Argentiniens Aufbegehren für das Leben


Marsch für das Leben
Am 20. Mai findet in Argentinien der dritte Marsch für das Leben statt. Das Parlament diskutiert seit 1. März ein Abtreibungsgesetz. Alejandro Geyer erklärt die Hintergründe.

(Rom) Weni­ge Tage vor dem dies­jäh­ri­gen Marsch für das Leben in Rom sprach der Schwei­zer Jour­na­list Giu­sep­pe Rus­co­ni (sie­he Bericht 1 und Bericht 2) mit Ale­jan­dro Gey­er, dem Orga­ni­sa­tor des Mar­sches für das Leben in Argen­ti­ni­en. Gey­er, der betont, daß der Marsch für das Leben in Argen­ti­ni­en sei­nen Anstoß von dem in Rom nahm berich­te­te über die jüng­sten Ent­wick­lun­gen in sei­ner latein­ame­ri­ka­ni­schen Hei­mat, wo das Par­la­ment der­zeit in einer gespann­ten Atmo­sphä­re über ein Gesetz zur Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung dis­ku­tiert, was bis­her immer abge­lehnt wurde.

Harte Fans zeigen mehr Menschlichkeit als Vorzeigeintellektuelle

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Giu­sep­pe Rus­co­ni ver­faß­te aus aktu­el­lem Anlaß einen Vor­spann zum Interview:

Alfie Evans und ein Transparent der Fankurve des AS Roma
Alfie Evans und ein Trans­pa­rent der Fan­kur­ve des AS Roma

„Sams­tag, 28. April, nachts um 2.30 Uhr ist der klei­ne Alfie Evans gestor­ben, nicht direkt getö­tet durch die Krank­heit, son­dern durch die bru­ta­le und zyni­sche Anwen­dung eines büro­kra­ti­schen Gesund­heits­pro­to­kolls durch ein bereits auf trau­ri­ge Wei­se berühm­ten, eng­li­schen Kran­ken­hau­ses, dem Alder Hey Hos­pi­tal von Liver­pool. In die Geschich­te ein­ge­gan­gen sind die heroi­sche Hal­tung der Eltern Tom und Kate und der ver­bis­se­ne Man­gel an Sen­si­bi­li­tät der ver­ant­wort­li­chen Ärz­te, unter­stützt von der eng­li­schen (und auch euro­päi­schen) Justiz, vom kom­pli­zen­haf­ten und beschä­men­den Schwei­gen eines Groß­teils von Poli­tik und Medi­en sowie der bri­ti­schen Mon­ar­chie (die nie unnüt­zer und über­flüs­si­ger erschien als in die­sem Moment) und von der bestür­zen­den Heu­che­lei der eng­li­schen Kir­chen­füh­rung, beson­ders des Bischofs von Liver­pool, Mal­colm Patrick Mahon, und des Kar­di­nals Vin­cent Nichols, Vor­sit­zen­der der Bischofs­kon­fe­renz von Eng­land und Wales (es kommt einem das Schau­dern beim Gedan­ken, daß der zwei­und­sieb­zi­ge­in­halb Jah­re alte Nichols an einem Kon­kla­ve teil­neh­men könn­te, soll­te es inner­halb der kom­men­den sie­ben Jah­re statt­fin­den). Gegen soviel Zynis­mus haben sich vor allem im Vati­kan (Papst, Staats­se­kre­ta­ri­at), in Ita­li­en (Ver­lei­hung der Staats­bür­ger­schaft an Alfie durch die Regie­rung Gen­ti­lo­ni) und in Polen (unter ande­rem durch die Erklä­run­gen von Staats­prä­si­dent Andrzej Duda) gewich­ti­ge, katho­li­sche Stim­men erho­ben, um ihrer Empö­rung Aus­druck zu ver­lei­hen (dar­un­ter Bischö­fe wie Fran­ces­co Cavina, Lui­gi Negri und Giam­pao­lo Cre­pal­di und die Vor­sit­zen­den von poli­ti­schen Par­tei­en wie der Lega Nord und der Fra­tel­li d’Italia und ein­zel­ne Abge­ord­ne­te wie Lucio Mal­an, Pao­la Binet­ti, Sil­via Costa und Patri­zia Toia). Zahl­reich waren auch die Gebets­wa­chen die abge­hal­ten wurden.

