gehört in den Nie­der­lan­den zur „medi­zi­ni­schen“ Grund­ver­sor­gung, die über die Kran­ken­ver­si­che­rung abge­deckt wird. Ein Geschäft ist sie auch: Für jede Todes­sprit­ze, die gesetzt wird, zah­len die Kran­ken­ver­si­che­run­gen der Lebens­ein­de­kli­niek 3.000 Euro. Gezahlt wird auch, falls es sich der Kun­de im letz­ten Augen­blick noch anders überlegt.

Kli­nik­di­rek­tor Ste­ven Plei­ter, gewis­ser­ma­ßen ein Lebens­en­de-Direk­tor, will aber nicht im Geld das Haupt­mo­tiv des Han­delns sehen. Es hand­le sich, so Plei­ter, viel­mehr um „Empa­thie, Ethik und Mit­leid“. Das „Mit­leid“ hat der Lebens­ein­de­kli­niek im Jahr 2017 immer­hin mehr als zwei Mil­lio­nen Euro eingebracht. 

„Die Krankenversicherungen zahlen lieber eine einmalige Summe“ (für das Töten)

Chri­sto­pher de Bel­lai­gue bringt es in sei­nem Bericht wie folgt auf den Punkt:

„Die Kran­ken­ver­si­che­run­gen zie­hen es natür­lich vor, eine ein­ma­li­ge Sum­me zu zah­len, um jemand zu töten, als eine enor­me Men­ge Geld aus­zu­ge­ben, um eine leben­de, aber unpro­duk­ti­ve Per­son zu pflegen.“

Staat­li­che Geset­ze ver­än­dern auch das Gewis­sen, was im Gesetz­ge­bungs­pro­zeß sel­ten einen Nie­der­schlag fin­det. Das gilt für die Abtrei­bung und eben­so für die Eutha­na­sie. Nicht ein­mal acht Pro­zent der nie­der­län­di­schen Ärz­te wei­gern sich aus Gewis­sens­grün­den die Todes­sprit­ze zu set­zen, also zu töten, anstatt zu heilen. 

Den­noch will Chri­sto­pher de Bel­lai­gue ein Umden­ken erken­nen. 2018 wur­de die nie­der­län­di­sche Ärz­te­schaft vom Fall einer Kol­le­gin erschüt­tert. Die Staats­an­walt­schaft erhob erst­mals Ankla­ge gegen eine Ärz­tin, weil sie einen Pati­en­ten getö­tet hat­te, obwohl die­ser klar und deut­lich zu ver­ste­hen gege­ben hat­te, nicht ster­ben zu wol­len. Die Ärz­tin recht­fer­tig­te sich, daß der Pati­ent zu einem frü­he­ren Zeit­punkt eine ent­spre­chen­de Erklä­rung unter­zeich­net hatte.

Auch ande­re Fäl­le lösen bei man­chen Ärz­ten ein Umden­ken aus. De Bel­lai­gue schil­dert den Fall eines demenz­kran­ken Pati­en­ten der eine Eutha­na­sie-Ver­fü­gung unter­zeich­net hat­te für den Fall, daß sich sein Zustand ver­schlech­tern soll­te. In den fol­gen­den Jah­ren „änder­te er aber 20 Mal sei­ne Mei­nung“. Das hat­te damit zu tun, daß „ihn sei­ne Frau dazu zwin­gen woll­te“. Die Ärz­tin, die ihn behan­del­te, berich­tet, daß nach dem X‑ten Mei­nungs­wech­sel sei­ne Frau bei ihr in der Pra­xis auf­tauch­te, mit den Fäu­sten auf den Tisch schlug und rief: „Wenn er nur den Mut fän­de, der Feig­ling!“ Die Ärz­tin wei­ger­te sich, gegen den erkenn­ba­ren Wil­len des Man­nes zu han­deln. Er wur­de den­noch getö­tet – von einem ande­ren Arzt, als sie im Urlaub war.

Sie beschloß dar­auf, ihren Beruf auf­zu­ge­ben. Sie wuß­te, daß der Kol­le­ge, der sie im Urlaub ver­tre­ten wür­de, ein Eutha­na­sie-Fan ist. Daß er so weit gehen wür­de, damit hat­te sie aber nicht gerech­net. Seit­her pla­gen sie Gewissensbisse. 

