Papst und Kirche retteten hunderttausende Juden vor den Nazis

Vor 60 Jahren starb Papst Pius XII.


Das Bild von Papst Pius XII. (1939-1958) erlegte etliche Jahre nach seinem Tod eine radikale Verkehrung. Der Anstoß kam vom KGB und richtete sich gegen das Ansehen der katholischen Kirche. Ein gesamtgesellschaftlicher Umbruch verschaffte der schwarzen Legende zum Durchbruch.
Das Bild von Papst Pius XII. (1939-1958) erlegte etliche Jahre nach seinem Tod eine radikale Verkehrung. Der Anstoß kam vom KGB und richtete sich gegen das Ansehen der katholischen Kirche. Ein gesamtgesellschaftlicher Umbruch verschaffte der schwarzen Legende zum Durchbruch.

Ein Gast­bei­trag von Hubert Hecker

Anzei­ge

Leon­hard Bern­stein, der berühm­te Diri­gent des New Yor­ker Phil­har­mo­ni­schen Orche­sters, hat­te am 9. Okto­ber 1958 vor Kon­zert­be­ginn vom Tode Papst Pius XII. erfah­ren. Als er an sein Diri­gen­ten­pult trat, bat er um „eine Minu­te des Schwei­gen zum Tode eines wahr­haft gro­ßen Man­nes“. Bern­stein war der Sohn jüdi­scher US-Ein­wan­de­rer aus der Ukrai­ne. Wenn er den Pius-Papst einen gro­ßen Mann nann­te, dann ver­mut­lich wegen des­sen Juden­ret­tung im Zwei­ten Welt­krieg. Er wuss­te davon vom Hörensagen.

Ein betrof­fe­ner Zeit­zeu­ge der NS-Juden­ver­fol­gung in Ita­li­en war Isra­el Zol­li, seit Kriegs­be­ginn Ober­rab­bi­ner in der jüdi­schen Gemein­de Roms. Als im Sep­tem­ber 1943 der berüch­tig­te SS-Ober­sturm­bann­füh­rer (Oberst­leut­nant) Her­bert Kapp­ler mit sei­ner Sicher­heits­po­li­zei und dem SD die Kon­trol­le in Rom über­nahm und die römi­schen Juden drang­sa­lier­te, wand­te sich Zol­li an den Papst mit der Bit­te um Unter­stüt­zung und Hil­fe gegen die dro­hen­de Depor­tie­rung. Von den 9600 Juden, die von der SS in der Raz­zia am 15. Okto­ber gesucht wur­den, gerie­ten knapp 1500 in Gefan­gen­schaft. Tau­send davon wur­den spä­ter depor­tiert. Drei päpst­li­che Inter­ven­tio­nen ver­hin­der­ten, dass die mei­sten Juden bei der Raz­zia ange­trof­fen wur­den. Ein ver­steck­ter Auf­ruf im Osser­va­to­re Roma­no hat­te vie­le jüdi­sche Bewoh­ner vor dem Auf­ent­halt in ihren Häu­sern gewarnt. Auf glei­che Wei­se wur­den die Katho­li­ken durch vati­ka­ni­sche Publi­ka­tio­nen auf­ge­for­dert, den Flüch­ten­den in ihren Häu­sern Asyl zu geben. Jeden­falls konn­ten meh­re tau­send Gesuch­te pri­vat unter­tau­chen. 4447 Juden wur­den auf Wei­sung des Pap­stes in Klö­stern und kirch­li­chen Häu­sern ver­steckt und ver­sorgt: in Rom, im Vati­kan oder in der päpst­li­chen Som­mer­re­si­denz Castel Gan­dol­fo, wo zeit­wei­se bis zu 8.000 Flücht­lin­ge Unter­schlupf fan­den. Von der Gesamt­heit der römi­schen Juden wur­de „85 Pro­zent von Prie­stern, Mön­chen, Non­nen und katho­li­schen Lai­en ver­steckt“, so der jüdi­sche Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Pin­chas Lapi­de. Er umreißt die Grö­ßen­di­men­si­on der päpst­li­chen Hil­fe in Ita­li­en so: „

Allein in der zwei­ten Hälf­te des Jah­res 1944 brach­te das Hilfs­werk des Vati­kans über eine Mil­li­on Dol­lar für Lebens­mit­tel und Klei­dung für 90.000 bedürf­ti­ge ‚Zivi­li­sten’ in Ordens­häu­sern, Hos­pi­tä­lern, Kli­ni­ken und Hei­men auf.“

Den Anteil der Juden dar­an schätzt er auf 55.000 Personen.