Auch aus der Welt des Fuß­balls kam Soli­da­ri­tät und Empö­rung. Die Fans von Ever­ton, der zwei­ten gro­ßen Fuß­ball­mann­schaft von Liver­pool (die Ver­eins­far­be ist blau wie die Far­be der Luft­bal­lons, die beim Tod des klei­nen Alfie über dem Alder Hey Hos­pi­tal gen Him­mel auf­stie­gen sind), haben das Geld für die Gerichts­spe­sen der Eltern gesammelt.

Champions League-Halbfinale Roma-Liverpool am 2. Mai 2018
Cham­pi­ons League-Halb­fi­na­le Rom-Liver­pool am 2. Mai 2018

Am Sonn­tag­abend, 29. April, wur­de im Fuß­ball­sta­di­on Gran­de Tori­no von den „unbeug­sa­men“ Fans von Lazio Rom ein gro­ßes Trans­pa­rent mit der Auf­schrift gezeigt: „Alfie Evans, Good­bye klei­ner Krie­ger“. Ein ähn­li­ches Trans­pa­rent wur­de auch von den Fans des FC Turin gezeigt.

Am 2. Mai haben auch die Fans des AS Rom den klei­nen Alfie beim Halb­fi­nal-Spiel der Cham­pi­ons League gegen Liver­pool mit zwei gro­ßen Spruch­bän­dern geehrt, auf denen stand: „Ciao klei­ner Alfie, ruhe bei den Engeln“ und „Alder Hey Hos­pi­tal Kil­lers, Alfie Evans Litt­le War­ri­or“. Die Fan­kur­ven von Lazio und AS Roma, die nicht gera­de den vor­treff­lich­sten Ruf genie­ßen, haben bei die­ser Gele­gen­heit weit mehr Sen­si­bi­li­tät und Mensch­lich­keit gezeigt als die Radi­cal-chic- und Catho-flu­id-Intel­lek­tu­el­len, die von den Kan­zeln der poli­ti­schen Kor­rekt­heit dozie­ren und mit ihren Ansich­ten die Leit­me­di­en fluten.

Von der Person zum leicht manipulierbaren Individuum

Nun aber zum Inter­view mit Ale­jan­dro Gey­er, der den Marsch für das Leben – Argen­ti­ni­en koordiniert.

Ange­sichts der täg­lich wüten­den Ver­su­che der berüch­tig­ten Lob­by, die der Welt eine neue Anthro­po­lo­gie auf­zwin­gen will, die den Men­schen von einer Per­son in ein schwa­ches und daher leicht mani­pu­lier­ba­res Indi­vi­du­um ver­wan­deln möch­te (das mehr Objekt als Sub­jekt ist), ist die mas­si­ve Mobi­li­sie­rung für das mensch­li­che Leben – vor allem mit dem Marsch für das Leben, der seit Jah­ren in zahl­rei­chen Län­dern statt­fin­det – nicht nur eine Pflicht, son­dern unaus­weich­lich. In Rom fin­det der dies­jäh­ri­ge Marsch am 19. Mai statt. In Argen­ti­ni­en ist das The­ma Abtrei­bung rela­tiv neu. Ale­jan­dro Gey­er erklärt die dor­ti­ge Situation.

Der Marsch für das Leben – Argentinien

Rus­co­ni: Zunächst: Wer ist Ale­jan­dro Geyer?

Alejandro Geyer
Ale­jan­dro Geyer

Gey­er: Ich bin Argen­ti­ni­er, 58 Jah­re alt und war lan­ge Zeit in Rom Mit­ar­bei­ter in loco der argen­ti­ni­schen Bot­schaft. 2016 bin ich in mei­ne Hei­mat zurück­ge­kehrt und seit mehr als einem Jahr arbei­te ich für die NGO Mar­cha por la Vida, die Teil der Stif­tung Gos­pa ist. Heu­te bin ich Koor­di­na­tor des argen­ti­ni­schen Mar­sches für das Leben, der erst­mals am 27. Sep­tem­ber 2017 statt­ge­fun­den hat. Der zwei­te Marsch mit fast zwei Mil­lio­nen Teil­neh­mern in mehr als 220 argen­ti­ni­schen Orten fand am ver­gan­ge­nen 25. März, am Dia del Nino por Nacer, am Tag des unge­bo­re­nen Kin­des statt.

Rus­co­ni: In Rom wer­den Sie den ita­lie­ni­schen Marsch für das Leben ken­nen­ge­lernt haben.

