NS-November-Pogrom gegen Juden in zwei Landgemeinden

80 Jahre Reichskristallnacht - Teil 1


NS-Schergen demolierten die Inneneinrichtung der Frickhöfer Synagoge und machten den Gebetsraum zu einem Tohuwabohu
NS-Schergen demolierten die Inneneinrichtung der Frickhöfer Synagoge und machten den Gebetsraum zu einem Tohuwabohu.

Ein Gast­bei­trag von Hubert Hecker.

Anzei­ge

Am 9. Novem­ber 2018 sind es 80 Jah­re her, dass auf­ge­hetz­te Nazi-Täter in der scheuß­li­chen Pogrom­nacht 1938 die Juden in Deutsch­land ter­ro­ri­sier­ten. Auch in den bei­den Wester­wald­ge­mein­den Frick­ho­fen und Lan­gen­dern­bach, heu­te Orts­tei­le von Dorn­burg, in denen damals Juden wohn­ten, drang­sa­lier­ten ört­li­che SA-Leu­te ihre jüdi­schen Mit­bür­ger. Sie zer­stör­ten die Innen­ein­rich­tun­gen der bei­den Syn­ago­gen und drang­sa­lier­ten die jüdi­schen Fami­li­en in ihren Wohn­häu­sern. Ein hal­bes Dut­zend jüdi­sche Män­ner aus den bei­den Orten wur­den für eini­ge Mona­te ins KZ Buchen­wald verbracht.

Gut-nachbarschaftliche Beziehungen zwischen christlichen und jüdischen Dorfbewohner

Mit dem Pogrom woll­ten die damals dik­ta­to­risch herr­schen­den Nazis in Par­tei und Staat ein Signal set­zen für die „Aus­wan­de­rung aller im Reichs­ge­biet leben­den Juden“ – so der Juden­re­fe­rent Dr. Emil Schum­berg im Aus­wär­ti­gen Amt. Zugleich mar­kier­te der Novem­ber-Pogrom einen tie­fen Bruch mit der geschicht­li­chen Ent­wick­lung. In den bei­den Wester­wald­dör­fern wur­de eine drei­hun­dert­jäh­ri­ge Tra­di­ti­on von gut­nach­bar­li­cher Bezie­hung zwi­schen jüdi­schen und christ­li­chen Orts­be­woh­nern abge­bro­chen. Bei allen Strei­tig­kei­ten, die es zwi­schen den Dorf­be­woh­nern gab, waren die Juden­fa­mi­li­en über vie­le Gene­ra­tio­nen ein inte­gra­ler Bestand­teil der dörf­li­che Wirt­schaft und Kul­tur, des Frei­zeit- und Ver­eins­le­bens: Man saß gemein­sam auf der Schul­bank, tanz­te mit­ein­an­der auf den Dorf­fe­sten, war Mit­glied in den Ver­ei­nen wie Feu­er­wehr oder Turn­ver­ein, ver­kauf­te und kauf­te von­ein­an­der und saß abends neben­ein­an­der auf den Bän­ken vor den Häusern.

Es gibt aus Lan­gen­dern­bach ein Bild­do­ku­ment von 1925 etwa, das die­se Inte­gra­ti­on in die Dorf­ge­mein­schaft anschau­lich widerspiegelt:

Es gibt aus Langendernbach ein Bilddokument von 1925 etwa, das diese Integration in die Dorfgemeinschaft anschaulich widerspiegelt:30 Män­ner, Frau­en, Kin­der und zwei Hun­de stel­len sich auf der Trep­pe zur Kir­che dem Foto­gra­phen. Es ist die Zeit der Heu­ern­te im Juni. Vier Per­so­nen tra­gen eine Heu­ga­bel. Sie kom­men gera­de vom Heu­wen­den von der Wie­se über die Dorf­stra­ße, als die 70jährige Jüdin Pau­li­ne Ben­ja­min (1. Rei­he, drit­te von rechts), die gegen­über der Kir­che wohnt, die Heu-Leu­te sowie Nach­barn anspricht: „Kommt doch mit aufs Bild! Unse­re Bil­la (ihre Toch­ter, links neben ihr) ist aus Bel­gi­en zu Besuch gekom­men. Auch der Eugen (ihr Sohn, links neben Bil­la) und sei­ne Frau sind hier. Da woll­ten wir doch ein schö­nes Bild von uns allen machen!“ Hier wird auf bild-doku­men­ta­ri­sche Wei­se die gut­nach­bar­schaft­li­che Bezie­hung zwi­schen jüdi­schen und christ­li­chen Dorf­be­woh­nern belegt. Mehr noch: Die Initia­ti­ve für die­se Dar­stel­lung der dörf­li­chen Bevöl­ke­rungs­ge­mein­schaft geht von der Jüdin aus, indem sie die Nach­barn und vor­bei­kom­men­de Dörf­ler zur Auf­stel­lung auf der Kir­chen­trep­pe bit­tet. Auch die öko­no­mi­schen Bezü­ge die­ser Dorf­ge­mein­schaft wer­den sicht­bar: Pau­li­ne und die ande­ren Dörf­ler tra­gen Schür­zen – Zei­chen ihrer haus­frau­li­chen Arbei­ten wie auch als Mit­ar­bei­te­rin­nen im land­wirt­schaft­li­chen Klein­be­trieb. Die Män­ner tra­gen ihre bäu­er­li­che Arbeits­klei­dung. Neben den etwa ein Drit­tel Haus­halts­stel­len als Voll­erwerbs­land­wir­te betrie­ben damals auch die mei­sten Arbei­ter- und Händ­ler­haus­hal­te eine klei­ne Neben­er­werbs­land­wirt­schaft mit einer Kuh, zwei Schwei­nen oder drei Zie­gen und einem Kar­tof­fel­acker. Die Jung­tie­re kauf­ten sie bei den vier jüdi­schen Vieh­händ­lern in Lan­gen­dern­bach und auch beim Ver­kauf der Zie­gen, Käl­ber und Rin­der wand­ten sie sich an Nathan Ben­ja­min, Pau­li­nes Mann. Der ist eben des­halb nicht auf dem Bild zu sehen, weil er tags­über gewöhn­lich in Sachen Vieh­han­del auf den Wester­wald­dör­fern unter­wegs ist.
Die drei in der Bild­mit­te ste­hen­den Juden Eugen Ben­ja­min, sei­ne Schwe­ster Bil­la und sei­ne Frau Sophie unter­schei­den sich in der Klei­dung deut­lich von den übri­gen Dörf­lern. Sie tra­gen kei­ne Arbeits­klei­dung, son­dern reprä­sen­tie­ren die Lan­gen­dern­ba­cher, die als jun­ge Leu­te wegen der Lie­be oder zu Arbeit und Ver­dienst in die Stadt gezo­gen sind und sich nun im fei­nen Stadt­an­zug wie­der ins dörf­li­che Gesamt­bild eingliedern.