Jüdische Zeitzeugen ehren Papst Pius XII. für seine Rettungstaten

Zol­li notier­te damals in sei­nem Tagebuch:

„Der Hei­li­ge Vater sand­te ein Hand­schrei­ben an die Bischö­fe, in dem er sie anwies, die Klau­sur in den Klö­stern und Kon­ven­ten auf­zu­he­ben, damit sie Zufluchts­stät­ten für die Juden wer­den konn­ten. (…) Kein Held der Geschich­te hat ein tap­fe­re­res und stär­ker bekämpf­tes Heer ange­führt als Pius XII. im Namen der christ­li­chen Näch­sten­lie­be. Bän­de könn­ten über sei­ne viel­fäl­ti­ge Hil­fe geschrie­ben wer­den. Er steht wie ein Wäch­ter vor dem hei­li­gen Erbe des mensch­li­chen Leids. Er hat in den Abgrund des Unheils geblickt, auf das sich die Mensch­heit zube­wegt. Die Grö­ße der Tra­gö­di­en hat er ermes­sen und vor­aus­ge­sagt: als kla­re Stim­me der Gerech­tig­keit und Ver­tei­di­ger des wah­ren Friedens.“

Am 17. Febru­ar 1945 trat der hoch­ge­lehr­te Rab­bi in die katho­li­sche Kir­che über – „in unver­än­der­ter Lie­be zum Volk Isra­el in all dem Leid, das über es gekom­men ist“. Bei sei­ner Tau­fe nahm er aus Dank­bar­keit gegen­über demwahr­haft gro­ßen Juden­ret­ter den Tauf­na­men des Pap­stes an: Eugenio.

Ein ande­rer Zeit­zeu­ge, der berühm­te Phy­si­ker Albert Ein­stein, schrieb – beein­druckt vom Enga­ge­ment des Pap­stes – am 23. Dezem­ber 1940 im Time Maga­zin:

„Nur die Kir­che blieb auf­recht ste­hen, um den Kam­pa­gnen Hit­lers zur Unter­drückung der Wahr­heit den Weg zu versperren.“

Der jüdi­sche Nobel­preis­trä­ger drück­te sei­ne „Bewun­de­rung“ für Papst und Kir­che aus, da sie „allein den Mut und die Hart­näckig­keit gehabt haben, auf der gei­sti­gen Wahr­heit und mora­li­schen Frei­heit zu bestehen“.

1955 spiel­te das Israe­li­sche Phil­har­mo­ni­sche Orche­ster vor Papst Pius XII. als „Dank für das gewal­ti­ge Werk mensch­li­cher Hil­fe, das von sei­ne Hei­lig­keit voll­bracht wur­de, um eine gro­ße Zahl von Juden wäh­rend des 2. Welt­kriegs zu retten.“

Zum Tode des Pius-Pap­stes am 9. 10. 1958 tele­gra­phier­te die dama­li­ge israe­li­sche Außen­mi­ni­ste­rin Gol­da Meir an den Vatikan:

„Wir neh­men an der Trau­er der Mensch­heit über das Hin­schei­den Sei­ner Hei­lig­keit des Pap­stes Pius XII. teil. In einer von Krie­gen und Unei­nig­keit bedrück­ten Welt ver­trat er die höch­sten Idea­le des Frie­dens und des Mit­leids. Als in dem natio­nal­so­zia­li­sti­schen Jahr­zehnt unser Volk ein schreck­li­ches Mar­ty­ri­um über­kam, hat sich die Stim­me des Pap­stes für die Opfer erho­ben. Das Leben unse­rer Zeit wur­de von einer Stim­me berei­chert, die über den Lärm der täg­li­chen Strei­tig­kei­ten hin­weg deut­lich die gro­ßen sitt­li­chen Wahr­hei­ten aus­sprach. Wir betrau­ern einen gro­ßen Die­ner des Friedens.“

