Der ‚autoritäre Charakter’ ist an allem schuld


Theordor W. Adorno
Theordor W. Adorno

Ein Gast­bei­trag von Hubert Hecker.

Anzei­ge

Das am Mar­xis­mus ori­en­tier­te „Insti­tut für Sozi­al­for­schung“[1]Ursprüng­lich soll­te es „Insti­tut für Mar­xis­mus“ hei­ßen, was 1923 als „zu pro­vo­kant“ fal­len­ge­las­sen wur­de. Der Frank­fur­ter Sitz wur­de als „Cafe Marx“ bezeich­net. in Frank­furt ver­la­ger­te sich unter dem Druck des NS-Staa­tes in die USA. Ende der vier­zi­ger Jah­re forsch­te der deut­sche Sozi­al­phi­lo­soph Theo­dor W. Ador­no über gesell­schaft­li­che Vor­ur­tei­le der US-Ame­ri­ka­ner. Mit ande­ren Autoren publi­zier­te er sei­ne Arbeit 1950. Nach sei­ner Rück­kehr aus dem Exil wur­de Ador­no in Frank­furt 1953 in Aner­ken­nung sei­ner empi­ri­schen For­schun­gen in den USA zum Pro­fes­sor für Sozio­lo­gie ernannt.

Förderung von linkem Faschismus

Obwohl Ador­nos Buch: „Stu­di­en zum auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter“ erst 1973 auf Deutsch her­aus­kam, gel­ten die dar­aus schon vor­her in Raub­drucken ver­brei­te­ten Leh­ren als Nähr­bo­den für die 68er Revol­te, wenn nicht als die Anstif­tung zur anti­au­to­ri­tä­ren Studentenbewegung.

Adornos Einfluss auf die Proteste von 1968
Ador­nos Ein­fluss auf die Pro­te­ste von 1968

Doch als die von Ador­no geför­der­ten Frank­fur­ter Stu­den­ten 1968 sein Insti­tut besetz­ten, ließ er die Poli­zei rufen. Dar­auf­hin wur­de er in einem Flug­blatt als „Büt­tel des auto­ri­tä­ren Staa­tes“ bezich­tigt. Jür­gen Haber­mas dia­gno­sti­zier­te damals in den stu­den­ti­schen Aktio­nen „lin­ken Faschis­mus“. Ador­no schloss sich dem Urteil an, dass die rebel­lie­ren­den Stu­den­ten „mit dem Faschis­mus kon­ver­gie­ren – womög­lich unter Beru­fung“ auf sei­ne Stu­di­en. Allein die Kom­bi­na­ti­on von lin­ker Rebel­li­on und Faschis­mus bedeu­te­te ein indi­rek­tes Ein­ge­ständ­nis, dass sei­ne Iden­ti­fi­zie­rung von kon­ser­va­tiv und auto­ri­tär mit anti­de­mo­kra­tisch und faschi­sto­id selbst dem Vor­ur­teil eines ideo­lo­gisch-mora­li­schen Rechts-Links-Sche­mas ent­sprang.  Von einer expli­zi­ten Ein­sicht oder gar Kor­rek­tur sei­ner The­sen ist aller­dings nichts bekannt. Bis heu­te wirkt die­ses fata­le Schub­la­den-Sche­ma von den angeb­lich reak­tio­nä­ren Kon­ser­va­ti­ven und den guten fort­schritt­li­chen Lin­ken nach.

Übri­gens hat die Ein­schät­zung, dass die links­ra­di­ka­len 68er in vie­len Aktio­nen und Begrün­dun­gen nur wie­der­hol­ten, was rechts­ra­di­ka­le Nazi-Stu­den­ten Anfang der 30er Jah­re prak­ti­zier­ten, einer der dama­li­gen SDS-nahen Akti­vi­sten, Götz Aly, in sei­nem Buch „Unser Kampf“ bestätigt.