Die Nazis vergiften das dörfliche Zusammenleben

In die­sen gut­nach­bar­lich-dörf­li­chen Zusam­men­halt säten die Nazis Schritt für Schritt Zwie­tracht, Angst und Denun­zia­ti­on. Bekannt­lich pro­pa­gier­te das NS-Regime schon zwei Mona­te nach der Macht­er­grei­fung, zum 1. April 1933, einen Boy­kott jüdi­scher Geschäf­te „bis ins letz­te Bau­ern­dorf“, wie es in der Anwei­sung hieß. Die Ent­las­sung jüdi­scher Beam­ter und die Ras­sen­ge­set­ze von 1935 folg­ten. „Bis 1936 aller­dings“, so erin­ner­te sich Sieg­fried Rosen­thal (1919–2007), „hat man in Frick­ho­fen von die­sem Hass der Nazis und ihren Aus­wir­kun­gen noch wenig gespürt.“ Doch so rich­tig begin­nen die Schi­ka­nen Ende 1936 – nach den Olym­pi­schen Spie­len in Ber­lin. Die sechs jüdi­schen Vieh­händ­ler in Frick­ho­fen ver­lie­ren ihre Gewer­be­li­zenz. Den­noch ver­kau­fen ihnen die Bau­ern ihr Vieh wei­ter­hin– heim­lich und nachts von der Wei­de. Die NS-Pro­pa­gan­da­or­ga­ne schü­ren anti­se­mi­ti­sche Het­ze. Berufs­ver­bo­te, finan­zi­el­le Aus­plün­de­rung, kul­tu­rel­le Aus­gren­zung und All­tags­schi­ka­ne soll­te die Juden zur Aus­wan­de­rung trei­ben und selbst dabei wur­den sie noch drang­sa­liert. Bis zum Juden­po­grom gelang eini­gen jün­ge­ren Leu­ten aus Frick­ho­fen und Lan­gen­dern­bach die Aus­rei­se. Ande­re flüch­te­ten in die Anony­mi­tät der Städ­te zu Ver­wand­ten, um dem Mob von auf­ge­hetz­ten Hit­ler­jun­gen und fana­ti­schen Nazis zu entgehen.

Die Pogrome im Zusammenhang mit dem drohenden Staatsbankrott

Der Histo­ri­ker Götz Aly weist in sei­nem Buch „Hit­lers Volks­staat“ (2005) dar­auf hin, dass die Novem­ber-Pogro­me als Ergeb­nis der ab Mai 1938 for­cie­re Juden­het­ze durch die gleich­ge­schal­te­te NS-Pres­se im Zusam­men­hang mit den außen­po­li­ti­schen Erfol­gen Hit­lers und den innen­po­li­ti­schen Pro­ble­men der NS-Regie­rung zu sehen sind.

Das NS-Regime befand sich im Jah­re 1938 außen­po­li­tisch auf dem Höhe­punkt sei­ner Macht. Mit der „Heim-ins-Reich“-Holung von Öster­reich (März) und dem Sude­ten­land (Sep­tem­ber) war Hit­lers Popu­la­ri­tät auf einem Hoch­punkt, der spä­ter – auch bei den Sie­ges­mel­dun­gen der Blitz­krie­ge – nicht mehr erreicht wer­den soll­te. „Der Füh­rer“ hat­te gezeigt, was ihm vie­le nicht zuge­traut hat­ten, dass er fried­lich und mit Zustim­mung der euro­päi­schen West­mäch­te das Unrecht des Ver­sailles-Ver­trags auch bei Gebiets­ab­tren­nun­gen rück­gän­gig machen konnte.

Gleich­zei­tig steu­er­te das System mit den über­pro­por­tio­na­len Rüstungs­aus­ga­ben auf einen Staat­bank­rott zu. Unter die­sen Bedin­gun­gen ließ die NS-Füh­rung 1938 den Drang­sa­lie­rungs­druck auf die deut­schen Juden erhö­hen, um sie zu ent­eig­nen und zu ver­trei­ben. Im April 1938 fand eine Mini­ster­be­spre­chung unter dem Vor­sitz Görings statt zur Erör­te­rung der „end­gül­ti­gen Aus­schal­tung der Juden aus dem Wirt­schafts­le­ben“ mit dem Ziel, das zugriffs­fä­hi­ge jüdi­sche Ver­mö­gen von etwa 7 Mrd. Reichs­mark über Abga­ben und Zwangs­um­tausch in Staats­pa­pie­re für den Zugriff des Staa­tes ver­füg­bar zu machen. Man kann davon aus­ge­hen, dass die im Lau­fe des Jah­res 1938 zuneh­men­de Juden­het­ze des NS-Systems die öffent­li­che Mei­nung so vor­be­rei­ten und auf­hit­zen soll­te, bis ein geeig­ne­ter Zeit­punkt für den ent­spre­chen­den „Juden­schlag“ gefun­den wäre. Die­ser Punkt war Anfang Novem­ber erreicht. Am 10 Novem­ber, dem Tag nach den Haupt­pogro­men und beglei­tet von der NS-Empö­rungs-Pro­pa­gan­da um den Tod des Diplo­ma­ten vom Rath, setz­te die Reichs­re­gie­rung den lan­ge vor­be­rei­te­ten Erlass in Kraft, mit dem über die ver­mö­gen­den Juden in Deutsch­land eine „Juden­bu­ße“ von einer Mrd. Reichs­mark ver­hängt wur­de, zu zah­len in vier Raten. Mit einer zwei­ten Durch­füh­rungs­ver­ord­nung kurz nach Kriegs­be­ginn wur­de eine wei­te­re „Süh­ne­lei­stung“ von 1,2 Mrd. Reichs­mark ein­ge­for­dert. Zusam­men mit der Reichs­flucht­steu­er stamm­ten im letz­ten Vor­kriegs­jahr neun Pro­zent der Reichs­ein­nah­men aus Ari­sie­rungs­er­lö­sen. Der Staats­bank­rott war aufgeschoben.

