
(Paris) Am 20. Juni wurde bekannt, daß die vier Kardinäle, die Papst Franziskus seit neun Monate ohne Antwort auf ihre Dubia (Zweifel) zum umstrittenen nachsynodalen Schreiben Amoris Laetitia läßt, seit zwei Monaten auch vergeblich auf eine Antwort auf ihr Gesuch um eine Audienz warten. Am Tag darauf veröffentlichte L’Homme Nouveau ein Interview mit dem bekannten französischen Priester, Abbé Claude Barthe. Das Interview über den Papst, Amoris laetitia und die Kardinäle führte Philippe Maxence.
L’Homme Nouveau: Die Tatsache, daß der Brief der Kardinäle Caffarra, Burke, Meisner und Brandmüller an Papst mit der Bitte um eine Audienz ohne Antwort geblieben ist, führt weltweit zu Empörung, besonders in Italien und Frankreich. Wie sehen Sie diesen Vorfall?
Abbé Claude Barthe: Es gibt zwei Aspekte, die von den italienischen Vatikanisten hervorgehoben werden. Einerseits das Schweigen des Papstes, der den Kardinälen nicht auf ihre Fragen zum Bruch mit dem Lehramt im 8. Kapitel von Amoris laetitia antwortet und ihnen nun auch nicht auf ihr Audienzgesuch antwortet. Das ist ein ohrenbetäubendes Schweigen. Andererseits haben die Kardinäle (die aufscheinen und auch jene, die sie unterstützen) sich entschlossen, ihr Vorgehen öffentlich bekannt zu machen. Das läßt annehmen, daß die Linie einer respektvollen, aber entschiedenen „brüderlichen Zurechtweisung“, die sie begonnen haben, fortgesetzt wird.
L’Homme Nouveau: Ist das eine neue Situation?
Abbé Claude Barthe: Für sie ist es eine neue Situation. Für viele andere ist es aber eine alte Geschichte. Bestimmte kirchliche Aspekte des Zweiten Vatikanischen Konzils haben einen großen Aufruhr in der Kirche ausgelöst, mit vielen Reaktionen der „Nicht-Rezeption“.
Die Ehemoral, die in denselben Abgrund mitgerissen zu werden drohte, hielt allerdings stand: vor allem Humanae vitae von Paul VI. und der ganze Corpus der Morallehre, der wie eine Fortsetzung dieser Enzyklika und auch als Fortsetzung der Lehre von Pius XII. ausgearbeitet wurde, die Instruktion Donum vitae, die Enzykliken Evangelium vitae, Veritatis splendor, das Schreiben Familiaris consortio, die Moralteile des Katechismus der Katholischen Kirche.
Es ist anzumerken, daß Kardinal Caffarra, der heute eine Führungsrolle einnimmt, als Präsident des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie an der Lateranuniversität einer der großen Baumeister dieser sogenannten Lehre der „Restauration“ war. Heute aber gibt mit Amoris laetitia auch dieser Moraldamm nach.
Die Verteidiger der bisherigen Morallehre befinden sich nun genau in der Situation der Verteidiger des früheren Kirchenverständnisses: Man antwortet ihnen nicht. Heute sind es allerdings Kardinäle der Heiligen Römischen Kirche, die Fragen aufwerfen.
L’Homme Nouveau: Spielen Sie auf die Fragen an, die Msgr. Lefebvre beispielsweise bezüglich der Religionsfreiheit und der Ökumene stellte?
Abbé Claude Barthe: Nicht nur Msgr. Lefebvre und nicht nur was die Fragen zur Religionsfreiheit und der Ökumene betrifft. Die wichtigsten Fragen waren m.E. jene, die zur höchsten Lehrautorität nach dem Zweiten Vaticanum gestellt wurden.

Da dieses Konzil beschlossen hatte, keine neue Lehren zu erarbeiten, die den Status der Unfehlbarkeit haben (das berühmte „nur pastorale Konzil“), wurden die Punkte, mit denen die Konzilsminderheit Schwierigkeiten hatte, in eine neue Kategorie Kraut und Rüben eingeordnet, die niemand wirklich verpflichtet und die als „nur authentisches Lehramt“ eingestuft wurde. Doch mit einem Schlag wurde es dann auch für die Morallehre, obwohl auf dem Naturrecht gegründet, plötzlich zur Regel, sie nur mehr als „nur authentische“, aber nicht mehr unfehlbare Lehre zu behaupten.