Eine bit­te­re Iro­nie der lin­ken Gewalt­ge­schich­te ist es, wenn die gewalt­tä­ti­gen Links­fa­schi­sten von heu­te ihre Aktio­nen mit Paro­len und Spruch­bän­dern von Anti­fa­schis­mus tra­ve­stie­ren. Dabei kön­nen sie sich aller­dings auf Ador­nos ein­sei­ti­ge Phi­lo­so­phie vom prä­fa­schi­sti­schen Bür­ger­tum beru­fen. In der Ein­lei­tung sei­nes Buches vom „auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter“ sieht er im bür­ger­li­chen Indi­vi­du­um ein faschi­sti­sches Poten­ti­al, das es emp­fäng­lich mache für anti­de­mo­kra­ti­sche Hal­tun­gen und Hand­lun­gen. Auf die­sem Hin­ter­grund gibt es frap­pie­ren­de Ähn­lich­kei­ten zwi­schen Ador­nos Argu­men­ta­ti­on vor 70 Jah­ren mit der heu­ti­gen Pro­pa­gan­da­het­ze der mar­xi­sti­schen Links­extre­mi­sten, die in alle nicht-lin­ke Ein­stel­lun­gen prä­fa­schi­sti­sche Ten­den­zen hin­ein­le­sen. Auch die­se Struk­tur­ähn­lich­kei­ten deu­ten nach­träg­lich dar­auf hin, dass Ador­nos Grund­schrift zur Anstif­tung der gewalt­tä­ti­gen Stu­den­ten­re­bel­li­on bei­getra­gen hat.

Ein ehe­ma­li­ges SDS-Mit­glied und 1967/​68 Asta-Vor­sit­zen­der in Göt­tin­gen kommt zu einer ähn­li­chen Ein­schät­zung: Wolf­gang Eßbach, heu­te eme­ri­tier­ter Sozio­lo­gie-Pro­fes­sor, meint in dem FAZ-Inter­view vom 7. März 2018: Es habe eine „abgrün­dig destruk­ti­ve Sei­te“ der Acht­und­sech­zi­ger gege­ben „mit Hass, Into­le­ranz und Wahn­vor­stel­lun­gen bei den Revol­tie­ren­den“.  Eine sol­che „Para­noia“ war nach sei­nen Wor­ten die Erwar­tung, „dass die bür­ger­li­chen Schich­ten in der Kri­se des Kapi­ta­lis­mus zum Faschis­mus grif­fen“. In die­sem Sin­ne inter­pre­tier­ten die 68er staat­li­ches Vor­ge­hen etwa mit den Not­stands­ge­set­zen, Poli­zei­ein­sät­zen etc. schon als „Wie­der­kehr“ von faschi­sti­schem Han­deln. Sie sahen damit stu­den­ti­sche Gewalt­ak­tio­nen als gerecht­fer­tig­ten Wider­stand.
Auf der ande­ren Sei­te glaub­ten sie, dass das Bür­ger­tum und sogar die Arbei­ter­schaft durch die Medi­en, ins­be­son­de­re die „Sprin­ger­pres­se“, in ihren auto­ri­tär-faschi­sto­iden Cha­rak­te­ren geför­dert und gefe­stigt werde.

Methodische Mängel

Auch die­se offen­sicht­lich ideo­lo­gi­schen Fehl­lei­tun­gen der 68er Stu­den­ten las­sen auf Ver­zer­run­gen in den Anlei­tungs­schrif­ten ihrer pro­fes­so­ra­len Men­to­ren schließen.