Goebbels hetzt, um an die jüdischen Vermögenswerte zu kommen

Schon am 7. Novem­ber 1938 waren die Spit­zen von NS-Par­tei, SS und SA in Mün­chen ver­sam­melt, um die Gedenk­fei­ern für die Gefal­le­nen des Hit­ler-Put­sches vom 9. 11. 1923 vor­zu­be­rei­ten. In die­se Bera­tun­gen platz­te die Nach­richt, dass der 17jähriger Jude Her­schel Grynz­span auf den deut­schen Gesandt­schafts­se­kre­tär Ernst vom Rath ein Atten­tat ver­übt hat­te. Pro­pa­gan­da­mi­ni­ster Goeb­bels ließ in der gleich­ge­schal­te­ten Pres­se die­se Tat eines ver­zwei­fel­ten Ein­zel­nen als geplan­tes Ver­bre­chen der jüdi­schen Welt­ver­schwö­rung gegen Deutsch­land deu­ten, die den „Volks­zorn“ und die Rache aller Deut­schen her­aus­for­dern wür­de. So ließ er im Völ­ki­sche Beob­ach­ter am 8. 11. 1938 im Leit­ar­ti­kel schreiben:

„Es ist klar, daß das deut­sche Volk aus die­ser neu­en Tat sei­ne Fol­ge­run­gen zie­hen wird. Es ist ein unmög­li­cher Zustand, daß in unse­ren Gren­zen Hun­dert­tau­sen­de von Juden noch gan­ze Laden­stra­ßen beherr­schen, Ver­gnü­gungs­stät­ten bevöl­kern und als ‚aus­län­di­sche‘ Haus­be­sit­zer das Geld deut­scher Mie­ter ein­stecken, wäh­rend ihre Ras­se­ge­nos­sen drau­ßen zum Krieg gegen Deutsch­land auf­for­dern und deut­sche Beam­te niederschießen.“

Bemer­kens­wert deut­lich zielt die offi­zi­el­le NS-Pres­se auf die Ver­mö­gens­wer­te der Juden, gegen die „das deut­sche Volk“ ange­hen sollte.

Noch am glei­chen Tag brann­ten SA-Leu­te in Kur­hes­sen und Mag­de­burg die ersten Syn­ago­gen nie­der und plün­der­ten jüdi­sche Läden. Von Mün­chen aus instru­ier­te die Par­tei- und SA-Füh­rung über die Gau­lei­ter die regio­na­len Orga­ne, den „Juden­schlag“ als Volks­zorn­ak­ti­on zu orga­ni­sie­ren. Dabei soll­ten die ört­li­chen SA-Ein­hei­ten die Akti­on aus­füh­ren, Poli­zei und Feu­er­wehr dürf­ten nur „zum Schutz ari­scher Nach­bar­häu­ser“ auf­tre­ten und die SS müss­te sich zurück­hal­ten. Von daher ist die ‚Erfolgs­mel­dung’ des Lim­bur­ger SS-Sturm­banns II/​78 von der „Son­der­ak­ti­on am 9.10. Novem­ber“ irre­füh­rend und teil­wei­se auch unzu­tref­fend – etwa mit der Behaup­tung, dass die Syn­ago­gen in Hada­mar „abge­brandt“ und in Frick­ho­fen „ver­nich­tet“ wäre.

Der SS-Sturmbann Limburg wollte sich mit fremden SA-Federn von Synagogenzerstörung schmücken, zeigte aber mit seinen falschen Angaben, dass er nicht vor Ort war. Im Bild rechts der Eingang der Frickhöfer Synagoge nach der Pogrom-Nacht. Das Foto links zeigt das Frickhöfer Rathaus mit dem Emblem der „Deutschen Arbeitsfront“.Der SS-Sturm­bann Lim­burg woll­te sich mit frem­den SA-Federn von Syn­ago­gen­zer­stö­rung schmücken, zeig­te aber mit sei­nen fal­schen Anga­ben, dass er nicht vor Ort war. Im Bild rechts der Ein­gang der Frick­hö­fer Syn­ago­ge nach der Pogrom-Nacht. Das Foto links zeigt das Frick­hö­fer Rat­haus mit dem Emblem der „Deut­schen Arbeitsfront“.

Mikro-Studie zu Nazis und Bevölkerung in zwei Westerwalddörfern

Am frü­hen Abend des 9. Novem­bers setz­ten die SA-Füh­rer von Frick­ho­fen und Lan­gen­dern­bach fest, dass die bei­den SA-Trupps jeweils in den Nach­bar­or­ten die Pogrom-Akti­on durch­füh­ren soll­ten. Drei bis vier orts­kun­di­ge SA-Leu­te soll­ten aller­dings vor Ort blei­ben, um die aus­wär­ti­gen SA-Trupps an die Juden­häu­ser und Syn­ago­ge her­an­zu­füh­ren und die Zer­stö­rungs­ak­ti­on zu leiten.

Der Grund für die­se Rocha­de der Schlä­ger­trupps war, dass man bei den ört­li­chen SA-Leu­ten Hem­mun­gen befürch­te­te, wenn sie die Juden der eige­nen Gemein­de attackie­ren soll­ten, mit denen sie Nach­barn waren, zusam­men in der Schul­bank geses­sen oder Geschäf­te gemacht hat­ten. Denn selbst mit die­sem Aus­wärts­ein­satz gab es in Frick­ho­fen min­de­stens vier SA-Män­ner, die sich wei­ger­ten, am Juden­schlag teilzunehmen.