Gey­er: Ja. Als ich in Rom war, wur­de ich ein­ge­la­den, am ita­lie­ni­schen Marsch für das Leben teil­zu­neh­men. Das habe ich sehr ger­ne getan, weil der Wert des Lebens für mich von grund­le­gen­der Bedeu­tung ist. Ich habe auch bei der Orga­ni­sa­ti­on mit­ge­hol­fen. Eines Tages rief mich ein teu­rer Freund aus Argen­ti­ni­en an und erzähl­te, daß sich die Lage im Land ver­än­de­re: Die Abtrei­bungs­pro­pa­gan­da neh­me zu, und der Freund befürch­te­te, daß man frü­her oder spä­ter im Par­la­ment über eine Abtrei­bungs­le­ga­li­sie­rung dis­ku­tie­ren wür­de, wo das The­ma bis dahin nie auf der Tages­ord­nung stand. Die Befürch­tung soll­te sich bewahr­hei­ten. Vor eini­gen Wochen wur­de im Par­la­ment die Debat­te über ein Abtrei­bungs­ge­setz begonnen.

Die „Wende“ von Staatspräsident Mauricio Macri

Rus­co­ni: Hat­te Mau­ricio Macri, Sohn eines Unter­neh­mers kala­bre­si­scher Abstam­mung, der bei den Stich­wah­len im Dezem­ber 2015 zum argen­ti­ni­schen Staats­prä­si­den­ten gewählt wur­de und zuvor bereits Prä­si­dent des Fuß­ball­klubs Boca Juni­ors und Gou­ver­neur von Bue­nos Aires war, aber nicht immer betont, gegen Abtrei­bung zu sein?

 

Marsch für das Leben durch die Straßen von Buenos Aires
Marsch für das Leben durch die Stra­ßen von Bue­nos Aires

Gey­er: Mau­ricio Macri, der Ende 2015 von einer Mit­te-rechts-Mehr­heit zum Staats­prä­si­den­ten gewählt wur­de, hat­te nie eine Bereit­schaft für ein argen­ti­ni­sches Abtrei­bungs­ge­setz durch­blicken las­sen. Am 16. Juni 2016 hat­te er am Ende der Abschluß­mes­se beim natio­na­len Eucha­ri­sti­schen Kon­greß in Tucu­man viel­mehr öffent­lich vor 300.000 Men­schen gesagt: „Defi­en­do la vida des­de la con­cep­ción hasta la muer­te“ (Ich ver­tei­di­ge das Leben von der Zeu­gung bis zum Tod).

Rus­co­ni: Aber bei der tra­di­tio­nel­len Eröff­nung der Par­la­ments­ses­si­on am ver­gan­ge­nen 1. März erteil­te Macri der Debat­te über ein Abtrei­bungs­ge­setz grü­nes Licht.

Gey­er: Bei der Gele­gen­heit sag­te er, wei­ter­hin Abtrei­bungs­geg­ner zu sein, aber es für rich­tig zu hal­ten, daß das Par­la­ment auf „rei­fe und ver­ant­wor­tungs­be­wuß­te“ Wei­se über die vor­lie­gen­den Geset­zes­ent­wür­fe zum The­ma diskutiert.

Rus­co­ni: Kön­nen Sie uns, bevor wir über die mög­li­chen Moti­ve für Macris „Wen­de“ spre­chen, die heu­ti­ge Situa­ti­on in Sachen Abtrei­bung in Argen­ti­ni­en schildern?

Gey­er: Die Abtrei­bung ist nur in eini­gen Regio­nen und in weni­gen Fäl­len erlaubt, zum Bei­spiel nach einer Ver­ge­wal­ti­gung. Es gibt kein Abtrei­bungs­ge­setz auf natio­na­ler Ebe­ne. Auch Cri­sti­na Kirch­ner, die vor­he­ri­ge Staats­prä­si­den­tin, hat­te eine Par­la­ments­de­bat­te zum The­ma abge­lehnt, obwohl eine klei­ne, aber sehr akti­ve Abtrei­bungs­lob­by seit Jahr­zehn­ten Druck aus­übt. Macri ist Staats­prä­si­dent gewor­den und, ich wie­der­ho­le, sei­ne Wäh­ler hat­ten kei­ne Ahnung, daß er eine Abtrei­bungs­de­bat­te begin­nen würde.

Rus­co­ni: Was sind die Moti­ve, die Macri zu die­ser „Wen­de“ bewo­gen haben?