Der Pius-Papst erhob seine Stimme für die Opfer der NS-Verfolgung

Bemer­kens­wert an die­sen zeit­ge­nös­si­schen Zeug­nis­sen für Pius XII. ist neben der Dank­bar­keit für die Hilfs- und Ret­tungs­ta­ten des Pap­stes die mehr­fa­che Erwäh­nung, dass er sei­ne Stim­me für die Opfer der NS-Aggres­sio­nen, für die sitt­li­chen Wahr­heit und das Anstre­ben des Frie­dens erho­ben habe. Die­se Zusam­men­fas­sung päpst­li­cher Ver­laut­ba­run­gen ent­sprach dem aus­drück­li­chen Pro­gramm Pius XII. in sei­ner ersten Enzy­kli­ka Sum­mi Pon­ti­fi­ca­tus kurz nach Kriegs­be­ginn. Dar­in warn­te er auf der Grund­la­ge des für die Mensch­heit gül­ti­gen Natur­rechts vor den Fol­gen von Ras­sis­mus, Natio­na­lis­mus und tota­li­tä­rem Staat.

Pinchas Lapide: Rom und die Juden
Pin­chas Lapi­de: Rom und die Juden

Neun Jah­re nach Pius’ Tod publi­zier­te der jüdi­sche Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Pin­chas Lapi­de ein Buch über „Rom und die Juden. Papst Pius XII. und die Juden­ver­fol­gung“. Das war einer jener Bän­de über die Hilfe‑, Schutz- und Ret­tungs­maß­nah­men von Papst und Kir­che wäh­rend der NS-Ver­fol­gungs­zeit, von denen Ober­rab­bi­ner Zol­li gespro­chen hat­te. Der in Wien gebo­re­ne und 1940 nach Palä­sti­na geflüch­te­te Lapi­de hat­te beste Vor­aus­set­zun­gen dafür, eine sol­che Doku­men­ta­ti­on zu erstel­len. 1943/​44 kämpf­te er als Offi­zier einer jüdi­schen Bri­ga­de an der Sei­te der Ame­ri­ka­ner in Ita­li­en. Nach dem Krieg stu­dier­te er in Jeru­sa­lem Roma­ni­stik. Von 1951 bis ’69 arbei­te­te er für die israe­li­sche Regie­rung als Lei­ter des Pres­se­am­tes und im Kon­su­lat in Mai­land. Wäh­rend die­ser Zeit pro­mo­vier­te er in Köln im Fach Juda­istik. Für sei­ne Doku­men­ta­ti­on nutz­te Lapi­de sei­ne guten Kon­tak­te zu Über­le­ben­den aus vie­len euro­päi­schen Län­dern, sich­te­te Quel­len und die dama­li­ge Lite­ra­tur zum The­ma Juden, Kir­che und NS-Staat. Zu zehn Län­dern, in denen die Nazis auf Juden Zugriff hat­ten, stell­te er eige­ne Unter­su­chun­gen zusam­men, wie Papst und Kir­che Juden in der Ver­fol­gungs­not unter­stützt hat­ten. Die Län­der waren Ita­li­en, Slo­wa­kei, Ungarn, Rumä­ni­en, Bul­ga­ri­en, Grie­chen­land, Polen, Frank­reich, Hol­land und Bel­gi­en. Das Ergeb­nis sei­ner Stu­di­en fass­te er auf Sei­te 188 so zusammen:

„Der Hei­li­ge Stuhl hat mehr getan, den Juden zu hel­fen, als jede ande­re Orga­ni­sa­ti­on des Westens, ein­schließ­lich des Roten Kreu­zes. Pius XII. hat wäh­rend des Krie­ges direkt oder indi­rekt das Leben von etwa 860.000 Juden gerettet.“