Drangsalierung und Demütigung der Juden im Ort

Die Frick­hö­fer SA-Leu­te ver­sam­mel­ten sich am frü­hen Abend in ihrem Stamm­lo­kal und wur­den von dort in den etwa vier Kilo­me­ter ent­fern­ten Nach­bar­ort beor­dert. Die Lan­gen­dern­ba­cher SA-Lei­tung emp­fing die Frick­hö­fer Sturm-Abtei­lung am Orts­ein­gang und führ­te sie zu dem Haus des Vieh­händ­lers Nathan Ben­ja­min, das gegen­über der Kir­che stand. Der Rab­bi, wie er als Syn­ago­gen­vor­ste­her im Ort genannt wur­de, war damals schon 81 Jah­re alt. Zunächst war­fen die SA-Leu­te in dem zwei­stöcki­gen Haus der Ben­ja­mins die Schei­ben ein. Dabei wur­de anschei­nend Nathans Frau Pau­li­ne getrof­fen. Denn sie habe geschrien, ganz erbärm­lich geschrien, berich­te­ten die Nach­barn. Man spürt bei der Zeit­zeu­gen­be­fra­gung noch heu­te, wie erschüt­tert die angren­zen­den Bewoh­ner waren, als die SA-Hor­de auf die Juden ein­schlug. „Das waren doch unse­re Nach­barn“, sag­te eine Lan­gen­dern­ba­che­rin, die als 12jähriges Mäd­chen vom Zim­mer ihrer wei­nen­den Oma aus das Trei­ben der Nazi-Scher­gen mit­be­kam. „Die Pau­li­ne Ben­ja­min war eine gute Frau, die hat mit der offe­nen Schür­ze die Oster­mat­zen zu den Nach­barn getra­gen.“ Spä­ter sah das Mäd­chen, wie einer der SA-Schlä­ger in das Haus ging, dem „Jure Nade“, wie man in Lan­gen­dern­bach sag­te, ein Strickel­chen um den Hals leg­te und ihn dann wie ein Stück Vieh aus der Haus­tür zerr­te. Die umste­hen­den SAler gröl­ten dazu und ver­stärk­ten damit die Demü­ti­gungs­wir­kung für den jüdi­schen Vieh­händ­ler, der 60 Jah­re lang den Bau­ern in Lan­gen­dern­bach das Jung­vieh ver­kauft und das Schlacht­vieh abge­nom­men hatte.

Ähn­li­che Zer­stö­run­gen und Drang­sa­lie­run­gen ver­üb­ten die Frick­hö­fer SA-Leu­te bei den ande­ren Juden­häu­sern in Lan­gen­dern­bach. Min­de­stens vier Lan­gen­dern­ba­cher Juden wur­den abge­führt und spä­ter ins KZ Buchen­wald verbracht.

Mit der Axt gegen Synagoge und Vorsteher

Auch in die Syn­ago­ge drang man gewalt­sam ein und zer­stör­te die Innen­ein­rich­tung. Das jüdi­sche Bet­haus mit­ten im Dorf bot im zwei­ten Stock Platz für 30 Män­ner und 15 Frau­en. Die Lan­gen­dern­ba­cher Juden hat­ten dort seit 1868 ihre Got­tes­dien­ste gefei­ert. Auch Beschnei­dun­gen wur­den hier vor­ge­nom­men – unter Auf­sicht der Heb­am­me vom Ort.
Am näch­sten Tag (10. Nov.) hol­ten die Nazis unter der Lei­tung eines SA-Manns aus Wester­burg die Bücher und Schrift­rol­len aus der Syn­ago­ge und ver­brann­te sie auf der Stra­ße. Schul­kin­der stan­den dabei und sahen, wie der „Rab­bi Nade“ mit schwar­zem Rock und Hom­ber­ger-Hut die Stra­ße her­un­ter­kam. Einer der SA-Leu­te stand auf und ging mit umge­wen­de­ter Axt auf den Jure Nade zu – der sich nach einer Schreck­se­kun­de umwand­te und zurückging.

Die Hitler-Leute terrorisieren die Mehrheit

In dem Bauern‑, Hand­wer­ker- und Händ­ler­dorf Lan­gen­dern­bach hat­ten bei den letz­ten frei­en Wah­len 1932 nur 25 Pro­zent die Hit­ler-Par­tei gewählt, rund 10 Pro­zent weni­ger als im Reichs­durch­schnitt. Über 60 Pro­zent hiel­ten wei­ter­hin treu zur Zen­trums­par­tei und damit zur Ori­en­tie­rung an Leh­re und Welt­an­schau­ung der katho­li­schen Kir­che. Aus dem Pool der NSDAP-Wäh­ler rekru­tie­ren sich nach der Macht­er­grei­fung die wach­sen­den NS-Orga­ni­sa­tio­nen wie Par­tei, SA, NS-Frau­en­schaft u. a. Die Zah­len­ver­hält­nis­se der bei­den gro­ßen Welt­an­schau­ungs­blöcke mögen sich nach 1933 etwas ver­scho­ben haben, aber die Nazi-Anhän­ger hat­ten nach Ein­schät­zung der Zeit­zeu­gen nie die Mehr­heit im Ort. Auch in den fol­gen­den Jah­ren, als die „Hit­ler-Leu­te“ im Dorf groß­spu­rig auf­trumpf­ten, hielt die Resi­stenz und Reser­viert­heit der Zen­trums­wäh­ler im wesent­lich an. Ins­be­son­de­re die bru­ta­len Attacken auf die jüdi­schen Nach­barn in der Pogrom-Nacht lehn­te die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Lan­gen­der­ba­cher ab.

Das Dorf war gespal­ten – und das in allen Lebens­be­rei­chen wie etwa in der Schu­le. „Unser Haupt­leh­rer Schif­fer“, so eine Zeit­zeu­gin, „der war bestimmt kein Hit­ler und die Frau Kun­kel auch nicht. Aber der Leh­rer Korn war ein Hit­ler­mann. Wenn unse­re Eltern etwas gegen Hit­ler sagen wür­den und wir kei­ne Cou­ra­ge hät­ten, sie anzu­zei­gen, dann soll­ten wir es ihm sagen. Er wür­de dafür sor­gen, dass sie dahin kämen, wo sie hin­ge­hör­ten.“ Auch das jüdi­sche Schul­kind Ilse, Enke­lin von Pau­li­ne und Nathan Ben­ja­min, wur­de von ihm gestriezt, schi­ka­niert und geschlagen.

