
Von Roberto de Mattei*
Während das Jahr 2018 zu Ende geht, ist noch ein Wort zur Kulturrevolution von 1968 zu sagen. 50 Jahre danach können wir den Erfolg und das Scheitern dieser Revolution bemessen.
1968 wurde auch als „französischer Mai“ bekannt, weil es sich um Studentenunruhen handelte, die ihren Höhepunkt im Mai 1968 an der Universität Sorbonne in Paris erreichten. Die kulturellen Wurzeln gehen jedoch auf die amerikanischen Universitäten von Harvard, Berkeley und San Diego zurück, wo in den 60er Jahren einige der führenden Vertreter der Frankfurter Schule lehrten wie Herbert Marcuse, in dessen Denken das Schlimmste des Marxismus und Freudianismus zusammenfloß. Nicht zu vernachlässigen ist zudem der Einfluß, den die Kulturrevolution des Zweiten Vatikanischen Konzils auf ′68 hatte. Die erste Universität, die in Italien von den Studenten besetzt wurde, war im November 1967 die Cattolica in Mailand [Katholische Universität vom Heiligen Herzen, Anm. GN], und das Hauptzentrum, aus dem sich der Widerspruch ausbreitete, war die Soziologische Fakultät der Universität Trient, an der sich besonders viele Katholiken konzentrierten. Mario Capanna, einer der Anführer des Protestes in jenen Jahren, erinnert sich:
„Wir verbrachten ganze Nächte, um die Theologen zu studieren und zu diskutieren, die damals als Avantgarde galten: Rahner, Schillebeeckx, Bultmann (…) und die Konzilsdokumente“.
Auch Renato Curcio, der Gründer der Terrororganisation Rote Brigaden war ein Katholik „der Avantgarde“. Er kam von der Universität Trient, dem Zentrum der progressiven Katholiken.
′68 war keine politische Revolution, sondern eine moralische Revolution, die beabsichtigte, den Menschen von den traditionellen Moralvorstellungen zu „befreien“, um eine „herrschaftsfreie Gesellschaft“ zu errichten, in der die Lebensenergie sich spontan in einer neuen sozialen Kreativität ausdrückt. Der Marxismus war dahingehend zu überwinden, weil er seine revolutionäre Offensive nur auf den politischen Aspekt im engeren Sinn beschränkte, ohne auf den wirklich familiären und persönlichen Bereich einzuwirken. Die Revolution sollte hingegen in das tägliche Leben hineingetragen werden, um das Wesen des Menschen selbst zu verändern, ohne sich auf den äußeren und oberflächlichen Aspekt zu beschränken, zu dem sie die klassische, marxistische Perspektive zu verurteilen schien. Die Parole „Verbieten verboten“ brachte die Ablehnung jeder Autorität und jedes Gesetzes zum Ausdruck im Namen einer Befreiung der Instinkte, der Bedürfnisse und der Wünsche. Die sexuelle Freiheit und die Drogen waren die beiden Zutaten, um die neue Lebensphilosophie zu bekräftigen.
Das Wesen jeder Revolution
In den 50 Jahren, die uns von 1968 trennen, wurde das Programm dieser Revolution im Westen schrittweise verwirklicht. Die 68er-Revolution hatte Erfolg, weil sie die Mentalität und den Way of Life des westlichen Menschen verändert hat. Ihre Urheber haben Schlüsselpositionen in Politik, Medien und Kultur eingenommen. Die 68er-Revolution war aber zum Scheitern verurteilt wegen der inneren Dynamik, die alle Revolutionen kennzeichnet.
Das Wesen des revolutionären Prozesses liegt nicht in dem, was er bejaht, sondern in dem, was er verneint, nicht in dem, was er schafft, sondern in dem, was er zerstört. Die Revolution will immer eine neue Welt, die die alte ersetzt. Die protestantische Revolution trat als religiöse Erneuerung auf, die französische Revolution als radikaler politischer Wandel, die kommunistische Revolution als egalitärer Umbau der Gesellschaft, die 68er-Revolution als moralische Revolution des täglichen Lebens. Es gibt immer eine historische Neuheit, für die man kämpft. Die Revolution ist eine Spannung, die eine bessere Zukunft zum Ziel hat.
Aus diesem messianischen und utopischen Charakter bezieht die Revolution ihre Kraft und ihre Spannung. Dahinter steht die Idee, daß das Paradies auf Erden möglich, ja in Reichweite ist. Unter einem gewissen Aspekt handelt es sich dabei um eine radikale Leugnung der Ursünde, auch wenn die Idee, die der Revolution zugrunde liegt, eine ganz andere ist: Es ist die typische Idee der gnostischen Lehren, daß ein böser Gott den Menschen zu Unrecht seines irdischen Paradieses beraubte, das ihm von Rechts wegen gehört. Mit Hilfe des guten Gottes, der Schlange, muß sich der Mensch rächen und das irdische Paradies zurückerobern. Die Revolution ist unter diesem Aspekt, durch die Jahrhunderte hindurch, die Wiederholung der alten Lüge: „Ihr werdet sein wie Gott“ und zum ewigen Scheitern verdammt. Alle Revolutionen, die protestantische, die französische, die kommunistische und die Revolution der 68er, sind gescheiterte Revolutionen. Oder wie die Revolutionäre sagen: unvollendete Revolutionen, verratene Revolutionen.