Marsch für das Leben
Marsch für das Leben

Gey­er: Seit Macris Wahl sind bereits mehr als zwei Jah­re ver­gan­gen, aber die Wirt­schafts­kri­se dau­ert an: Argen­ti­ni­en hat ein gro­ßes Arbeits­lo­sen- und Armuts­pro­blem, wäh­rend die Infla­ti­on die Erspar­nis­se auf­frißt. Zudem sind Skan­da­le bekannt­ge­wor­den, in die Mit­ar­bei­ter des Prä­si­den­ten ver­wickelt sein sol­len. Daher gibt es eini­ge, die der Mei­nung sind, daß Macris „Wen­de“ von der Absicht dik­tiert sei, die schwie­ri­ge Wirt­schafts­la­ge mit einer Dis­kus­si­on über ein The­ma zu über­decken, das im gan­zen Land star­ke Emo­tio­nen aus­löst. Tat­säch­lich steht das The­ma Abtrei­bung heu­te in den Medi­en an erster Stel­le, wäh­rend viel weni­ger über Armut und Arbeits­lo­sig­keit gespro­chen wird.
Es gibt auch jene, die über­zeugt sind, daß das Abtrei­bungs­ge­setz durch­ge­hen wird. Macri habe die Abtrei­bungs­de­bat­te im Par­la­ment zuge­las­sen, weil er den vor­lie­gen­den Gesetz­ent­wür­fen ihre extrem­sten Spit­zen neh­men wolle.
Ande­re wie­der­um hal­ten es für plau­si­bel, daß die „Wen­de“ eine Bedin­gung der Welt­bank und ande­rer inter­na­tio­na­ler Ein­rich­tun­gen zur Gewäh­rung neu­er Kre­di­te für Argen­ti­ni­en ist, Kre­di­te, die das Land drin­gen braucht, um den Armen zumin­dest ein Lebens­mi­ni­mum zu sichern.

Die Bedingung der Weltbank

Rus­co­ni: Erklä­rung Sie uns die­sen Mecha­nis­mus etwas genauer.

Gey­er: Die Welt­bank und die mit ihr ver­bun­de­ne Insti­tu­tio­nen wol­len nicht gro­ße Sum­men aus­ge­ben, um damit Arme zu erhal­ten. Die Zahl der Armen, so ihre For­de­rung, habe redu­ziert zu wer­den. Ein Weg, dies zu errei­chen, ist die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung, weil die Glo­ba­li­sten über­zeugt sind, daß Arme dazu nei­gen, „zu vie­le“ Kin­der zu zeu­gen. Aus die­sem Grund sagt man den Län­dern, die Kre­di­te bean­tra­gen: „Wenn ihr das Geld wollt, müßt ihr uns garan­tie­ren, daß ihr ein Abtrei­bungs­ge­setz ein­führt“. So hat man es oft mit den ärm­sten Län­dern in Afri­ka und anders­wo gemacht, und so macht man es – und es gibt gute Grün­de, das zu glau­ben – auch mit Argen­ti­ni­en. Natür­lich ist Abtrei­bung auch ein gro­ßes inter­na­tio­na­les Busi­ness, ein bös­ar­ti­ges, aber gewinn­träch­ti­ges Geschäft. Die finan­zi­el­len Inter­es­sen, die damit bewegt wer­den, sind enorm.

UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA)
UNO-Agen­tu­ren als Abtrei­bungs­lob­by­isten: UN-Bevöl­ke­rungs­fonds (UNFPA)

Rus­co­ni: Es genügt an die Inter­na­tio­nal Plan­ned Paren­thood Fede­ra­ti­on (IPPF) zu den­ken, deren Kern die berüch­tig­te Ket­te von Plan­ned Paren­thood-Abtrei­bung­kli­ni­ken  in den USA bil­det, die unter ande­rem in ille­ga­len Han­del mit Kör­per­tei­len abge­trie­be­ner Kin­der ver­strickt ist.

Gey­er: Es ist wohl kein Zufall, daß aus­ge­rech­net Plan­ned Paren­thood in Bue­nos Aires ein gro­ßes Gebäu­de bezo­gen hat. Jetzt, wo Donald Trump der IPPF in den USA die Gel­der gestri­chen hat, zeigt Plan­ned Paren­thood ver­stärk­tes Inter­es­se an Latein­ame­ri­ka. Der Abtrei­bungs­kon­zern setzt dabei offen­bar auf Argen­ti­ni­en, wie der Erwerb eines so luxu­riö­sen Stütz­punk­tes in der argen­ti­ni­schen Haupt­stadt beweist. Was läßt Plan­ned Paren­thood so opti­mi­stisch sein? Offen­bar gibt es ent­spre­chen­de Zusicherungen.