Daher rührt der progressistische, theologische Widerspruch gegen Rom, der bis zum derzeitigen Pontifikat nie mehr aufgehört hat: ein ekklesiologischer Widerspruch (Drewermann, Kacques Dupuy), ein politischer Widerspruch (die Theologen der Befreiungstheologie), vor allem aber ein moralischer Widerspruch (Curran, Fuch, Thevenot, Kardinal Martini mit dem, was sein „Regierungsprogramm“ als Papst bezeichnet wurde, usw.).
Das ist umgekehrt der Grund, warum einige amerikanische Moraltheologen wie Pater John Ford und Germain Grisez, von der Universität Notre-Dame, aber auch Pater Ermengildo Lio von der Universität Alfonsiana in Rom wollten, daß die Morallehre wegen ihrer Natur als unfehlbar erklärt wird. Gerade bei den vom Institut Johannes Paul II. von Kardinal Carlo Caffarra organisierten Gesprächen Ende der 80er Jahre wurden diese Fragen diskutiert.
Meinerseits habe ich mich auf sehr bescheidene Weise der Anfrage von Germain Grisez und des Moraltheologen John Finnis von Oxford an die Glaubenskongregation angeschlossen. Ohne jeden Erfolg. War es etwa nicht von Bedeutung, daß die Christen und die Beichtväter erfahren, ob die Lehre von Humanae vitae unveränderlich ist oder nicht? Auf diese Frage zu antworten, hätte zu zerreißenden Revisionen bezüglich des höchsten Lehrautorität geführt. Revisionen, die man ohne Zweifel nicht riskieren wollte.
L’Homme Nouveau: Heute spricht man über die offizielle Neuinterpretation von Humanae vitae.
Abbé Caude Barthe: Das ist sehr schwerwiegend. In Wirklichkeit können bereits die im 8. Kapitel von Amoris laetitia ausgeführten Grundsätze herangezogen werden, um Humanae vitae „neu zu interpretieren“. Die Nr. 301 des Apostolischen Schreibens erklärt: „Daher ist es nicht mehr möglich zu behaupten, daß alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben. […] Ein Mensch […] kann sich in einer konkreten Lage befinden, die ihm nicht erlaubt, anders zu handeln und andere Entscheidungen zu treffen, ohne eine neue Schuld auf sich zu laden.“
Es ist klar: Wenn das für den Ehebruch stimmt, dann stimmt es erst recht für die Verhütung. Wenn man Humanae vitae schwarz auf weiß widersprechen will, wird die Wirkung verheerend sein. Gott läßt das Böse nur zu, um eine größeres Gutes zu erreichen. Die Krisen haben diese Wirkungskraft, daß sie es ermöglichen, bis zur Wurzel des Übels vorzustoßen, und diese Wurzel ist maßgebend. Völlig angemessen zitierte Thibault Collin eine Rede von Paul VI. aus dem Jahr 1972. „Wir möchten fähig sein, mehr denn je in diesem Augenblick die von Gott dem Petrus zugewiesene Aufgabe zu erfüllen: die Brüder im Glauben zu stärken. Wir möchten Euch dieses Charisma der Gewißheit weitergeben, daß der Herr dem gibt, der Ihn, wenn auch unwürdig, auf dieser Erde vertritt.“ Daher die Anfrage, die seit 50 Jahren diese Stärkung einfordert.
Die Gegner der zweifelnden Kardinäle beschuldigen sie, unter dem Vorwand von Fragen dem Papst die eigenen Antworten aufzwingen zu wollen?
Sie stellen Fragen, weil man das in der Kirche gegenüber den Hirten immer so gemacht hat. Man fragt sie nach dem Brot des Wortes und der Gnade. Es stimmt allerdings, daß hinter ihren Fragen eine „brüderliche Zurechtweisung“ erkennbar wird, oder, wenn man es so will, eine weit radikalere Frage oder Aufforderung: daß die Hirten, und vor allen anderen der Erste unter ihnen, wirklich Hirten seien.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/L’Homme Nouveau