Das Original (1950)
Das Ori­gi­nal (1950)

Wenn man Ador­nos „Stu­di­en zum auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter“ nach ihren begriff­li­chen und metho­di­schen Ansät­zen unter­sucht, erge­ben sich eini­ge frag­wür­di­ge Aspek­te. Pro­ble­ma­tisch ist Ador­nos Begriff und Theo­rie von Faschis­mus, den er weit­ge­hend mit restau­ra­ti­vem Kon­ser­va­tis­mus zusam­men­fal­len lässt. In Wirk­lich­keit war der deut­sche Nazi-Faschis­mus z. B. in vie­len Berei­chen (Euge­nik, Sozi­al­dar­wi­nis­mus, Reform­psych­ia­trie, Keyne­sia­nis­mus, Arbeits­ra­tio­na­li­tät, instru­men­tel­le Ver­nunft etc.)  ein eben­so miss­ra­te­nes Kind der Auf­klä­rung in sei­nen Schat­ten­sei­ten wie Mar­xis­mus und Kommunismus.

Feh­ler­haft ist Ador­nos zen­tra­ler Ansatz, dass eine star­ke Auto­ri­täts­fi­xie­rung zwangs­läu­fig eine prä­fa­schi­sti­sche Dis­po­si­ti­on und nazi­sti­sche Anfäl­lig­keit bedeu­ten wür­de. Dage­gen spre­chen empi­ri­sche Erfah­run­gen gera­de aus der NS-Zeit. Damals waren Gesell­schafts­grup­pen mit star­ker Auto­ri­täts­bin­dung wie die Zeu­gen Jeho­vas oder Katho­li­ken nicht oder deut­lich weni­ger anfäl­lig für den Nazis­mus, jeden­falls weni­ger als die Grup­pen der „auf­ge­klär­ten Chri­sten“, Pro­te­stan­ten, Libe­ra­len, Vor­ur­teils­lo­sen und oder son­sti­gen Pro­gres­si­ven. Selbst den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wäh­lern beschei­nig­ten die Exi­lan­ten-Berich­te star­ke Anfäl­lig­kei­ten für NS-Pro­pa­gan­da in der Wohl­stands­pha­se von 1936 bis 1939.

In die­ser pro­ble­ma­ti­schen Ver­knüp­fung  von Faschis­mus und Auto­ri­täts­ori­en­tie­rung sowie dem dif­fu­sen Faschis­mus­be­griff bestehen die grund­le­gen­den Män­gel von Ador­nos Stu­die. Das soll­te weit­rei­chen­de Ergeb­nis­fol­gen haben. Denn immer­hin war das zen­tra­le metho­di­sche Instru­ment der Stu­die eine soge­nann­te „Faschis­mus-Ska­la“. An einem System von Aus­sa­gen-Kom­ple­xen woll­te Ador­no das „poten­ti­ell faschi­sti­sche Indi­vi­du­um“ fest­ge­macht haben. In sei­nen Kom­men­tie­run­gen zu den Befra­gungs­er­geb­nis­sen zer­fran­ste sein unkla­rer Faschis­mus-Begriff wei­ter aus.

Alle Bürger mehr oder weniger unter Faschismusverdacht

Die Faschis­mus-Ska­la von Ador­nos Stu­die besteht aus 78 „All­tags-Aus­sa­gen“, die eine jewei­li­ge Faschis­mus­nä­he anzei­gen soll. Auf der 74. Stu­fe heißt der Vorhalt:

„Was die­ses Land braucht, sind weni­ger Geset­ze und Ämter als mehr muti­ge, uner­müd­li­che, selbst­lo­se Füh­rer, denen das Volk ver­trau­en kann“.

Adorno: Studien zum autoritären Charakter (1973)
Ador­no: Stu­di­en zum auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter (1973)

Bei Zustim­mung zu die­ser Aus­sa­ge wird der betref­fen­de Pro­bant der Kate­go­rie „auto­ri­tä­re Unter­wür­fig­keit“ zuge­ord­net und  als offe­ner Faschist ein­ge­stuft. Die genann­te Kate­go­rie ist eine von neun Ver­hal­tens­s­te­reo­ty­pen wie „Kon­ven­tio­na­lis­mus“, „auto­ri­tä­re Aggres­si­on“, „Macht­den­ken“, „Destruk­ti­vi­tät und Zynis­mus“, „Pro­jek­ti­vi­tät“ u. a., zu denen die Befra­gungs-Aus­sa­gen zuge­ord­net wer­den. Metho­disch ging es letzt­lich um die „Quan­ti­fi­zie­rung anti­de­mo­kra­ti­scher Trends auf der Ebe­ne der Cha­rak­ter­struk­tur“ (S. 38).