Rus­co­ni: Nach­dem Macri grü­nes Licht für die Par­la­ments­de­bat­te gege­ben hat­te, gab es Über­ra­schun­gen auch unter den Abgeordneten?

Gey­er: Eini­ge haben sich für ein Abtrei­bungs­ge­setz aus­ge­spro­chen, von denen man es sich nicht erwar­tet hätte.

Viele Macri-Wähler sind empört

Rus­co­ni: Das Par­la­ment, der Argen­ti­ni­sche Natio­nal­kon­greß, umfaßt die Abge­ord­ne­ten­kam­mer und den Senat. Wie sieht es in der Abge­ord­ne­ten­kam­mer aus, wo die Debat­te begon­nen wurde?

Gey­er: Es gibt 257 Abge­ord­ne­te. Der­zeit dürf­te die Front der Abtrei­bungs­geg­ner eine aller­dings wacke­li­ge Mehr­heit von etwa zehn Stim­men haben. Sena­to­ren gibt es 72. Vie­le sind Pero­ni­sten, aber in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen gespal­ten. Das wirk­li­che Pro­blem ist, daß sich vie­le Par­la­ments­ver­tre­ter noch nicht zum The­ma geäu­ßert haben (min­de­stens an die 40). Sie stel­len eine Grau­zo­ne dar. Im Wahl­kampf hat natür­lich kei­ner von ihnen gesagt, daß er für ein Abtrei­bungs­ge­setz ist.

Rus­co­ni: Wie hat die Wäh­ler­schaft auf die neue Situa­ti­on reagiert?

Abtreibungbefürworter (links), Lebenschützer (rechts): „Ich bin nicht dein Körper. Ich bin dein Kind“. Schätzung des Abstimmungsverhaltens.
Abtrei­bungs­be­für­wor­ter (links), Lebens­schüt­zer (rechts): „Mama, ich bin nicht dein Kör­per. Ich bin dein Kind“. Wie wer­den die Abge­ord­ne­ten stimmen?

Gey­er: Vie­le sind nicht nur ent­täuscht, son­dern empört und bezich­tig­ten ihre Ver­tre­ter des Ver­rats. Unse­rer Mei­nung nach ver­fügt das Par­la­ment nicht über die mora­li­sche Auto­ri­tät, eine Debat­te zu die­sem The­ma zu füh­ren. Erstens: Das Leben kann nicht The­ma einer Par­la­ments­de­bat­te sein. Es steht nicht zur Ver­fü­gung. Zwei­tens: Im Wahl­kampf hat nie­mand über die­se The­ma als Tages­ord­nungs­punkt der Par­la­ments­ar­beit gespro­chen. Über­all hört man daher die Bür­ger sagen, daß die Ver­rä­ter bei den Par­la­ments­wah­len 2019 nicht mehr gewählt werden.

Rus­co­ni: Die argen­ti­ni­sche Ver­fas­sung sieht vor, daß der Staats­prä­si­dent gegen Geset­zes­ent­wür­fe, die vom Par­la­ment beschlos­sen wur­den, ein Veto ein­le­gen kann.

Gey­er: Macri hat aber bereits öffent­lich ange­kün­digt, daß er beim Abtrei­bungs­ge­setz nicht davon Gebrauch machen wer­de. Es stimmt, die Ver­fas­sung sieht das Prä­si­den­ten­ve­to vor, das aber über­wun­den wer­den kann, wenn bei­de Kam­mern des Par­la­ments den Ent­wurf mit Zwei­drit­tel­mehr­heit bestätigen.

Rus­co­ni: Es ist auch dar­an zu erin­nern, daß das argen­ti­ni­sche Zivil­ge­setz­buch sagt, daß „der Mensch mit dem Moment sei­ner Zeu­gung im Mut­ter­leib“ zu exi­stie­ren beginnt und „eine Per­son bereits vor der Geburt über Rech­te ver­fügt wie ein Gebo­re­ner“. Auch in Argen­ti­ni­en erzeugt die Abtrei­bungs­lob­by aber mas­si­ven Druck…