Notverkäufe und Fluchtgeld-Unterstützung

Schon vor der Pogrom­nacht plan­ten Ilses Eltern die Flucht nach Hol­land. Zur Finan­zie­rung ver­such­ten sie ein Acker­grund­stück an eine wohl­wol­len­de Fami­lie im Ort zu ver­kau­fen. Der Nazi-Bür­ger­mei­ster woll­te den Kauf nicht geneh­mi­gen, weil bil­li­ge Juden­grund­stücke nur für Par­tei­mit­glie­der reser­viert wären. Schließ­lich kam es zu fol­gen­des Ver­fah­ren: Im offi­zi­el­len Ver­kaufs­ver­trag wur­de ein sehr nied­ri­ger Preis ein­ge­tra­gen, die Dif­fe­renz zum rea­len Wert gab die Fami­lie den Juden unter der Hand – Flucht­geld gewis­ser­ma­ßen. Alle Geschäf­te und Trans­ak­tio­nen wur­den zum Schutz vor Nazi-Denun­zi­an­ten im Stall getätigt.

Ilse Ben­ja­min wur­de zusam­men mit ihrem Cou­sin Wer­ner bei ihrer Tan­te Bil­la in Brüs­sel unter­ge­bracht. Als die deut­sche Wehr­macht seit 1940 Bel­gi­en besetzt hielt und Juden-Raz­zi­en betrieb, soll­ten Ilse und Wer­ner bei Non­nen ver­steckt wer­den, die auf die­se Wei­se 27 jüdi­schen Kin­dern Flucht und Über­le­ben ermög­lich­ten. Wer­ner kam über Eng­land nach Ame­ri­ka, Ilse woll­te lie­ber zu ihren Eltern nach Hol­land, mit denen sie zusam­men spä­ter depor­tiert wurde.

„Judenknecht und Verräter“

Auch in Lan­gen­dern­bach ver­stärk­ten die Nazis Het­ze und Druck gegen die Juden. Gleich­zei­tig ver­such­te man die juden­freund­li­chen Zen­trums­leu­te ein­zu­schüch­tern. Bei einem Haus­be­sit­zer, der sein obe­res Stock­werk an eine Juden­fa­mi­lie ver­mie­tet hat­te, schrie­ben die Nazis mit roter Far­be „Juden­knecht Ver­rä­ter“ auf die Stra­ße. Eine Frau wur­de zum Bür­ger­mei­ster­amt bestellt, weil sie eine Kar­te zum Post­ein­wurf von Juden mit­ge­nom­men hat­te. Die NS-Frau­en­schafts­füh­re­rin zeig­te mehr­mals Leu­te an, die in dem Laden beim Juden Stern ein­ge­kauft hat­te. Ein 14Jähriger wur­de dafür vom Bür­ger­mei­ster geohrfeigt.

Haftstrafe für eine Milchkanne an die Juden

1941 waren in Lan­gen­dern­bach alle noch ver­blie­be­nen Juden aus ihren Häu­sern ver­trie­ben und in einem Gebäu­de zusam­men­ge­pfercht. Ein­mal ver­such­ten auf­ge­hetz­te BDM-Mäd­chen nach ihrer Grup­pen­stun­de das „Juden­haus“ mit Kie­sel­stei­nen zu attackie­ren. Eine reso­lu­te Nach­ba­rin ver­scheuch­te sie. Die Nazis woll­ten die meist älte­ren Juden-Leu­te völ­lig iso­liert hal­ten, aber im Unter­schied zu mit­tel­al­ter­li­chen Aus­sät­zi­gen­häu­sern durf­ten sie nicht ein­mal bet­teln. Ihr Über­le­ben wur­de nur durch wohl­wol­len­de Nach­barn ermög­licht. Der jun­ge, dienst­ver­pflich­te­te Post­bo­te brach­te fast täg­lich in der Post­ta­sche Lebens­mit­tel von sei­ner Oma ins Juden­haus sowie die Zei­tung vom Vor­tag. Im Schutz der Dun­kel­heit stell­ten Frau­en ins Kel­ler­fen­ster Brot, Kar­tof­feln und Milch­kan­nen. Eine Frau wur­de dabei gese­hen, ange­zeigt, von der Gesta­po abge­holt und zu einer zehn­tä­gi­gen Haft­stra­fe ver­ur­teilt, weil sie einer „Jüdin Man­gel­wa­re hat­te zukom­men las­sen“. Auch der katho­li­sche Pfar­rer, der mit den Unter­stüt­zer­frau­en im Kon­takt stand, kam ins Zucht­haus Preungesheim.

Als durch­sicker­te, dass die Juden fort­ge­schafft wer­den soll­ten, besorg­te sich eine Frau dicke­ren Stoff, um für ihre Freun­din Lil­ly Stern eine Art Trai­nings­an­zug zu nähen. Man glaub­te, dass die Juden in öst­lich-kal­ten Lagern zur Arbeit her­an­ge­zo­gen wür­den. Am 28. August 1942 brach­ten die Nazi-Behör­den die letz­ten zehn Juden aus Lan­gen­dern­bach mit dem Zug nach Frank­furt und depor­tier­ten sie von dort in die NS-Vernichtungslager.

Flucht der Witwe Hofmann, die Männer ins KZ, das Haus an den Nazi-Bürgermeister

Die SA-Trup­pe von Lan­gen­dern­bach war am Abend des 9. Novem­bers nach Abspra­che auf das vier Kilo­me­ter ent­fern­te Frick­ho­fen zumar­schiert. Am Orts­ein­gang wur­den sie von der ört­li­chen SA-Lei­tung instru­iert und zum nächst­lie­gen­den Juden­haus von Dina Hof­mann in der Bahn­hofs­stra­ße geführt. Die Wit­we Hof­mann wohn­te im Erd­ge­schoss und betrieb dort einen Kramladen.

Dina Hofmann, geb. Tobias, seit 1911 Witwe
Dina Hof­mann, geb. Tobi­as, seit 1911 Witwe

Im Ober­ge­schoss wohn­ten Mina und Bert­hold Rosen­thal sowie sei­ne Toch­ter Ida mit ihrem Mann Albrecht Abra­ham und dem halb­jäh­ri­gen Har­ry. Auch hier wur­den zunächst unten und oben die Schei­ben ein­ge­wor­fen. Von dem Klir­ren und Zer­ber­sten der Schei­ben bekam die Akti­on spä­ter den Namen „Kri­stall­nacht“. Einer der Stei­ne lan­de­te nur einen hal­ben Meter neben dem Bett­chen von Har­ry Abra­ham. Danach drang die SA-Hor­de ins Haus ein, schi­ka­nier­te die Bewoh­ner, zer­schlug Woh­nungs­ein­rich­tun­gen und kipp­ten Küchen­ge­fä­ße aus. Jeden­falls wur­de Ida Abra­ham am näch­sten Mor­gen gese­hen, wie sie mit lee­rer Kan­ne durchs Dorf lief auf der Suche nach Milch für den klei­nen Har­ry. Ihr Mann Albrecht war schon in der Nacht abge­führt wor­den wie zwei ande­re Frick­hö­fer Juden und wur­de spä­ter ins KZ Buchen­wald verbracht.