Die Kate­go­rien selbst eben­so wie die inter­pre­ta­to­ri­schen Ein­ord­nun­gen der Aus­sa­gen sind sehr stark von der psy­cho­ana­ly­ti­schen Theo­rie Sig­mund Freuds geprägt. Schon in der Ein­lei­tung wird das Dik­tum gesetzt, dass die „Men­ta­li­tät“ oder Über­zeu­gungs­mu­ster des Indi­vi­du­ums „Aus­druck ver­bor­ge­ner Züge der indi­vi­du­el­len Cha­rak­ter­struk­tur“ sei­en (S. 1). Mit der  pro­ble­ma­ti­schen Freud­schen Welt­an­schau­ung, alle Äuße­run­gen in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft als (Ober­flä­chen-) „Erschei­nun­gen“ zu ent­wer­ten, indem sie auf „wesent­li­che“ psy­cho­lo­gi­sche Trieb­be­din­gun­gen etwa früh­kind­li­cher Art zurück­zu­füh­ren sei­en, wer­den durch­ge­hend die Befra­gungs­er­geb­nis­se inter­pre­tiert. Die prä­fa­schi­sti­sche Bedeu­tung der Kate­go­rie „Pro­jek­ti­on“ etwa erklärt Ador­no so:

„Pro­jek­ti­on ist ein Mit­tel, Es-Trie­be ich-fremd zu hal­ten. Sie kann als Zei­chen der Unzu­läng­lich­keit des Ichs betrach­tet wer­den, sei­ne Funk­tio­nen zu erfül­len“ (S. 60).

Noch deut­li­cher wird das Freud­sche Inter­pre­ta­ti­ons­mu­ster in einem Absatz zur Kate­go­rie „auto­ri­tä­res Syn­drom“ behan­delt (S. 322f): Das „auto­ri­tä­re“ Syn­drom „folgt dem ‚klas­si­schen‘ psy­cho­ana­ly­ti­schen Modell, das den Ödi­pus­kom­plex auf sado­ma­so­chi­sti­sche Wei­se löst“. Nach Freud sei das so zu erklären:

„Die Lie­be (des Jun­gen) zur Mut­ter, in ihrer ursprüng­li­chen Form, fällt unter ein stren­ges Tabu; der resul­tie­ren­de Hass gegen den Vater wird durch Reak­ti­ons­bil­dung in Lie­be umge­wan­delt. Die­se Trans­for­ma­ti­on bringt eine beson­de­re Art von Über-Ich her­vor. Die schwie­rig­ste Auf­ga­be des Indi­vi­du­ums in sei­ner frü­hen Ent­wick­lung, Hass in Lie­be umzu­wan­deln, gelingt nie­mals voll­stän­dig. In der Psy­cho­dy­na­mik des ‚auto­ri­tä­ren‘ Cha­rak­ters wird die frü­he Aggres­si­vi­tät zum Teil absor­biert und schlägt in Maso­chis­mus um, zum Teil bleibt sie als Sadis­mus zurück, der sich ein Ven­til sucht mit den­je­ni­gen, mit denen das Indi­vi­du­um sich nicht iden­ti­fi­ziert: in der Fremd­grup­pe also“ (S. 323).

Damit ist jeder Bür­ger prin­zi­pi­ell unter den Faschis­mus-Ver­dacht gestellt, denn, wie Ador­no bemerkt, die Trans­for­ma­ti­on der frei­ge­setz­ten Trieb­kräf­te im Ödi­pus­kom­plex gelingt „nie­mals voll­stän­dig“. Außer­dem kann kein Mensch die gelun­ge­ne Trans­for­ma­ti­on von sich behaup­ten, denn die Vor­gän­ge sind ja dem Indi­vi­du­um selbst „ver­bor­gen“ und nur der ober­schlaue Tief­blick der Psy­cho-Ana­ly­ti­ker könn­te sie aufdecken.