Hochhuths „Stellvertreter“ war der Startschuss zu einer Verleumdungskampagne

Als Pin­chas Lapi­de 1967 sei­ne Doku­men­ta­ti­on ver­öf­fent­lich­te, stieß sie nur auf mäßi­ges Inter­es­se. In der öffent­li­chen Mei­nung hat­te sich schon bald nach dem Tode des Pius-Pap­stes der Wind gegen ihn gedreht. 1963 gab der deut­sche Schrift­stel­ler Rolf Hoch­huth mit sei­nem Stück „Der Stell­ver­tre­ter“ den Start­schuss zu einer Ver­leum­dungs­kam­pa­gne gegen das ver­stor­be­ne Ober­haupt der katho­li­schen Kir­che. Das Werk war inspi­riert vom rus­si­schen Geheim­dienst KGB und urauf­ge­führt durch den Kom­mu­ni­sten Erwin Pis­ca­tor. Es war in den ersten Jah­ren in der Gesell­schaft durch­aus umstrit­ten, bei Histo­ri­kern sowie­so. Vie­le inter­na­tio­na­le Büh­nen, auch in Isra­el, hiel­ten sich zurück. Aber in den 70er und 80er Jah­ren wur­de Hoch­huths Kri­tik an Papst und Kir­che in der NS-Zeit immer popu­lä­rer. Sie pass­te in den lin­ken Zeit­geist einer neu­en Gene­ra­ti­on von Kri­ti­kern, Histo­ri­kern und Publi­kum. Dabei war die Ten­denz des Stückes erkenn­bar ideo­lo­gisch aus­ge­rich­tet und nicht durch seriö­se histo­ri­sche For­schung gedeckt. Ange­sichts der oben auf­ge­führ­ten jüdi­schen Dank­adres­sen und Doku­men­te war Hoch­huths Haupt­the­se sogar hoch­gra­dig absurd: Er behaup­te­te, der Papst wäre aus ego­isti­schen Moti­ven und in kalt­her­zi­gem Berei­che­rungs­stre­ben gegen­über der NS-Juden­de­por­ta­ti­on und ‑ermor­dung gleich­gül­tig ein­ge­stellt gewe­sen und hät­te des­halb auf einen lau­ten Pro­test gegen den Juden­mord ver­zich­tet. Die­ses angeb­lich pas­si­ve Ver­hal­ten des Pap­stes, sein ver­meint­li­ches Schwei­gen, klag­te Hoch­huth aus­drück­lich als „Ver­bre­chen“ gegen die Mensch­lich­keit an. Ande­re Schrift­stel­ler und Histo­ri­ker schwenk­ten auf sei­ne Linie ein, indem sie alte und neue Doku­men­te im papst­kri­ti­schen Sinn inter­pre­tier­ten, um an der schwar­zen Legen­de wei­ter­zu­stricken. Höhe­punkt der Ruf­mord­kam­pa­gne war das Buch des eng­li­schen Schrift­stel­lers John Corn­well von 1999 mit dem Titel: „Hitler’s Pope. The Secret Histo­ry of Pius XII.“ Hit­ler und der anti­se­mi­ti­sche Pacel­li hät­ten schon früh­zei­tig im Gleich­schritt gehan­delt. Dass der zen­tra­le Beleg, Euge­nio Pacel­li hät­te schon 1919 als Nun­ti­us einen anti­se­mi­ti­schen Brief nach Rom geschickt, inzwi­schen als Fäl­schung auf­ge­flo­gen ist, ficht Autor und Öffent­lich­keit nicht an.

Hoch­huth und sei­ne Anhän­ger ver­tre­ten die The­se, als wenn der Pius-Papst mit einem lau­ten Pro­test­auf­ruf gegen die Juden­de­por­ta­tio­nen den Mas­sen­mord der Nazis hät­te stop­pen oder min­de­stens ein­schrän­ken kön­nen. Damit hät­ten sich Papst und Kir­che zugleich größ­ten Respekt von allen Men­schen guten Wil­lens ver­schaf­fen können.

Die historischen Erfahrungen sprachen gegen einen lauten öffentlichen Protest

Falsche Mythos von Hitlers Papst
Papst Pius XII. ret­te­te hun­dert­tau­sen­de Juden vor Hit­lers Zugriff