Albrecht Abraham (vorne rechts) bei Planierungsarbeiten im KZ Buchenwald
Albrecht Abra­ham (vor­ne rechts) bei Pla­nie­rungs­ar­bei­ten im KZ Buchenwald

Die schon älte­re Dina Hof­mann flüch­te­te bald nach dem Pogrom zu ihrer Toch­ter Cil­la nach Wald­breit­bach. Bei­de, Mut­ter und Toch­ter, wur­den ab 1942 in einem der Ver­nich­tungs-KZs von der SS umge­bracht. Bert­hold Rosen­thal starb 1942, sei­ne Frau Mina depor­tier­ten die Nazis nach Ausch­witz, wo man sie 1943 ermor­de­te. Das Ehe­paar Ida und Albrecht Abra­ham mit ihrem Kind Har­ry konn­te zusam­men mit Sieg­fried Rosen­thal und Richard Hof­mann im April 1939 nach Shang­hai aus­wan­dern. Das zwei­stöcki­ge Haus der Dina Hof­mann ließ sich der dama­li­ge NS-Bür­ger­mei­ster über­schrei­ben. Er bezahl­te der Dina Hof­mann einen selbst­fest­ge­leg­ten Preis.

Was Terrorisieren heißt

Wei­ter wur­de der Lan­gen­dern­ba­cher SA-Trupp zum Ein­gang der Lan­ge Stra­ße geführt. In dem Haus Nr. 3 wohn­te der Vieh­händ­ler und Wit­wer Lieb­mann Hof­mann. Sein Sohn Rudolf leb­te mit sei­ner Frau Sel­ma und Sohn Die­ter eben­falls hier. Die SA-Hor­de drang in das Haus ein, kipp­te Möbel um, schlitz­te die Bet­ten auf und warf unter Gegrö­le und Getö­se das Geschirr auf die Stra­ße. Rudolf hat­te sich aus Angst auf dem Heu­bo­den ver­steckt. Mit Heu­ga­beln und For­ken sta­chen die SA-Leu­te in das Heu, um ihn her­aus­zu­zwin­gen. Danach wur­de er abge­führt – ins KZ. Sei­ne Frau Sel­ma war bei But­ter­ma­chen, als die Scher­gen kamen und das But­ter­fass umstürz­ten. Auch der damals sechs­jäh­ri­ge Sohn Die­ter wur­de von den SA-Män­nern drang­sa­liert. Sel­ma muss danach halb durch­ge­dreht sein, erzähl­ten die Leu­te: Sie habe sich den Jun­gen gepackt und sei mit ihm zum Schwimm­bad gelau­fen, um sich dort zu erträn­ken – so die Ver­mu­tung. Doch eini­ge besorg­te Frick­hö­fer sei­en ihr nach­ge­gan­gen und hät­ten sie noch beru­hi­gen kön­nen, so dass sie wie­der in ihr Haus zurück­ging. Der Schwie­ger­va­ter Lieb­mann Hof­mann zog nach dem Pogrom nach Aachen zu sei­ner dort ver­hei­ra­te­ten Toch­ter Lina. Von dort wur­de er samt Toch­ter und Schwie­ger­sohn depor­tiert. Rudolf und Sel­ma Hof­mann wur­den mit Kind im August 1942 vom Frick­hö­fer Bahn­hof aus depor­tiert und in ermordet.

Heutige Ansicht vom Haus des Salomon Kaisers in der Hauptstraße. In diesem Haus wurden 1941 alle verbliebenen Frickhöfer Juden zusammengepfercht. Von hier wurden sie am 28. August 1942 zum Bahnhof geführt und über Frankfurt in die Vernichtungs-KZs im Osten deportiert.
Heu­ti­ge Ansicht vom Haus des Salo­mon Kai­sers in der Haupt­stra­ße. In die­sem Haus wur­den 1941 alle ver­blie­be­nen Frick­hö­fer Juden zusam­men­ge­pfercht. Von hier wur­den sie am 28. August 1942 zum Bahn­hof geführt und über Frank­furt in die Ver­nich­tungs-KZs im Osten deportiert.

Noch drei wei­te­re Juden­häu­ser und ihre Bewoh­ner wur­den danach in die Zan­ge genom­men, so das Haus von Aaron Hof­mann in der Lan­ge Str. 1. Im Bud­chen-Haus am Ein­gang der Frie­dens­stra­ße wur­de die jüdi­sche Frau des Johann Schardt aus dem Haus gezerrt, obwohl sie bett­läg­rig war. Ganz schlimm wüte­te die SA-Hor­de auch vor Pfaffs Haus in der Haupt­stra­ße 16. Dort wohn­te Salo­mon Kai­ser mit sei­ner gro­ßen Fami­lie von Kin­dern und Kin­des­kin­dern. Allein zwölf Mit­glie­der der Groß­fa­mi­lie Kai­ser ermor­de­ten die Nazis spä­ter in den Vernichtungs-KZs.

Zerstörungen an der Synagoge

Wei­ter zog die SA-Hor­de zur Frick­hö­fer Syn­ago­ge in der Ege­nolf­str. 21. Das Bet­haus war der hin­te­re Teil eines Fach­werk-Dop­pel­hau­ses, in dem vorn die Fami­lie Wil­helm Höf­ner wohn­te. Bei der Zurich­tung der Syn­ago­ge war an das hin­te­re Gebäu­de aus Zie­geln ein Trep­pen­haus ange­baut wor­den, über das man auf die Frau­en­em­po­re kam. Die­sen vor­sprin­gen­den Ein­gangs- und Trep­pen­teil kann man noch heu­te an dem umge­bau­ten Haus erken­nen. Auf der Empo­re waren Plät­ze für 12 Frau­en, die geschnitz­ten Bän­ke in Par­terre der Syn­ago­ge boten 21 Män­nern Sitz­ge­le­gen­hei­ten. Ein Mes­sing­leuch­ter und ver­schie­de­ne Kult­ge­gen­stän­de ver­voll­stän­dig­ten die Bethaus-Einrichtung.