Was ist nämlich geschehen? Die Familie wurde von der pansexualistischen Welle überrollt, und der säkularisierte Westen ist in den relativistischen Hedonismus eingetaucht. Der Relativismus und der Hedonismus, sobald sie zur vollen Entfaltung kommen, verlieren die innere, zukunftsorientierte Spannung, die in jedem Wunsch steckt, eine neue Welt zu bauen: Die Gesellschaft wird zur Gefangenen der eigenen Laster und unfähig, noch irgendeine Idee zu denken, die über das egoistische Eigenwohl hinausgeht, in das man eingetaucht ist.
Die 68er-Revolution ist gescheitert
Die 68er-Revolution ist gescheitert, weil sie als Protest gegen die eindimensionale Gesellschaft entstanden ist, nämlich die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft, aber die Gesellschaft, die ′68 hervorgebracht hat – die heutige Gesellschaft – die Konsumgesellschaft und die des Hedonismus par excellance ist. Es ist die relativistische Gesellschaft, in der jede Flamme des Ideals erstickt ist. Die Philosophie der Praxis wurde im Westen durch eine absolute Säkularisierung des sozialen Lebens verwirklicht. Die Philosophie der Praxis, wenn sie sich politisch verwirklicht, hört aber auf, Philosophie zu sein und wird zur reinen Praxis: das Reich der egoistischen und materialistischen Interessen und der Ort der reinen Gewaltbeziehungen in einer Gesellschaft, die aller Ideale entleert ist, weil ihre christlichen Wurzeln abgeschnitten wurden. In einer solchen Gesellschaft der Fragmentierung und der sozialen Auflösung ist aber kein Platz mehr für den revolutionären Mythos von der neuen Welt, weil die Idee der Revolution ihre Bedeutung verliert. Heute wird die Wirklichkeit als System der Mächte, vor allem der ökonomischen Mächte, und nicht der Werte verstanden. Die Macht, eine Macht ohne Wahrheit, ist der einzige Wert unserer Zeit. Alle Werte, beobachtete der Philosoph Augusto Del Noce, werden der Kategorie der Lebenskraft einverleibt. Eine Gesellschaft, die aber kein anderes Prinzip kennt außer die reine Expansion der Lebenskraft, kann sich nur auflösen. Das Ergebnis ist der Nihilismus, der nichts anderes ist als die Selbstzerstörung der Gesellschaft.
Wir haben diese Umkehrung der Revolution mit dem Aufstieg der 68er an die Hebel der Macht erlebt. Die 68er-Utopie wurde zur relativistischen und hedonistischen, zur zynischen und konformistischen Praxis der Linken, die nur mehr daran interessiert ist, die errungenen Machtpositionen zu behaupten.
Die Revolution von ′68 ist gescheitert, weil ihr Motto zwar lautete: „Verbieten verboten“, aber die heutige Gesellschaft eine in der Geschichte beispiellose Diktatur ist: die Diktatur des Relativismus, eine psychologische und moralische Diktatur, die nicht die Körper zerstört, aber die Seelen jener isoliert, diskriminiert und tötet, die sich ihr widersetzen. Dennoch ist heute ein breiter Widerstand vorhanden. Die 68er-Propheten haben den Tod der Familie vorausgesagt, und die Familie ist heute tatsächlich in der Krise, aber es ist ihnen nicht gelungen, den natürlichen Wunsch auszulöschen, der im Herzen eines jeden Menschen vorhanden ist, eine stabile Familie zu gründen, die dauerhaft Bestand hat und sich durch Fruchtbarkeit auszeichnet. Heute entstehen auf der ganzen Welt Bewegungen zur Verteidigung des Lebens und der Familie.
Die 68er-Propheten haben den Tod des Staates vorausgesagt, und der Staat ist tatsächlich in der Krise, aber es ist ihnen nicht gelungen, den Wunsch zu beseitigen, der in der Natur des Menschen liegt, nach einer nationalen Zugehörigkeit und nach einer kulturellen Identität, die in einer Nation und in einem Staat wurzelt. Heute erleben in Europa jene politischen Parteien einen Aufstieg, die die Identität und die Souveränität der Nationalstaaten verteidigen.
Die ′68er-Propheten haben den Tod der Religion vorausgesagt, doch Gott ist nicht tot. Er ist zurückgekehrt, oder besser, er hat sich nie entfernt. Es sind wir, die zu ihm zurückkehren. Heute ist die progressive Kultur in der Krise, und die jungen Menschen sehen ihre Zukunft wieder verstärkt in der immerwährenden Tradition der Kirche.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Ausgezeichnete Analyse! Eine gelungene Zusammenfassung der Ursachen für die grossen Schwierigkeiten, in denen wir, bzw. hauptsächlich der dekadente Westen, stecken. Ein grosses Problem ist, dass dadurch der Westen den Ideologien Asiens (z.B. China) nicht mehr genügend gewappnet ist, da der Westen seine Wurzeln, welche seinen Aufstieg überhaupt ermöglichten, bekämpft, ja gar verleugnet.