Seriö­se Histo­ri­ker sind zu einer spe­ku­la­ti­ven Vor­aus­sa­ge über die Effek­ti­vi­tät eines päpst­li­chen Auf­rufs sehr zurück­hal­tend bis skep­tisch. Zu vie­le Varia­blen und Bedin­gun­gen hät­ten dafür geprüft und ein­ge­schätzt wer­den müs­sen. Erst recht ver­bie­tet sich auf die­ser unsi­che­ren Basis ein ethi­sches Urteil über Pius XII. Aus der Sicht des Pap­stes spra­chen sei­ne histo­ri­schen Erfah­run­gen gegen die Effek­ti­vi­tät von lau­ten Pro­te­sten. Als er im Herbst 1939 öffent­lich scharf gegen die natio­nal­so­zia­li­sti­sche Drang­sa­lie­rung von Kir­che und Volk in Polen pro­te­stier­te, ver­schärf­ten die Nazis ihren Ver­fol­gungs­kurs. Die pol­ni­schen Bischö­fe baten dar­auf­hin den Papst um Zurück­hal­tung bei öffent­li­chen Pro­te­sten und rie­ten zu ande­ren For­men von Inter­ven­ti­on. Ähn­li­che Fol­ge­run­gen muss­te der Pius aus dem Pro­test-Hir­ten­brief der hol­län­di­schen Bischö­fe gegen die Juden­de­por­ta­ti­on zie­hen, der unmit­tel­bar zu ver­schärf­ten NS-Maß­nah­men führ­te in Form der Depor­ta­ti­on von 245 getauf­ten Juden. Im Ver­gleich dazu waren die päpst­li­chen Inter­ven­tio­nen und ver­deck­ten Auf­ru­fe gegen die ange­ord­ne­te Depor­ta­ti­on der Juden Roms weit­aus erfolg­rei­cher, wie oben geschil­dert. Und in der Gesamt­bi­lanz konn­ten die päpst­li­chen Hilfs- und Ret­tungs­in­itia­ti­ven ohne lau­te Pro­te­ste und Ankün­di­gun­gen eine beein­drucken­de Effek­ti­vi­tät auf­wei­sen, wie Lapi­de in sei­ner Doku­men­ta­ti­on beleg­te. Aber das alles wuss­te man erst im Nach­hin­ein genau. In der histo­ri­schen Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on war das kei­nes­wegs so klar. In ver­schie­de­nen Doku­men­ten ist über­lie­fert, dass sich der Papst über den Ein­satz der effek­ti­ve­ren Mit­tel und Metho­den viel­fach den Kopf zer­brach, also zu der Fra­ge: Wür­den mehr Men­schen durch einen lau­ten päpst­li­chen Pro­test geret­tet oder durch dis­kre­te Hil­fe bei diplo­ma­ti­schen Ver­laut­ba­run­gen? In einer Mit­tei­lung an einen päpst­li­chen Kurier nach Polen und Russ­land gab der Papst selbst sei­ne Ant­wort dazu bekannt: Über­mit­teln Sie es allen, die unter den Nazis leiden:

„Mehr­mals habe ich dar­an gedacht, den Bann­strahl auf den Nazis­mus zu schleu­dern, um vor der zivi­li­sier­ten Welt die Bestia­li­tät der Juden­aus­rot­tung zu brand­mar­ken. (…) Nach vie­len Trä­nen und Gebe­ten bin ich aber zu dem Urteil gekom­men, dass ein Pro­test von mir nicht nur nie­man­dem nüt­zen, son­dern den wil­de­sten Zorn gegen die Juden ent­fes­seln und die Akte der Grau­sam­keit ver­viel­fäl­ti­gen würde.“

Dar­über hin­aus hät­te ein öffent­li­cher Pro­test die dis­kre­ten huma­ni­tä­ren Hilfs- und Ret­tungs­maß­nah­men beein­träch­tigt, die Papst und Kir­che durch­führ­ten. Zu einem ähn­li­chen Urteil war auch das Inter­na­tio­na­le Rote Kreuz gekom­men. Der Papst füg­te sei­nen Wor­ten den Satz hinzu:

„Viel­leicht hät­te ein fei­er­li­cher Pro­test mir von der zivi­li­sier­ten Welt ein Lob ein­ge­tra­gen; aber er hät­te den armen Juden eine noch uner­bitt­li­che­re Ver­fol­gung gebracht.“

Genau das, was spä­te­re Kri­ti­ker für einen lau­ten Pro­test anführ­ten, Respekt und Repu­ta­ti­on der Kir­che vor der Welt, lehn­te der Papst im Sin­ne einer nach Sache und Effek­ti­vi­tät abge­wo­ge­nen Ent­schei­dung ab.