Kommunismuskritik als verdrängter Antisemitismus?

Und so beginnt Ador­no die Inter­pre­ta­tio­nen der ame­ri­ka­ni­schen Main­stream-Über­zeu­gun­gen, die er auf ihre Ver­drän­gun­gen hin­ter­fragt. In einem län­ge­ren Inter­view befürch­tet ein Mann, „dass es frü­her oder spä­ter einen Krieg mit Russ­land wegen der Atom­bom­be geben“ wer­de (S. 269). Russ­land habe „groß­ar­ti­ge Sachen  zuwe­ge gebracht, Fünf­jah­res­plä­ne, Bil­dung und Erzie­hung. Auch die Wider­stands­kraft der Rus­sen bewun­dert er. Aber Russ­land sei ein biss­chen zu aggres­siv. In Shang­hai habe er per­sön­lich rus­si­sche Kauf­leu­te ken­nen­ge­lernt. Er mag sie nicht. Sie schei­nen so anma­ßend zu sein“. Ador­no dia­gno­sti­ziert in die­sen Gesprächs­äu­ße­run­gen ein­deu­tig „anti­rus­si­sche Gefüh­le“, die der Mann durch „Per­so­na­li­sie­run­gen aus­drückt“. „Die Ein­stel­lung die­ses Man­nes gegen­über Ruß­land kommt, neben­bei bemerkt, bestimm­ten anti­se­mi­ti­schen Ste­reo­ty­pen sehr nahe; jedoch hat er nichts gegen Juden, ja, sei­ne Frau ist Jüdin und in die­sem Fall kann die Anti­pa­thie eine Ver­schie­bungs­er­schei­nung sein“ (S. 269).

Der junge Adorno
Der jun­ge Ador­no um 1920

Ador­nos psy­cho­ana­ly­ti­sche Tie­fen­lo­gik ist etwa fol­gen­de: Eigent­lich, im tief­sten Innern,  dürf­te der Mann anti­se­mi­tisch ein­ge­stellt sein, was aus sei­nen anti­rus­si­schen Gefüh­len zu schlie­ßen sei. Da er aber mit einer Jüdin ver­hei­ra­tet ist, kön­ne er die­sen Anti­se­mi­tis­mus nicht offen zei­gen. Also „ver­schiebt“ er sei­ne eigent­li­che Aggres­si­on von der nahen Fremd­grup­pe der ame­ri­ka­ni­schen Juden gegen die fern­ste­hen­den frem­den Russen.

Man sieht, mit der psy­cho­ana­ly­ti­schen Metho­dik wer­den auch empi­risch begrün­de­te Ein­schät­zun­gen als vor­ur­teils­ge­steu­er­te Trie­b­ag­gres­sio­nen mit kom­ple­xen Ver­schie­bungs­ef­fek­ten hin­ge­stellt. Im beschrie­be­nen Fall wird einem Mann, der mit einer Jüdin ver­hei­ra­tet ist, ohne Anlass und Begrün­dung, rein asso­zia­tiv, Anti­se­mi­tis­mus unter­stellt – eine Ver­leum­dung. Es drängt sich der Ein­druck von psy­cho-ideo­lo­gi­scher Kom­bi­na­to­rik auf, deren vor­ge­stanz­te Denk­we­ge immer auf ein Ergeb­nis hin­aus­lau­fen: Faschismusverdacht!

Das zeigt sich auch bei den unge­hal­te­nen Reak­tio­nen des Mar­xi­sten Ador­nos auf Kri­tik an lin­ken Pro­gram­men: Ein Pro­band lehnt staat­li­che Inter­ven­tio­nen ab, weil er dar­in eine Chan­ce für die Faschi­sten sieht. Er sei sich „der pro­gres­si­ven Funk­ti­on sol­cher Inter­ven­ti­on unter Roo­se­velt“ nicht bewusst. … Trotz sei­ner eher lin­ken Ideo­lo­gie zei­ge die­ser Mann „Sym­pto­me einer Kon­fu­si­on, die ihn zum Opfer pseu­do­pro­gres­si­ver Schlag­wor­te faschi­sti­scher Pro­pa­gan­da machen könn­te“ (S. 257f).