Gey­er: Wir haben im ver­gan­ge­nen Sep­tem­ber mit dem ersten argen­ti­ni­schen Marsch für das Leben mobil gemacht. Wir Lai­en fühl­ten die Pflicht, mit Nach­druck einer dro­hen­den Gefahr ent­ge­gen­tre­ten zu müs­sen. Der Marsch fand am 27. Sep­tem­ber 2017 in Bue­nos Aires und in 20 wei­te­ren Städ­ten statt. Argen­ti­ni­en ist sehr groß und nur weni­ge haben die Mög­lich­keit, für eine lan­des­wei­te Kund­ge­bung in die Haupt­stadt zu kom­men. Des­halb haben wir ent­schie­den, daß jeder in sei­ner Stadt einen Marsch orga­ni­sie­ren kann. Ohne beson­de­re Unter­stüt­zer und eigent­lich nur gestützt auf die sozia­len Netz­wer­ke ist es uns gelun­gen, am 27. Sep­tem­ber meh­re­re zehn­tau­send Men­schen zu mobilisieren.

Der 25. März: ein Erfolg jenseits aller Erwartungen

Rus­co­ni: Am ver­gan­ge­nen 25. März waren es viel mehr, fast zwei Millionen…

Gey­er: Ich muß vor­aus­schicken, daß der 25. März für Argen­ti­ni­en ein beson­de­rer Tag ist: der 1995 unter Staats­prä­si­dent Menem ein­ge­führ­te Tag des unge­bo­re­nen Kin­des. Der Marsch für das Leben am 25. März 2018 war ein Ereig­nis, das alle gezwun­gen hat, zur Kennt­nis zu neh­men, daß es eine gro­ße Volks­be­we­gung gegen die Abtrei­bung gibt. In Bue­nos Aires haben mehr als 150.000 Men­schen demon­striert, in Cor­do­ba 135.000, mehr als 80.000 in Men­do­za, 75.000 in Rosa­rio und so wei­ter an mehr als 220 Orten.

Marsch fuer das Leben Argentinien
Marsch für das Leben (25. März 2018)

Rus­co­ni: Sie waren in Bue­nos Aires…

Gey­er: Es war ein Erfolg jen­seits aller Erwar­tun­gen. Ein Sonn­tag nach­mit­tag um 15 Uhr, bei Son­nen­schein und der argen­ti­ni­schen Gewohn­heit, den gan­zen Nach­mit­tag bei Tisch zu sit­zen… und dann die Sie­sta und anschlie­ßend das Fuß­ball­spiel… Da paßt eine Kund­ge­bung eigent­lich nicht hin­ein, und doch kamen vie­le, so vie­le, daß wird den Marsch frü­her als geplant begin­nen muß­ten, weil die Pla­za Ita­lia bereits über­füllt war, aber immer mehr Men­schen zusam­men­ström­ten. Es waren vie­le Fami­li­en, Eltern mit ihren Kin­dern, vie­le jun­ge Men­schen… Zu den belieb­te­sten Slo­gans gehör­te die Mah­nung an die Poli­ti­ker: „Kommt die Abtrei­bung, wäh­le ich dich nicht!“

Rus­co­ni: Ein Argu­ment auf das Poli­ti­ker sen­si­bel reagieren.

Gey­er: In der Tat: Nach dem Marsch war die erste kon­kre­te Aus­wir­kung, daß uns ver­schie­de­ne Abge­ord­ne­te ange­ru­fen haben, um sich über den Erfolg zu erkun­di­gen. „Reden wir kurz mit­ein­an­der: Wie war das, daß so vie­le Leu­te teil­ge­nom­men haben“… Fast zwei Mil­lio­nen Men­schen in ganz Argentinien.

Rus­co­ni: Und danach?

Gey­er: Durch den gro­ßen Erfolg war es nicht mehr mög­lich, den Marsch für das Leben tot­zu­schwei­gen. Die Berich­te über den Marsch ver­brei­te­ten sich in Win­des­ei­le, vor allem im Inter­net. Und die Fotos, beson­ders die Luft­auf­nah­men, haben eine kla­re Spra­che gesprochen…

Rus­co­ni: Der Marsch ist nicht kon­fes­sio­nell gebun­den. Er wird von Lai­en getra­gen und ist für alle offen.