Schuldverschiebung als Selbstrechtfertigung des Tätervolkes

Zum Schluss soll noch mal die Fra­ge erör­tert wer­den, war­um Hoch­huth mit sei­nem Ver­leum­dungs­stück gegen Papst und Kir­che in den letz­ten 50 Jah­ren auf so gro­ße Reso­nanz im In- und Aus­land stieß. Die all­ge­mei­ne Her­lei­tung aus dem lin­ken Zeit­geist ist sicher­lich rich­tig, erklärt aber nicht die Wucht und Pene­tranz der Anschul­di­gung, mit denen vie­le Zeit­ge­nos­sen Papst und Kir­che als Kol­la­bo­ra­teu­re der Nazis beim Holo­caust brandmarkten.

Bei der Fokus­sie­rung auf die angeb­li­che Schuld der Kir­che ergibt sich der Neben­ef­fekt, dass sich ande­re Mit­ver­ant­wort­li­che für die Nazi­ver­bre­chen aus dem öffent­li­chen Blick­feld steh­len konn­ten. Oder ist die­se Ablen­kung von den Mit­tä­tern viel­leicht die eigent­li­che Trieb­kraft hin­ter der Ruf­mord­kam­pa­gne gegen Papst und Kir­che? Die Deut­schen wur­den und wer­den von eng­lisch schrei­ben­den Autoren wie Dani­el Gold­ha­gen, teil­wei­se auch von den eige­nen Medi­en, als ein „Täter­volk“ cha­rak­te­ri­siert, das aktiv und durch pas­si­ves Weg­se­hen für den Mas­sen­mord an den Juden ver­ant­wort­lich gewe­sen wäre. Die­ser Vor­wurf – als Kol­lek­tiv­schuld sicher­lich unbe­rech­tigt – lastet auf den Deut­schen. Bie­tet sich da nicht die Abschie­bung der Schuld auf die Kir­che als Ent­la­stungs­stra­te­gie an? Die Schuld­ver­schie­bung wirkt als Rela­ti­vie­rung der eige­nen Schuld und damit als Selbst­recht­fer­ti­gung: Wenn schon die Kir­che als mora­li­sche Anstalt gegen­über den Nazis ver­sagt habe, dann kann die Kol­la­bo­ra­ti­on der deut­schen Mit­läu­fer und Mit­tä­ter doch nicht so schlimm gewe­sen sein.

Protestantische Schuldrelativierung durch Schuldzuschreibung an die Katholiken

Hoch­huth hat ein­mal als Motiv für sein Stück ange­ge­ben, dass sei­nes Erach­tens nach dem Krieg die katho­li­sche Kir­che gegen­über der evan­ge­li­schen zu gut dage­stan­den wäre bezüg­lich der NS-Ver­gan­gen­heit. Tat­säch­lich galt die Kir­che in den fünf­zi­ger Jah­ren als unbe­la­stet, wäh­rend die Zeit­ge­nos­sen noch sehr genau wuss­ten, wie eng die Deut­schen Chri­sten der evan­ge­li­schen Kir­che mit Nazi-Staat und ‑Par­tei ver­strickt waren. Die Mehr­heit der pro­te­stan­ti­schen Kir­chen­lei­tun­gen unter­stütz­te aktiv die juden­feind­li­chen Erlas­se und Maß­nah­men der Hit­ler­re­gie­rung, was die katho­li­schen Bischö­fe nicht taten. Noch 1941 stell­ten sich elf evan­ge­li­sche Lan­des­bi­schö­fe öffent­lich hin­ter den NS-Juden­ster­ner­lass, der zur Abson­de­rung der Juden als Vor­be­rei­tung der Depor­ta­ti­on dien­te. Wäh­rend im katho­li­schen Kle­rus die Par­tei­mit­glieds­quo­te bei 0,3 Pro­zent lag, nutz­ten annä­hernd tau­send evan­ge­li­sche Pfar­rer als NS-Par­tei­mit­glie­der Kan­zel und Talar, um mit kle­ri­ka­ler Ein­fluss­macht für Ideo­lo­gie und Pra­xis der Nazis zu wer­ben und gegen Juden zu het­zen. Die akti­ve Unter­stüt­zung der Hit­ler­schen Ras­sen- und Juden­po­li­tik war tief in der pro­te­stan­ti­schen Leh­re und Kir­che ver­an­kert, wäh­rend der katho­li­sche Kle­rus gegen­über der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Ras­sen­ideo­lo­gie weit­ge­hend resi­stent blieb.