Der Mann hat­te rich­tig beob­ach­tet, dass die wirt­schafts­po­li­ti­schen Inter­ven­tio­nen von Prä­si­dent Roo­se­velt („New Deal“) durch­aus Ähn­lich­kei­ten hat­te mit den Arbeits­be­schaf­fungs­pro­gram­men  von Hit­ler, was ihn skep­tisch mach­te. Das nennt Ador­no dann „Kon­fu­si­on“, weil der „an sich“ lin­ke Pro­band nicht den an sich lin­ken Pro­gram­men zustimmt.

Adornos Sympathien für den Stalinismus
Ador­nos Sym­pa­thien für den Stalinismus

Ador­no ver­sucht sei­ne war­me Sym­pa­thie für den dama­li­gen Sta­li­nis­mus – wie vie­le intel­lek­tu­el­le Links­blind­gän­ger in den 30er und 40er Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts auch – gar nicht erst zu ver­ber­gen: Ein Stu­dent meint, dass der Kom­mu­nis­mus in ärme­ren Län­dern wie Russ­land viel­leicht not­wen­dig sei. Ame­ri­ka sei aber für den Sozia­lis­mus ein viel zu rei­ches und weit ent­wickel­tes Land. Ador­no kom­men­tiert dazu: „Der Gedan­ke kommt ihm nicht, dass eine kol­lek­ti­vi­sti­sche Wirt­schaft in einem hoch­in­du­stria­li­sier­ten, voll ent­wickel­ten Land leich­ter durch­zu­füh­ren wäre“ (S. 276), wie das ja auch Marx wei­land pro­phe­zeit hat­te, was aber nicht ein­traf. Nach Ador­no hät­te man 1949 leicht und locker den USA die kol­lek­ti­vi­sti­sche Plan­wirt­schaft über­stül­pen können.

Ein jun­ges Mäd­chen sagt: „Ich kann die tota­li­tä­ren Ideen der Faschi­sten und die Zen­tra­li­sie­rung bei den Kom­mu­ni­sten nicht lei­den. In Russ­land hat man nichts für sich selbst, alles gehört einem Mann. Die gehen bei allen so gewalt­tä­tig vor“.

Und ein Gefan­ge­ner erklärt: „Wenn die Macht der Arbei­ter­schaft wei­ter zunimmt, dann wird es bei uns wie in Ruß­land sein. Dadurch kom­men die Kriege“.

Zu die­sen Ant­wor­ten rastet Ador­no förm­lich aus: „Die kom­plet­te Irra­tio­na­li­tät, um nicht zu sagen Idio­tie, der letz­ten Bei­spie­le zeigt, auf wel­che uner­mess­li­che psy­chi­sche Hilfs­quel­len faschi­sti­sche Pro­pa­gan­da bau­en kann, wenn sie einen mehr oder weni­ger ima­gi­nä­ren Kom­mu­nis­mus denunziert …“.

Anti­kom­mu­nis­mus also als psy­chisch ver­bor­ge­nes und ver­bo­ge­nes Faschis­mus-Poten­ti­al, „beglei­tet von para­no­iden Ver­dre­hun­gen“ (S. 274).

Selbst eine „her­ab­las­sen­de“, distan­zier­te Libe­ra­li­tät gegen­über dem rus­si­schen Kom­mu­nis­mus hält Ador­no für gera­de­zu gefähr­lich, wie sie ein rela­tiv pro­gres­si­ver Medi­zin­stu­dent in küh­ler, nicht-ideo­lo­gi­scher Tole­ranz äußert: „Wir kön­nen mit Russ­land zusam­men­ar­bei­ten; wenn sie den Kom­mu­nis­mus wol­len, dann sol­len sie ihn haben“. Ador­no: „Genau die­se Prag­ma­ti­sie­rung der Poli­tik bestimmt letzt­lich die faschi­sti­sche Phi­lo­so­phie“ (S. 277).

