
Von Tom Hemerken
„Die Fundamente des Lebens sind ins Schwanken geraten.“
Handelt es sich dabei „um eine Krise der außer- und antichristlichen Welt“ oder um eine „Krise des Christentums“ selbst? Diese ganz aktuell erscheinenden Begriffe wurden bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts notiert, als Nikolai A. Berdiajew in Luzern sein Buch „Von der Würde des Christentums und der Unwürde des Christen“ veröffentlichte. Sein Buch ist nun als schmales Bändchen im Verlag Renovamen neu erschienen; es trägt jetzt den Titel „Im Herzen die Freiheit. Das Bürgertum zwischen Sinnsuche und Selbstgeißelung“.

Nikolai A. Berdiajew, einst Marxist, der sich bekehrte und russisch-orthodoxer Christ wurde, kam in der Zwischenkriegszeit nach seiner Ausweisung aus dem sowjetischen Mutter-Staat nach Berlin. Unter den Nazis konnte ein Philosoph mit seiner Auffassung nicht veröffentlichen. So ging er zum zweiten Mal ins Exil, diesmal nach Paris.
Das Buch Berdiajews besteht aus drei Kapiteln. Er befasst sich gemäß dem Buchtitel der Erstveröffentlichung mit der Würde des Christentums und den darin sich bewegenden unwürdigen Christen, wobei es hier um ein authentisches Christentum geht in seiner Auseinandersetzung mit den angeblichen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Erwartungen. Der Autor mahnt „geistliche Nüchternheit“ an und weiß, dass „das Himmelreich Gewalt“ leiden muss. Er stellt einerseits fest, der Staat habe „die Insignien des Christentums usurpiert, ohne in Wahrheit christlichen Geistes zu sein“, um andererseits der Kirche ins Stammbuch zu schreiben, dass das „veräußerlichte, rhetorische und heuchlerische Christentum“ nicht mehr zu bestehen vermag, „seine Zeit ist vorüber“.
Im zweiten Kapitel lesen wir über das Bürgertum:
„Der Bürger liebt die Wunder nicht und hat Furcht vor ihnen, weil sie alle seine Aussichten auf ein gut eingerichtetes Leben vernichten könnten.“
In diesen Ausführungen erkennt der Leser nicht nur sich selbst sondern auch den Zustand seiner Kirche.
Im dritten Kapitel geht es um die geistige Situation der modernen Welt. Es kann nicht verwundern, dass Nikolai A. Berdiajew über seinen Tellerrand der Aktualität hinausblickt. So ist dem aufmerksamen Leser möglich, die moderne Welt der 20er-Jahre in unsere Zeit zu übertragen. Zwar wird hier der Begriff der damals modernen Technik verwendet, doch kann er leicht erweitert werden in das Szenario heutiger Computertechnologie und moderner Internetmedien. Das Leben im Alltag spielt sich immer mehr jenseits von Religion und erst recht von einem christlichen Lebensrhythmus ab. Technik bedeute, so ist zu lesen, „einen Übergang vom Organischen zur Organisation“; sie wird zu einer Macht, die sich den „Schein der Neutralität“ gab, die ein „Werkzeug des Bösen“ sei. So sei die Seele der Technik zum Opfer gefallen, meint Berdiajew. Er spricht sogar von Apostasie. Nur im christlichen Geiste könne Kultur und Gesellschaft aufgebaut werden. Und „nur in Christus wird das Antlitz des Menschen gerettet.“
Dem empfehlenswerten Buch ist ein Vorwort von Michael Weigl vorangestellt, der resümiert:
„Anhand seiner Analyse fällt es fast schon leicht, das spießige moderne Christentum mit ihrer Weltliebe bzw. Weltangst hinter sich zu lassen, und um ein Christentum zu ringen, das diesen Namen verdient.“
Nikolai A. Berdiajew
Im Herzen die Freiheit. Das Bürgertum zwischen Sinnsuche und Selbstgeißelung
Renovamen-Verlag 2018
104 Seiten, Klappenbroschur. 12,00 Euro
ISBN: 978–3956211331