„Ich bin Ärz­tin, aber nicht ein­mal imstan­de den Schutz mei­ner schutz­lo­se­sten Pati­en­ten zu garantieren.“

„Eine rote Linie wurde überschritten“

Auch Marc Veld hat Schuld­ge­füh­le, obwohl er die Eutha­na­sie nicht grund­sätz­lich ablehnt. Er hat­te sei­ne Mut­ter im Ver­dacht, ihrem Leben ein Ende set­zen zu wol­len, obwohl sie an kei­ner unheil­ba­ren Krank­heit litt. Er sprach daher mit ihrem Haus­arzt, der sich aber unzu­gäng­lich zeig­te. Am 9. Juni 2018 erhielt er einen Anruf vom Haus­arzt: „Es tut mir leid, ihre Mut­ter ist vor einer hal­ben Stun­de gestor­ben“. Der Haus­arzt hat­te ihr die Todes­sprit­ze gesetzt, ohne den Sohn – wie es das Gesetz vor­sieht – vor­her zu infor­mie­ren. „Sie hät­te noch meh­re­re Jah­re leben kön­nen“, so Veld, der sich Vor­wür­fe macht.

Die Ethi­ke­rin Ber­na Van Baar­sen gehör­te zehn Jah­re einer Kon­troll­kom­mis­si­on zur Über­wa­chung des Eutha­na­sie­ge­set­zes an. Sie war für die­ses Gesetz und hat­te an des­sen Aus­ar­bei­tung mit­ge­wirkt. Im Janu­ar 2018 ver­ließ sie jedoch unter Pro­test die Kom­mis­si­on. Sie hat­te die Akten zu den Fäl­len getö­te­ter Pati­en­ten zu prü­fen, die von den Ärz­ten über­mit­telt wer­den müs­sen. Sie stell­te im Lau­fe der Jah­re eine Büro­kra­ti­sie­rung des Tötens fest. Es zäh­le immer mehr, ob der „Tötungs­schein“ vom Betrof­fe­nen unter­schrie­ben ist, „nicht mehr sein direk­ter Wil­le“. Wur­de der Schein irgend­wann unter­schrie­ben, wür­den die Ärz­te dar­auf ver­wei­sen, sich vor dem Gesetz abge­si­chert füh­len und die Todes­sprit­ze set­zen, also büro­kra­tisch exe­ku­tie­ren. Ob der Pati­ent das zu die­sem Zeit­punkt wirk­lich wol­le, spie­le eine immer gerin­ge­re Rol­le. Für Van Baar­sen wur­de „eine rote Linie über­schrit­ten“. Dage­gen pro­te­stiert sie seither.

Chri­sto­pher de Bel­lai­gue schreibt, daß die „Todes­pil­le“, die in den Nie­der­lan­den noch nicht erlaubt ist, es aber viel­leicht bald sein könn­te, „vie­len Ärz­ten“, mit denen er sprach, schon zusa­gen wür­de. Es wür­de sie vom Töten befrei­en. Sie könn­ten sich wie­der „wie vor­her dar­um küm­mern, Leben zu retten“. 

Das Pro­blem sei, daß die Men­schen, die ster­ben wol­len, sich aber nicht selbst töten wollen. 

„95 Pro­zent von denen, die in den Nie­der­lan­den die Eutha­na­sie­rung bean­tra­gen, wol­len, daß sie ein Arzt tötet. In einer Gesell­schaft, die sich rühmt, jede Form von fest­ge­leg­ter Auto­ri­tät abzu­leh­nen, wol­len, wenn es um den Tod geht, aber alle die Mam­ma. Alle wol­len, daß der Staat sie auto­ri­siert und es gut­heißt. Sie wol­len, daß ihnen jemand sagt: Du bringst dich nicht um, du tust nichts Schlech­tes, du han­delst gut.“

Davon steht nichts im nie­der­län­di­schen Sterbehilfegesetz.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: The Guardian/​CR (Screen­shots)

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