So wie eini­ge Jah­re spä­ter der Kom­mu­ni­sten­jä­ger McCar­thy hin­ter jedem Busch einen Kom­mu­ni­sten auf­decken woll­te, so ent­deckt Ador­no in der See­le von jedem kom­mu­nis­mus-kri­ti­schen Bür­ger einen poten­ti­el­len klei­nen Faschisten.

Zusam­men­fas­send folgt aus Ador­nos Aus­füh­run­gen: Wer den kom­mu­ni­sti­schen Sta­li­nis­mus nicht gut fin­det – wie in der Kriegs­zeit, als die ame­ri­ka­ni­schen Medi­en Sta­lin gele­gent­lich als „Uncle Jo“ ver­nied­lich­ten –, der arbei­tet den Faschi­sten in die Hände.

Religiosität grundsätzlich unter Faschismusverdacht …

In einem wei­te­ren Kapi­tel inter­pre­tiert Ador­no „Reli­giö­se Vor­stel­lun­gen im Interview-Material“(S. 280–302). Reli­gi­on, zumal die christ­li­che „Sohn-Reli­gi­on“ (gegen­über der jüdi­schen „Vater-Reli­gi­on“) ist für einen ange­lern­ten Psy­cho­ana­ly­ti­ker wie Ador­no ein gefun­de­nes Fres­sen. Der Leser wird ahnen, dass aus der psy­cho­ana­ly­ti­schen Frosch­per­spek­ti­ve Reli­gio­si­tät als Über-Ich-Phä­no­men grund­sätz­lich dem Faschis­mus­ver­dacht aus­ge­setzt wer­den müss­te und nur die „Eman­zi­pa­ti­on (…) von der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Reli­gi­on“ zu einer „gewis­sen Stär­ke des Ichs“ befreit (S. 296f).

Ador­no führt aus:

„Unse­re Hypo­the­se von der ’neu­tra­li­sier­ten‘ Reli­gi­on wird durch ein Cha­rak­te­ri­sti­kum belegt, dem wir ziem­lich häu­fig im Inter­view­ma­te­ri­al begeg­nen. Es ist die Nei­gung, Reli­gi­on als Mit­tel, nicht als Selbst­zweck zu betrach­ten, das heißt, Reli­gi­on nicht um ihrer objek­ti­ven Wahr­heit, son­dern um ihres Nut­zens wil­len zu bil­li­gen, um Zie­le zu ver­wirk­li­chen, die auch mit ande­ren Mit­teln erreicht wer­den könn­ten. Die­ser Stand­punkt ent­spricht der all­ge­mei­nen Ten­denz zur Unter­ord­nung und zum Ver­zicht auf ein eig­nes Urteil, die so cha­rak­te­ri­stisch für die Men­ta­li­tät der Anhän­ger faschi­sti­scher Bewe­gung ist“ (S. 287).

Mit die­sem Kate­go­rien-Kon­strukt glaubt der Mar­xist tra­di­tio­nel­le Reli­gio­si­tät ent­larvt zu haben.

Theodor W. Adorno um 1928
Theo­dor W. Ador­no als Student

Die „neu­tra­li­sier­te“ Reli­gi­on kon­kre­ti­siert Ador­no an einer Interview-Äußerung:

„ … Reli­gi­on gibt etwas, an das man sich hal­ten kann, wonach man sein Leben ein­rich­ten kann“ (S. 289).