Nach eini­gen Nach­kriegs­jah­ren der Scham gelang es den evan­ge­li­schen Mei­nungs­füh­rern, unter dem Man­tel der all­ge­mei­nen mensch­li­chen Schuld und Sün­dig­keit die kon­kre­te Mit­tä­ter­schaft der luthe­ri­schen Kir­chen an den Nazi­ver­bre­chen zu ver­decken. Par­al­lel zu die­sem Pro­zess der pro­te­stan­ti­schen Schuld­re­la­ti­vie­rung nahm die Schuld­zu­schrei­bung an die katho­li­schen Bischö­fe zu. Aus­lö­ser dafür war die Publi­zie­rung von Hoch­huths „Stell­ver­tre­ter“. Lin­ke Jour­na­li­sten und Histo­ri­ker domi­nier­ten die öffent­li­che Debat­te mit dem lan­cier­ten Vor­wurf, auch die katho­li­schen Bischö­fe und Pfar­rer hät­ten zu wenig Zivil­cou­ra­ge zum öffent­li­chen Pro­test gegen die NS-Juden­po­li­tik gezeigt. Dabei war ein Drit­tel des katho­li­schen Kle­rus ein­schließ­lich der Bischö­fe von den Nazi-Behör­den gerügt, bestraft und ver­folgt wor­den. Im KZ Dach­au saßen zehn­mal so vie­le Prie­ster ein als evan­ge­li­sche Pfar­rer. Auch im kirch­li­chen Bereich konn­te man in der öffent­li­chen Debat­te die Ten­denz einer wahr­heits­wid­ri­gen Ent­la­stungs­stra­te­gie erken­nen, indem die histo­ri­sche Schuld von Pro­te­stan­ten auf die katho­li­sche Kir­che als geschichts­po­li­ti­scher Sün­den­bock abge­wälzt wurde.

Antisemitische Tendenzen in den westlichen Ländern

Schließ­lich ist zu prü­fen, ob die­ser Schuld­ver­schie­bungs­pro­zess auch für nicht-deut­sche Län­der gilt. Zu der Tri­bu­na­li­sie­rung von Papst und Kir­che bezüg­lich des NS-Ver­hält­nis­ses fällt auf, dass gegen­über ande­ren west­li­chen Län­dern nicht der glei­che Maß­stab an Be- und Ver­ur­tei­lung ange­legt wer­den. Es wird nicht mit der glei­chen Vehe­menz danach geforscht, ob die­se Staa­ten alle Mög­lich­kei­ten der Juden­ret­tung aus­schöpf­ten oder ent­schlos­sen gegen die Juden­ver­fol­gung der Nazis han­del­ten. So wird etwa die fol­gen­de Fra­ge nur mar­gi­nal behan­delt: War­um hat der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Roo­se­velt, der seit 1942 detail­liert über Mas­sen­trans­port und Mas­sen­tö­tung in Ausch­witz infor­miert war, in den letz­ten drei Kriegs­jah­ren nicht ein­mal die Bahn­li­ni­en zu den Ver­nich­tungs­la­gern bom­bar­diert? Damit wäre eine effek­ti­ve Redu­zie­rung der Mord­ra­te mit grö­ße­rer Wahr­schein­lich­keit erreicht wor­den als mit der nicht abzu­schät­zen­den Wir­kung eines lau­ten Papst-Pro­te­stes. Das Holo­caust-Muse­um in New York macht den Anti­se­mi­tis­mus in Tei­len der ame­ri­ka­ni­schen Regie­rung für das Nicht­han­deln ver­ant­wort­lich. Die­ses heik­le The­ma möch­ten aber die west­li­chen Histo­ri­ker und Medi­en lie­ber nicht ver­tie­fen oder gar zu einem Skan­dal auf­be­rei­ten. Damit wür­de man sich mit der US-Super­macht anle­gen. Da ist es doch leich­ter und unge­fähr­de­ter, auf die Kir­che zu zei­gen und Corn­wells unbe­leg­te The­se hin­aus­zu­po­sau­nen: „Pius XII. war antisemitisch!“