Gey­er: Ich habe mit den Bischö­fen gespro­chen und alle ein­ge­la­den… In der argen­ti­ni­schen Kir­che gab es sol­che, die den Marsch unter­stützt und Auto­bus­se mit der Pfarr­ju­gend geschickt haben, und sol­che, die ihn nicht unter­stützt haben… Es ist klar, daß der Marsch alle Men­schen guten Wil­lens umfaßt. Er ist kein kon­fes­sio­nel­ler Marsch, son­dern ein von Lai­en getra­ge­ner, öku­me­ni­scher, für alle offe­ner Marsch. Ich muß auch die wert­vol­le Unter­stüt­zung der Pro­te­stan­ten erwäh­nen, die bei ver­schie­de­nen Kund­ge­bun­gen sicht­bar wur­de. Wir müs­sen den Cha­rak­ter des Mar­sches als Initia­ti­ve von Lai­en bei­be­hal­ten. Die Medi­en sind immer bereit, die eine oder ande­re, klar zuor­den­ba­re Per­son her­aus­zu­he­ben in der Absicht, das Gan­ze lächer­lich zu machen und alle Teil­neh­mer als bigot­te Interg­ra­li­sten hin­zu­stel­len, die sich in die argen­ti­ni­sche Poli­tik ein­mi­schen wol­len. Dann heißt es: „Wis­sen die nicht, daß die Kir­che in ihren Sakri­stei­en zu blei­ben hat?“ Die Dis­kus­si­on in Argen­ti­ni­en wird beim Stich­wort „Kir­che“ sehr leben­dig und angespannt.

Ein Dokument der Priester von den Rändern

Rus­co­ni: Haben sie in der Hal­tung der Kir­che zwi­schen Sep­tem­ber 2017 und März 2018 eine Ver­än­de­rung festgestellt?

Gey­er: Ja, in dem Sinn, daß der 25. März für uns die Wen­de zwi­schen dem „vor­her“ zum „nach­her“ mar­kiert. Das ist allen klar­ge­wor­den. Wenn ich im ver­gan­ge­nen Jahr für den Marsch am 27. Sep­tem­ber an die Türen der Bischofs­sit­ze und der Pfarr­häu­ser klopf­te, bekam ich oft die Fra­ge zu hören:
Wer seid ihr denn?“ „Der Marsch für das Leben… ken­nen sie den von Lima, Washing­ton, Rom?“ „Nein“. „Na dann eben nicht. Ich hei­ße Ale­jan­dro Gey­er und auf Wiedersehen.“
Jetzt hin­ge­gen sind wir bekannt. Es gibt eini­ge Bischö­fe, so zum Bei­spiel an den Rän­dern von Bue­nos Aires, zum Bei­spiel La Pla­ta und San Miguel, die uns vom ersten Augen­blick an unter­stützt und die Pfar­rei­en ange­hal­ten haben, teilzunehmen.

Don Pepe, Cura villero
Don Pepe, Cura villero

Rus­co­ni: 22 Curas vil­le­ros (Prie­ster der Armen­vier­tel) haben ein Doku­ment gegen das Abtrei­bungs­ge­setz veröffentlicht.

Gey­er: Sie lei­sten ihren Dienst in den Vil­las mise­ri­as, die in Bra­si­li­en Fave­las genannt wer­den. Ich war mit einem von ihnen, Don Pepe, nach dem Marsch zusam­men. Die Wirk­lich­keit ist, daß die Armen das Leben lie­ben. Sie lie­ben ihre Kin­der. Für sie ist es die natür­lich­ste Sache der Welt, Kin­der zu haben. Sie spa­ren sich den Bis­sen Brot vom Mund ab, um ihn einem Kind zu geben. Die Curas vil­le­ros haben die Poli­ti­ker auf­ge­for­dert, die Armen nicht zu instru­men­ta­li­sie­ren. Ihre Bot­schaft lau­tet: Die Armen trei­ben nicht ab. Man­che wer­den dann ihre Schwie­rig­kei­ten haben, aber die Armen bewei­sen Respekt für das Leben, den ande­re nicht haben. Es war eine sehr wich­ti­ge Stel­lung­nah­me. Die Unter­zeich­ner wur­den auch ein­ge­la­den, ihre Beweg­grün­de im Par­la­ment darzulegen.

Rus­co­ni: Der Papst hat am 16. März 2018 einen Brief an das argen­ti­ni­sche Volk geschickt, in dem er sei­ne Lands­leu­te unter ande­rem auf­ruft, zur „Ver­tei­di­gung des Lebens und der Gerech­tig­keit“ bei­zu­tra­gen. Wie­viel Gewicht hat­ten die­se Wor­te von Fran­zis­kus für den Erfolg des Mar­sches am 25. März?