Die­se Aus­sa­ge klingt ent­fernt nach Luthers Wort, dass einen Gott haben bedeu­te, sich an ihn hal­ten in allem Guten und Zuflucht suchen in allen Nöten. Für Ador­no ist die­se Äuße­rung im Gegen­teil cha­rak­te­ri­stisch für einen ent­leer­ten, „neu­tra­li­sier­ten“, Faschis­mus för­der­li­chen Religionsersatz:

„Wenn Reli­gi­on nur noch gebraucht wird als etwas, ‘wor­an man sich hal­ten kann’, so ver­mag die­sem Bedürf­nis alles zu genü­gen, was dem Indi­vi­du­um abso­lu­te Auto­ri­tät bie­tet, wie …“ – drei­mal darf man raten – „der faschi­sti­sche Staat“ natürlich.

Und dann wei­ter in die­sem Stil  zum The­ma: Reli­gi­on, Faschis­mus und Frauen:

„Sehr wahr­schein­lich – ‚pro­ba­b­ly‘ – hat der Faschis­mus bei den deut­schen Frau­en eben die Rol­le über­nom­men, die zuvor ihr Glau­be an die posi­ti­ve Reli­gi­on inne­hat­te. Psy­cho­lo­gisch wirkt die faschi­sti­sche Hier­ar­chie weit­ge­hend als säku­la­ri­sier­ter Ersatz der kirch­li­chen. Schließ­lich ver­brei­te­te sich der Natio­nal­so­zia­lis­mus von Süd­deutsch­land aus, das eine star­ke römisch-katho­li­sche Tra­di­ti­on hat“ (S. 289).

… insbesondere bei katholischen Frauen

Adorno 1933 am Strand auf Rügen.
Ador­no 1933 am Strand auf Rügen.

Letzt­lich wären also Kir­che und Katho­li­ken am Wach­sen des deut­schen Natio­nal­so­zia­lis­mus ent­schei­dend betei­ligt – eine The­se bar jeder histo­ri­schen Empi­rie. Geschicht­li­che Tat­sa­che ist, dass auf­grund des Unver­ein­bar­keits­be­schlus­ses der deut­schen Bischö­fe bis 1933 die NSDAP rela­tiv weni­ge katho­li­sche Par­tei­gän­ger hat­te. Hit­ler wur­de vor allem von den Nicht-Katho­li­ken gewählt. In katho­lisch gepräg­ten Regio­nen war die NSDAP eher eine Mit­tel­par­tei mit hälf­ti­gen Ergeb­nis­sen im Ver­gleich zum Reichs­durch­schnitt – ins­be­son­de­re im süd­deut­schen Bayern.

Ins­ge­samt erweist sich Ador­nos Arbeit zum „auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter“ als ideo­lo­gie­ge­lei­te­te und hoch­spe­ku­la­ti­ve Stu­die, in der aus sozia­li­sti­scher Per­spek­ti­ve ein aus­ufern­der Faschis­mus­ver­dacht gegen­über allen Schich­ten des Bür­ger­tums unter­stellt und dann in die Befra­gungs­er­geb­nis­se hin­ein­in­ter­pre­tiert wird mit psy­cho­ana­ly­ti­schen Denkmustern.

Lite­ra­tur: Theo­dor W. Ador­no: Stu­di­en zum auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter, Suhr­kamp-Ver­lag Frank­furt am Main, 2. Auf­la­ge 1976

In der Rei­he bereits veröffentlicht:

Text: Hubert Hecker
Bild: Charnel House/​MiL (Screen­shots)

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1 Ursprüng­lich soll­te es „Insti­tut für Mar­xis­mus“ hei­ßen, was 1923 als „zu pro­vo­kant“ fal­len­ge­las­sen wur­de. Der Frank­fur­ter Sitz wur­de als „Cafe Marx“ bezeichnet.
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1 Kommentar

  1. Marx sagt von sich selbst: „Sicher ist, dass ich kein Mar­xist bin.“
    Auch Ador­no ist kein „Mar­xist“ und sei­ne Theo­rie lässt sich nicht auf eine Sache fest­na­geln wie der Katho­li­zis­mus. Es sei denn, aus dem Zusam­men­hang heraus.

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