Papst Franziskus und die minimalen Sünden „unter der Gürtellinie“

Wenn der Papst "den Schleier zu seinem wirklichen Denken lüftet"


Papst Franziskus mit Dominique Wolton
Papst Franziskus mit Dominique Wolton

(Rom) Papst Fran­zis­kus wird mor­gen zum Welt­ju­gend­tag nach Pana­ma rei­sen. In sei­nem Gefol­ge wird sich auch der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Domi­ni­que Wol­ton, kein Katho­lik, befin­den. Er reist auf aus­drück­li­chen Wunsch des Pap­stes mit. Der Vati­ka­nist San­dro Magi­ster erklärt, war­um das und noch mehr erstaunt.

Das Gesprächsbuch

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Zunächst aber die Vor­ge­schich­te: Domi­ni­que Wol­ton wur­de in der katho­li­schen Welt bekannt, als Anfang Sep­tem­ber 2017 sein Gesprächs­buch „Poli­tique et socie­té“ (Poli­tik und Gesell­schaft) mit Papst Fran­zis­kus ver­öf­fent­licht wur­de. Für die ita­lie­ni­sche Aus­ga­be des Buches wur­de mit „Gott ist ein Poet“ ein weni­ger nüch­ter­ner Titel gewählt. 

Eini­ge Tage bevor das fran­zö­si­sche Ori­gi­nal in den Buch­han­del kam, hat­te Le Figa­ro bereits eine gro­ße Ankün­di­gung mit Vor­ab­druck ver­öf­fent­licht. Auf die Titel­sei­te des Le Figa­ro Maga­zi­ne wur­de ein Bild von Papst Fran­zis­kus gesetzt. Die Schlag­zei­le lautete:

„Ist der Papst links?“

Im Gespräch mit Wol­ton ver­tei­dig­te Fran­zis­kus Amo­ris lae­ti­tia und die Zulas­sung wie­der­ver­hei­ra­te­ter Geschie­de­ner zur Kom­mu­ni­on. Wol­ton zitiert ihn mit kurio­sen Worten:

„Etwas ist klar und posi­tiv: daß bestimm­te, zu tra­di­tio­na­li­sti­sche Krei­se es bekämp­fen, indem sie sagen, daß es nicht die wah­re Leh­re ist.“

Der Papst bezeich­ne­te es als „posi­tiv“, daß „tra­di­tio­na­li­sti­sche Krei­se“ Amo­ris lae­ti­tia bekämp­fen. Er stellt die­se „bestimm­ten Krei­se“ in eine Rei­he mit den von ihm im Satz zuvor kri­ti­sier­ten Pha­ri­sä­ern und wer­tet die­se Ableh­nung offen­bar als Güte­sie­gel und Beleg, den rich­ti­gen Weg ein­ge­schla­gen zu haben.

Im wei­te­ren Gespräch unter­schei­det Fran­zis­kus zwi­schen der Tra­di­ti­on und einer „tra­di­tio­na­li­sti­schen Ideo­lo­gie“. Die Tra­di­ti­on wach­se durch den „Dia­log mit der Welt“. „Der Dia­log läßt wach­sen.“ Wer kei­nen Dia­log pflegt „bleibt ver­schlos­sen, klein, ein Zwerg“.

Die Enthüllungen

Das Buch sorg­te in den Mas­sen­me­di­en weni­ger wegen die­ser Aus­sa­gen für Auf­se­hen, son­dern des­halb, weil Fran­zis­kus dar­in ent­hüll­te, am Ende sei­ner Zeit als Jesui­ten­pro­vin­zi­al von Argen­ti­ni­en, im Alter von 42 Jah­ren, für ein hal­bes Jahr die Hil­fe einer jüdi­schen Psy­cho­lo­gin bean­sprucht zu haben. 