Aber auch ande­re west­li­che Staa­ten haben noch anti­se­mi­ti­sche Lei­chen im Kel­ler, zu denen For­scher und Medi­en sich ger­ne aus­schwei­gen. Auf der Völ­ker­bund­kon­fe­renz im fran­zö­si­schen Bade­ort Évi­an-les-Bains bei Genf tag­ten im Juli 1938 Ver­tre­ter von 32 west­li­chen Staa­ten, um die rapi­de anstei­gen­de Zahl von flüch­ten­den Juden aus Deutsch­land und dem ange­schlos­se­nen Öster­reich auf­zu­neh­men. Es ging um ca. 700.000 poten­ti­el­le jüdi­sche Flücht­lin­ge, die das Nazi-Regime los­wer­den woll­te. Doch fast alle Staa­ten mau­er­ten und scho­ben Aus­flüch­te vor. Groß­bri­tan­ni­en sag­te nein zu jüdi­schen Flücht­lin­gen mit der faden­schei­ni­gen Begrün­dung: „Wir sind kein Ein­wan­de­rungs­land.“ Auch in dem bri­ti­schen Man­dats­ge­biet Palä­sti­na, dem wich­tig­sten Aus­wan­de­rungs­land seit Hit­lers Macht­er­grei­fung, hat­ten die Bri­ten seit 1936 den jüdi­schen Zuzug weit­ge­hend gestoppt. Bel­gi­en schob „gesell­schaft­li­che Erschüt­te­run­gen“ durch die Auf­nah­me deut­scher Juden vor. Von dem Schwei­zer Dele­gier­ten ist eine offen anti­se­mi­ti­sche Erklä­rung bekannt: „Wir haben nicht seit 20 Jah­ren gegen Über­frem­dung und ins­be­son­de­re Ver­ju­dung gekämpft, um uns heu­te die­se Emi­gran­ten auf­zwin­gen zu las­sen.“ Ähn­lich unver­blümt lehn­te der austra­li­sche Ver­tre­ter jüdi­sche Flücht­lin­ge ab: „Wir haben bis­her kein Ras­sen­pro­blem und wol­len auch in Zukunft keins haben.“ Kana­da woll­te nur nicht vor­han­de­ne jüdi­sche Land­wir­te auf­neh­men, die das Ver­mö­gen für eine Farm­be­wirt­schaf­tung mit­bräch­ten. Die USA lehn­ten es kate­go­risch ab, in die­ser außer­or­dent­li­chen Not­zeit ihre Flücht­lings­quo­te von jähr­lich 27.000 ein­ma­lig zu erhö­hen. Die spä­te­re israe­li­sche Mini­ster­prä­si­den­tin Gol­da Meir, damals als Beob­ach­te­rin auf der Kon­fe­renz, hielt es für eine Schan­de, dass so vie­le west­li­che Staa­ten den jüdi­schen Flücht­lin­gen in der größ­ten Bedräng­nis das ret­ten­de Flücht­lings­asyl ver­wei­ger­ten. Auf die­sem Hin­ter­grund ist ihre Dank­bar­keit dafür zu ver­ste­hen, dass Papst und Kir­che – sogar bei eige­ner Bedräng­nis durch Krieg und Nazis – ihre Her­zen und Türen für Auf­nah­me und Ret­tung von Hun­dert­tau­sen­den jüdi­scher Flücht­lin­ge geöff­net hat­ten. Es ist bis heu­te eine wei­te­re Schan­de, dass zahl­rei­che Jour­na­li­sten und Histo­ri­ker aus den oben genann­ten Län­dern wahr­heits­wid­rig den Papst für sein angeb­li­ches Schwei­gen und Nichts­tun zu der Juden­ver­fol­gung ankla­gen, wäh­rend sie die mehr oder weni­ger anti­se­mi­ti­sche Abschlie­ßung ihrer Län­der gegen­über der jüdi­schen Flücht­lings­not nicht ein­mal thematisieren.

Text: Hubert Hecker
Bild: Chie­sa e postconcilio/​Wikicommons/​Youtube (Screen­shot)

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