Gey­er: Wenig, und das aus einem ganz ein­fa­chen Grund: Die Medi­en, mit weni­gen Aus­nah­men im katho­li­schen Bereich, haben geschwie­gen und den Brief und sei­nen Inhalt nicht berichtet.

Angespannte Parlamentsdebatte – Nächster Marsch am 20. Mai

Rus­co­ni: Wie kommt die Dis­kus­si­on in der Abge­ord­ne­ten­kam­mer vor­an? Wann ist die Abstim­mung vorgesehen?

Marsch für das Leben
Marsch für das Leben

Gey­er: Die Debat­te erfolgt in einem ange­spann­tem Kli­ma. Der Kampf ist hart und der Aus­gang unge­wiß. Vor­aus­sicht­lich wird die Abge­ord­ne­ten­kam­mer am 6. oder 13. Juni abstim­men. Es wer­den ver­schie­de­ne Vor­schlä­ge abge­stimmt, die bis auf einen von den Abtrei­bungs­be­für­wor­tern stam­men. In eini­gen wird unter ande­rem die Abtrei­bung für min­der­jäh­ri­ge Mäd­chen erlaubt, die Abtrei­bung wegen Depres­si­on der Schwan­ge­re oder wegen Streß. In allen Ent­wür­fen der Abtrei­bungs­be­für­wor­ter ist ein Ver­bot der Ver­wei­ge­rung aus Gewis­sens­grün­den vor­ge­se­hen. Das ist eben­so empö­rend wie schreck­lich. Wir ver­tei­di­gen zwei Leben, das des unge­bo­re­nen Kin­des und das der schwan­ge­ren Mut­ter. Wir ret­ten einer­seits das Unge­bo­re­ne und ver­hin­dern zugleich, daß die Schwan­ge­re im Elend des Post-Abor­ti­on-Syn­droms endet. Wie auch aus den Sta­ti­sti­ken her­vor­geht, hat die Abtrei­bung die Selbst­mord­ra­te unter betrof­fe­nen Frau­en um ein Drit­tel erhöht.

Rus­co­ni: Wie soll es mit der Mobi­li­sie­rung der Stra­ße weitergehen?

Gey­er: Der näch­ste Marsch für das Leben ist bereits für den 20. Mai geplant, in Bue­nos Aires und vie­len ande­ren Städ­ten. Die ver­schie­de­nen Grup­pen, die am Marsch teil­neh­men, sind inzwi­schen zahl­reich gewor­den. So haben sich zum Bei­spiel Ärz­te­grup­pen gebil­det, die am 25. März am Ende der Kund­ge­bung in Bue­nos Aires in ihren wei­ßen Kit­teln vor der gro­ßen Men­schen­men­ge den Eid des Hip­po­kra­tes erneu­ert haben. Das war ein sehr bewe­gen­der Augen­blick. Wir hof­fen, daß die Teil­neh­mer­zah­len im gan­zen Land noch zuneh­men. Mit Sicher­heit wer­den wir am Tag der Abstim­mung auch vor dem Par­la­ment stehen.

Rus­co­ni: Zurück nach Rom: Sie haben gesagt, daß der argen­ti­ni­sche Marsch für das Leben ein „Kind“ des römi­schen Mar­sches ist, der in die­sem Jahr am 19. Mai von der Piaz­za del­la Repubbli­ca aus­ge­hen wird.

Gey­er: Ja, wir sind Kin­der des Mar­sches für das Leben in Rom. Ich ste­he in des­sen Schuld. Es ist mir ein Anlie­gen sei­ne Bot­schaft nach Argen­ti­ni­en zu tra­gen. In Rom habe ich gelernt … ich habe mit den Augen gespei­chert und mir gedacht: Wer weiß, viel­leicht wird es eines Tages in Argen­ti­ni­en nütz­lich sein. Und so war es. Fast zwei Mil­lio­nen Men­schen sind gekom­men. Nun geht es dar­um, wei­ter­zu­ma­chen und nicht locker zu las­sen. Es lohnt sich. Aus gan­zer Über­zeu­gung und mit aller Ent­schlos­sen­heit und ohne Ener­gie zu spa­ren. Alles für die Ver­tei­di­gung des kost­bar­sten Gutes: des Lebens!

Inter­view: Giu­sep­pe Rusconi/​Ros­so­por­po­ra
Über­set­zung: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Mar­cha por la Vita – Argentina/​Alfie Evans (Screen­shots)

 

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