Eben­so ent­hüll­te er, sein Ver­ständ­nis von Volk, das bereits eini­ge Rät­sel auf­gab, vom deutsch­stäm­mi­gen, argen­ti­ni­schen Phi­lo­so­phen (Gün­ther) Rodol­fo Kusch über­nom­men zu haben. 

Domi­ni­que Wol­ton kon­zen­triert sich in sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Arbeit vor allem auf poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on. Er war Direk­tor am bekann­ten, fran­zö­si­schen Zen­trum für wis­sen­schaft­li­che Grund­la­gen­for­schung Cent­re natio­nal de la recher­che sci­en­ti­fi­que (CNRS), das mit einem Mil­li­ar­den­haus­halt und mehr als 30.000 Mit­ar­bei­tern aus­ge­stat­tet ist. Dort grün­de­te er das Insti­tut für Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaf­ten, das er bis 2013 lei­te­te. Er ist nach wie dort Schrift­lei­ter der von ihm 1988 gegrün­de­ten Fach­zeit­schrift Her­mès, die vom CNRS her­aus­ge­ge­ben wird.

Das Kommunikationsmodell von Papst Franziskus

Der Vati­ka­nist San­dro Magi­ster ver­gleicht die „Nähe“, die durch das Gesprächs­buch zwi­schen Papst Fran­zis­kus und Wol­ton ent­stan­den ist, mit der zwi­schen Fran­zis­kus und dem ita­lie­ni­schen Jour­na­li­sten Euge­nio Scal­fa­ri,

„einem ande­ren Mei­ster der Gott­lo­sen, der vom Papst mehr­fach zu Gesprä­chen geru­fen wur­de mit der Gewiß­heit, daß Scal­fa­ri anschlie­ßend ihr Gespräch auf sei­ne Wei­se nie­der­schrei­ben und ver­öf­fent­li­chen wür­de, zur Erbau­ung eines guten Images für Fran­zis­kus in par­ti­bus infi­de­li­um“.

Auch das, so Magi­ster, ist Teil „des Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dells, das Berg­o­glio liebt“. Warum?

„Weil er in einem Inter­view mit einem geeig­ne­ten Gesprächs­part­ner einem brei­ten Publi­kum mehr sagen kann, als in den offi­zi­el­len Tex­ten. Er kann den Schlei­er lüf­ten zu sei­nem wirk­li­chen Denken.“

Die „radikalste“ Botschaft und die „leichten Sünden“

Magi­ster wirft einen Blick in Wol­tons Gesprächs­buch, um das Gesag­te zu erklä­ren. Dar­in erklärt Papst Fran­zis­kus, ein Jah­re vor dem jüng­sten Miß­brauchs­skan­dal durch den Penn­syl­va­nia Report und das Viganò-Dos­sier, war­um für ihn der sexu­el­le Miß­brauch durch Kle­ri­ker „nicht so sehr ein Pro­blem von Moral und Sex ist, son­dern der Macht und beson­ders der kle­ri­ka­len Macht, die er im Wort ‚Kle­ri­ka­lis­mus‘ verdichtet“.

Und noch ein Beispiel:

Als Wol­ton ihn fragt, war­um nicht stär­ker die „radi­kal­ste“ Bot­schaft des Evan­ge­li­ums zu hören sei, „die Ver­ur­tei­lung des Geld­wahn­sinns“ ant­wor­tet Franziskus:

„Das ist so, weil gewis­se in ihren Pre­dig­ten und auf den theo­lo­gi­schen Lehr­kan­zeln lie­ber über Moral reden. Es gibt eine gro­ße Gefahr für die Pre­di­ger, und das ist, nur die Moral zu ver­ur­tei­len, die – mit Ver­laub – unter der Gür­tel­li­nie liegt. Aber von den ande­ren Sün­den, die die schwer­wie­gend­sten sind: der Haß, der Neid, der Stolz, die Eitel­keit, den Ande­ren zu töten, das Leben zu neh­men…, von ihnen wird kaum gere­det. In die Mafia ein­zu­tre­ten, gehei­me Abkom­men zu tref­fen… ‚Bist Du ein gute Katho­lik? Also zahl mir Bestechungsgeld.‘“