Als erstes war­fen die SA-Schlä­ger die Fen­ster­schei­ben der Syn­ago­ge ein
Bei ihrer Ankunft lie­ßen die SA-Leu­te das Vor­der­haus räu­men. Mar­ga­re­the Höf­ner muss­te ihre Enkel­kin­der aus dem Schlaf holen und sich auf die gegen­über­lie­gen­de Stra­ßen­sei­te bege­ben. Von dort sahen sie, wie die Nazis zuerst die Schei­ben der Syn­ago­ge ein­war­fen. Dann dran­gen sie gewalt­sam über das Trep­pen­haus in das Bet­haus ein. Die Bän­ke wur­den umge­wor­fen oder zer­schla­gen, dar­auf die Bestuh­lung von der Empo­re gestürzt. Anschlie­ßend wur­den die zer­trüm­mer­ten Möbel auf Höf­ners Hof und die Stra­ße gewor­fen und zusam­men mit Büchern ange­steckt. Die Tho­ra wur­de nicht ver­brannt, son­dern in den Gewahr­sam des Bür­ger­mei­sters gege­ben. Von dort hol­te sie in den 50er Jah­ren der Über­le­ben­de Richard Hof­mann ab.

Der SA-Trupp riss die Ein­gangs­tür der Syn­ago­ge aus den Ankern. Man erkennt auf dem Foto vom Tag danach den Zie­gel­an­bau des Trep­pen­hau­ses und sieht die Trep­pe, die zu der Frau­en­em­po­re führt.

Am Tag nach der Pogrom­nacht führ­te ein Nazi-Leh­rer der Frick­hö­fer Volks­schu­le sei­ne 5. Klas­se in den demo­lier­ten Syn­ago­gen­raum. Dort war­te­te die orts­be­kann­ten Nazi-Frau Lucia H., all­ge­mein als „et Luci­fer“ bekannt. Die Jungs wur­den auf­ge­for­dert, den noch hän­gen­den Kri­stall-Leuch­ter sowie die letz­ten Fen­ster­schei­ben mit Stei­nen und Büchern zu bewer­fen. Das soll­te wohl eine Vor­übung für den Jung­volk-Nach­wuchs sein. Denn spä­ter bewar­fen die Hit­ler­jun­gen und BDM-Mäd­chen regel­mä­ßig die Fen­ster und Türen der Juden­häu­ser mit Stei­nen und ande­ren Wurfgeschossen.

Die Resistenz der katholischen Zentrumswähler blieb bestehen

In Frick­ho­fen konn­te die Par­tei­gän­ger Hit­lers bei den letz­ten frei­en Wah­len 1932 vier­zig Pro­zent der Stim­men errei­chen. Die Mehr­heit blieb aller­dings bei den Frick­hö­fer Zen­trums­wäh­lern mit 47 Pro­zent. Aus dem brei­ten Poten­ti­al der NSDAP-Wäh­ler konn­ten die Nazis spä­ter etwa 250 Par­tei­mit­glie­der rekru­tie­ren. Trotz erheb­li­chem ideo­lo­gi­sche und sozia­len Druck auf die orts­be­kann­ten „Zen­trums­fa­mi­li­en“ blieb ein gro­ßer Teil der katho­li­schen Zen­trums­wäh­ler von 1932 distan­ziert und resi­stent gegen die Nazi-Ideo­lo­gie und –Poli­tik. Das zeig­te sich, als 1937 bei der Fron­leich­nams­pro­zes­si­on trotz Ver­bot die kirch­li­chen Fah­nen aus­ge­hängt wur­den. In der katho­li­schen Jugend ver­stärk­te sich sogar die Front gegen die Nazis. 1935 grün­de­ten Frick­hö­fer Jun­gen zwei Pfad­fin­der-Stäm­me, 1941 waren fünf Jugend­li­che aus Frick­ho­fen dar­an betei­ligt, als im ehe­ma­li­gen Jugend­haus des Bis­tums Lim­burg in Kir­ch­ähr die Hit­ler­fah­ne her­un­ter­ge­ris­sen wurde.

Das gut-nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Katholiken und Juden bewährte sich in der Not

Auch die Unter­stüt­zung der drang­sa­lier­ten Juden war viel­fäl­tig – mit Hil­fe­stel­lun­gen im All­tag, Besu­che und Freund­lich­kei­ten auch nach der Kon­takt­sper­re und vor allem tat­kräf­ti­ge Hil­fe in der Zeit, als etwa 15 Per­so­nen ab 1941 in einem „Juden­haus“ zusam­men­ge­pfercht waren. Von einer Nach­ba­rin wur­de ein Netz­werk von Hil­fe­lei­stun­gen koor­di­niert, so dass in der Dun­kel­heit den Juden die not­wen­di­gen Grund­nah­rungs­mit­tel wie Brot, Milch und Gemü­se, aber auch die Tages­zei­tung oder repa­rier­te Schu­he zuka­men. Natür­lich konn­ten die Frick­hö­fer Men­schen­freun­de nicht ver­hin­dern, dass Ende August 1942 die letz­ten 15 Juden per Bahn abtrans­por­tiert wur­den. Eini­ge Tage spä­ter rei­sten zwei der Frick­hö­fer Hel­fer nach Frank­furt, um ihre jüdi­schen Nach­barn noch ein­mal zu sehen, sie zu trö­sten und ihre Soli­da­ri­tät zu ver­si­chern. Mag­da­le­na Wolf und Leh­rer Breit­hecker ste­hen für die gro­ße Grup­pe von dis­kre­ten Hel­fern in vie­len deut­schen Dör­fern und Städ­ten. Sie wider­le­gen das Vor­ur­teil des ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers Dani­el Gold­ha­gen, der die gesam­te dama­li­ge Bevöl­ke­rung im Deut­schen Reich als „mit­leids­lo­se Deut­sche“ denunzierte.

(Dar­über mehr im näch­sten Bei­trag (Teil 2).