Und Fran­zis­kus weiter:

„Die Sün­den des Flei­sches sind die leich­te­sten Sün­den. Weil das Fleisch ist schwach. Die gefähr­lich­sten Sün­den sind die des Gei­stes. Ich spre­che vom Ange­lis­mus: Stolz, Eitel­keit sind Sün­den des Ange­lis­mus. Die Prie­ster haben die Ver­su­chung – nicht alle, aber vie­le –, sich auf die Sün­den der Sexua­li­tät zu fokus­sie­ren, die ich die Moral unter der Gür­tel­li­nie nen­ne. Aber die schwe­ren Sün­den sind woanders.“

Ange­lis­mus, „engel­haf­ter“ Schein, meint im Spa­ni­schen eine intel­lek­tu­el­le Perversion.

Wol­ton ant­wor­tet im Buch: „Aber das, was sie sagen, wird nicht verstanden.“

Papst Fran­zis­kus: „Nein, aber es gibt gute Prie­ster… Ich ken­ne einen Kar­di­nal, der ein gutes Bei­spiel ist. Er hat mir anver­traut, indem er von die­sen Din­gen sprach, daß er, sobald jemand zu ihm kommt, um über die­se Sün­den unter der Gür­tel­li­nie zu kla­gen, sagt: ‚Ich habe ver­stan­den. Kom­men wir zum näch­sten The­ma‘. Er stoppt sofort, als wür­de er sagen: ‚Ich habe ver­stan­den, aber schau­en wir, ob du etwas Wich­ti­ge­res hast. Betest du? Suchst du den Herrn? Liest du das Evan­ge­li­um?‘ Er gibt zu ver­ste­hen, daß es Feh­ler gibt, die sehr viel wich­ti­ger sind, als die da. Ja, es ist eine Sün­de, aber… Er sagt ihnen: ‚Ich habe ver­stan­den‘ und geht zu ande­rem über. Umge­kehrt gibt es gewis­se, die, wenn sie in der Beich­te von einer sol­chen Sün­de hören, nach­fra­gen: ‚Wie hast du das gemacht, und wann hast du das gemacht, und wie lan­ge hast du das gemacht?‘… Und sie machen sich einen ‚Film‘ in ihrem Kopf. Aber die brau­chen einen Psychiater.“

Minimalisieren der Sünden „unter der Gürtellinie“

Die Papst­rei­se nach Pana­ma fin­det einen Monat vor dem Miß­brauchs­gip­fel statt, den Fran­zis­kus für den 21.–24. Febru­ar in den Vati­kan ein­be­ru­fen hat. Dazu Magister:

„Es wird inter­es­sant sein, zu sehen, wie Fran­zis­kus bei die­sem Gip­fel sein Mini­ma­li­sie­ren der Schwe­re der Sün­den, die er als ‚unter der Gür­tel­li­nie‘ bezeich­net, mit der star­ken Beto­nung des Macht­miß­brauchs der Kle­ri­ker­ka­ste in Ein­klang brin­gen wird, die er mehr­fach als Haupt­ur­sa­che des Desa­sters stigmatisierte.“

Und wei­ter:

„Nicht nur das. Man wird viel­leicht auch etwas genau­er ver­ste­hen, in wel­chem Maß sein Mini­ma­li­sie­ren der sexu­el­len Sün­den – und der im Kle­rus ver­brei­te­ten Pra­xis der Homo­se­xua­li­tät – sein Schwei­gen und sei­ne Tole­ranz gegen­über kon­kre­ten Miß­brauchs­fäl­len erklärt, began­gen von von Kir­chen­ver­tre­tern, auch hoch­ran­gi­gen, die von ihm geschätzt und begün­stigt wurden.“

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Vati​can​.va (Screen­shot)

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