Text: Hubert Hecker
Bild: Autor

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4 Kommentare

  1. Es wäre schön, Hr. Hecker, wenn Sie zu die­ser Geschich­te auch Quel­len­an­ga­ben lie­fern würden.
    Vie­len Dank im Voraus,

    • Zu der Bit­te um Quellenangaben:
      Abge­se­hen von den Ein­lei­tungs­pas­sa­gen, deren Aus­sa­gen von Goeb­bels etwa man in ein­schlä­gi­gen Geschichts­wer­ken nach­le­sen kann, besteht der Haupt­teil mei­nes Arti­kels aus Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen. Seit 1988, als ich in mei­ner Schu­le in Hada­mar an einer Pogrom-Aus­stel­lung mit­ge­ar­bei­tet hat­te, beschäf­ti­ge ich mich als Lokal­hi­sto­ri­ker mit dem The­men­be­reich Nazi­zeit. Seit damals habe ich etwa 30 bis 40 Zeit­zeu­gen aus mei­nem Wohn­ort Frick­ho­fen und dem Nach­bar­ort Lan­gen­dern­bach befragt. Der älte­ste war vom Jahr­gang 1900, der die letz­ten Wochen vom 1. WK noch mit­ge­macht hat­te. Es waren also Erwach­se­ne, Betrof­fe­ne, Nazis und Nazi­geg­ner, die mir die Ereig­nis­se aus ihren Per­spek­ti­ven und Erfah­rungs­be­rei­chen schil­der­ten. Mein Arti­kel beruht also auf Pri­mär­quel­len der Zeitzeugen.

  2. Und ursäch­lich ver­ant­wort­lich für die Reichs­po­grom­nacht war der Pro­te­stan­ten­lieb­ling Mar­tin Luther. Hit­ler berief sich auf ihn:

    „Luther war ein gro­ßer Mann, ein Rie­se. Mit einem Ruck durch­brach er die Däm­me­rung; sah den Juden, wie wir ihn erst heu­te zu sehen beginnen“.

    Denn Luther forderte:

    „Ich will mei­nen treu­en Rat geben: Erst­lich, daß man ihre Syn­ago­ge oder Schu­le mit Feu­er anstecke, und was nicht ver­bren­nen will, mit Erde über­häu­fe und beschüt­te, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewig­lich … Zum ande­ren, daß man auch ihre Häu­ser des­glei­chen zer­bre­che und zerstöre …“

    Lesen Sie hier: http://​www​.glo​ry​-inter​na​tio​nal​.net/​h​o​p​e​-​g​e​r​m​a​n​y​/​l​u​t​h​e​r​-​q​u​e​l​l​e​-​d​e​s​-​a​n​t​i​s​e​m​i​t​i​s​m​u​s​/​m​a​r​t​i​n​-​l​u​t​h​e​r​s​-​b​e​i​t​r​a​g​-​z​u​r​-​d​e​u​t​s​c​h​e​n​-​g​e​s​c​h​i​c​h​t​e​.​h​tml

  3. Mei­ne Ur-Oma (1866–1952) kauf­te bis zum Schluss bei Juden. Sie kann­te den Orts­grup­pen­lei­ter der NSDAP und stritt sich mit ihm hef­tigst, kauf­te aber trotz­dem wei­ter bei Juden. Er sag­te: „Ich kann sie auch ins KZ bringen.)
    Mein Vater (1932 – ) sagt: „Die Juden im Ort (x) waren alle­samt anstän­di­ge Leu­te.“ Er hat auch noch ganz klar vor Augen, was in der Pogrom­nacht auch hier im Ort geschah: „Alles Mög­li­che wur­de aus den Fen­stern gewor­fen. Ganz wild Gewor­de­ne Nazis schlu­gen mit Äxten auf Kla­vier und Möbel ein …“
    Es gab wohl auch unver­bes­ser­li­che Nazis, die sich nicht ‚umer­zie­hen‘ lie­ßen. Einer sag­te noch im Alter von 90 Jah­ren – er starb so um das jahr 2000: „Ich hab nicht einen Juden ken­nen gelernt, der was getaugt hat.“
    Mei­ne Mut­ter sag­te zu ihm: „Sie waren doch nur ein Mitläufer.“
    Da reg­te er sich auf und ant­wor­te­te brüs­kiert: „Ich? Ein Mitläufer?!!!“
    Ein Nach­bar, er hör­te beim Auto­wa­schen immer Mili­tätmär­sche, war mal zu einem Umtrunk bei uns. Als er ein biss­chen ange­trun­ken war, sag­te er mit erho­be­nem Zei­ge­fin­ger: „Die Juuuuden, die Juuuuden.“
    Ich sel­ber kann mit dem Begriff Anti­se­mi­tis­mus gar nichts anfan­gen. Das Gefühl ist in mir ein­fach nicht prä­sent. Viel­leicht auch dar­um, da mir das Juden­tum immer sehr lieb war. Wo bit­te­schön soll es in unse­rem Land Juden­hass geben???
    Die neue Form des Juden­has­ses kommt durch den Islam und wohl nicht von rechts, wie immer wie­der behau­tet wird. ‚Juden­hass‘ ist an sich ein bescheu­er­tes Wort. Ich glau­be, man mag bestimm­te Eigen­schaf­ten an Men­schen, oder eben nicht.
    Wenn da zum Bei­spiel 1000 Leu­te sind, die alle gewalt­be­reit sind, dann mag ich sie nicht. Sind es nur 10 von 1000, dann mag ich eben nur die 10 nicht. Wenn Juden- oder Chri­sten­hass aller­dings mit der Reli­gi­on und der Kul­tur (des Islam) zusam­men­hängt, dann mag ich schlicht­weg den Islam nicht; und M******* schon gar nicht. Dann bin ich ein Feind des I***. Aber nur soweit, wie er men­schen­ver­ach­tend im Sin­ne der Men­schent­rech­te (wie wir sie ver­ste­hen) ist. Die­se Form des I*** gehört nicht zu Deutsch­land! Denn jedem Mos­lem ist klar: den mode­ra­ten Islam gibt es eigent­lich nicht. Es ist ein Häre­sie; eine Verstellung.
    Wer den Geist der Unter­schei­dung besitzt, der kann nicht für ‚Mul­ti­kul­ti‘ sein. 

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