(Bern) Auf den Tag genau reichte Bischof Vitus Huonder von Chur sein Rücktrittsgesuch ein. Am 21. April 1942 wurde er in Trun im Kanton Graubünden geboren. Gestern vollendete er sein 75. Lebensjahr. Wie die Schweizer Medien unter Berufung auf die Pressestelle des Bistums berichteten, bot er noch am selben Tag Papst Franziskus seinen Rücktritt an. Der Schweizer Staatssender SRF lieferte in seinem Bericht gleich als allererstes Wort jene Chiffre, die das Wirken Huonders als Oberhirte des größten Schweizer Bistums gegen seinen Willen überschattete: „umstritten“. Im aktuellen Sprachgebrauch der Medien meint dieses Adjektiv in bezug auf Kirchenvertreter eine lehramtstreue, daher konservative Haltung im besten Wortsinn. „Mit seinen konservativen Ansichten über Familie und Sexualität hatte Huonder immer wieder für Aufregung gesorgt und auch bei Katholiken scharfe Kritik geerntet“, so der SRF-Bericht. Mehr noch schwelte ein innerkirchlicher Machtkampf der Progressiven gegen die Churer Bischofsburg. Im 16. Jahrhundert stürmten die reformierten Bündner dagegen an, heute wirken die katholische Angreifer wie „Neoreformierte“.
Der lange Churer „Machtkampf“
Der Churer „Machtkampf“, hinter dem es nicht – wie Bischofskritiker gerne behaupten – in erster Linie um Macht geht, sondern um das Kirchenverständnis und grundverschiedene Theologien, reicht schon länger zurück. In Chur stand Ende der 80er Jahre die Nachfolge von Bischof Johannes Vonderach zur Diskussion, der seit 1962 regierte und damit – „vorkonziliar“ eingesetzt – eine personelle Klammer weit in die Nachkonzilszeit hinein bildete. Die eigentliche Richtungsentscheidung stand somit erst bei seinem Abgang auf dem Tapet. Aufgrund der Besonderheiten bei der Bischofsernennung in einigen (alten) Schweizer Bistümern, ging Papst Johannes Paul II. präventiv einen eigenen Weg und ernannte im März 1988 mit Wolfgang Haas, dem damaligen Kanzler der Diözese, einen Koadjutor mit Nachfolgerecht.
Daraus entstand ein jahrelanger, für Schweizer Verhältnis bemerkenswert polemisch geführter Konflikt, der sich vordergründig an kirchenrechtlichen Bestimmungen festmachte, in Wirklichkeit einen grundlegenden Richtungsstreit meinte. Auch in der Schweizer Katholizität hatte seit den späten 60er Jahren ein massiver Erosionsprozeß eingesetzt. Teile des Klerus und des kirchlichen Laienapparates waren rechtgläubig zu Bett gegangen und am nächsten Morgen progressiv aufgewacht. Währenddessen verdunstet der Glauben im Volk, das großen Umbrüchen ausgesetzt ist.
Das wußte man auch in Rom. Bischof Vonderach nahm seinen Koadjutor Haas in Schutz und bezichtigte die Medien, erst einen Konflikt herbeigeredet zu haben. Der massive Widerstand gegen Haas, heute Erzbischof im kleinen, aber feinen Fürstentum Liechtenstein, hatte weniger mit seiner Person zu tun, sondern ist nur vor einem größeren, gesamtdeutschen Hintergrund zu verstehen. Modernistische und progressive Kirchenkreise waren seit Mitte der 80er Jahre alarmiert und in heller Aufregung. Ihr Feindbild war der in Rom regierende Papst Johannes Paul II., der entscheidende Schock dessen Nachfolgeregelung im Erzbistum Wien, wo er der Ära von Kardinal Franz König im Juli 1986 den Benediktiner Hans Hermann Groer entgegensetzte. Weitere konservative Bischofsernennungen in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland folgten, dort die Berufung von Joachim Kardinal Meisner an die Spitze des einflußreichen Erzbistums Köln.
Die „neuen“ Bischofsernennungen von Johannes Paul II. und die „Kölner Erklärung“
Die Ernennung von Haas signalisierte, daß die von Kritikern als „Restauration“ verschriene Linie des polnischen Papstes auch auf die Schweiz ausgriff. Von einem „Flächenbrand“ war die Rede. Dem wollte man wehren. Der Churer Nachfolgestreit war Anlaß für die „Kölner Erklärung“ von mehr als 100 Theologen des deutschen Sprachraums. Sie warfen Johannes Paul II. unter dem Motto „Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität“ einen „autoritären“ Führungsstil vor. Was müßten dieselben Unterzeichner, so sie noch leben, dann zum Führungsstil von Papst Franziskus sagen? Doch diesbezüglich herrscht zustimmendes Schweigen. Mit der „Erklärung“ war die Ernennung des neuen Bischofs von Chur jedenfalls zu weit mehr als nur einem lokalen Thema geworden.
Haas wurde zum Prügelknaben des linken Kirchenflügels, an dem man sich gegen Rom abarbeiten konnte und ein Exempel zu statuieren versuchte. Aufgrund inhaltlicher Affinitäten mit dem Zeitgeist konnte dieser Kirchenflügel auf kräftige Unterstützung im außerkirchlichen Bereich, besonders in den Medien zählen. Der Sturz und die Beseitigung konservativer Bischöfe sollte im deutschen Sprachraum bald zum einstudierten Zeitvertreib „kirchenkritischer“ Kreise werden. Die Liste der Opfer ist inzwischen lang. Das erste und entscheidende Opfer war allerdings nicht Bischof Haas, sondern Kardinal Groer in Wien, der im September 1995, im 76. Lebensjahr, nach einer bis dahin beispiellosen Kampagne seinen Rücktritt erklärte. Ihm sollte kurz darauf Bischof Haas folgen, wenn sein „Sturz“ letztlich auch zu einer Wegbeförderung wurde.
Unerbittlicher progressiver Boykott
Die Fronten im Bistum Chur waren dermaßen verhärtet, der Boykott progressiver Kleriker und Laienvertreter so unerbittlich, das duale Schweizer Kirchenrecht so kirchenfeindlich, daß aus Sorge vor einem Schisma nach einer „Lösung“ gesucht wurde. Die Beseitigung von Haas als Bischof von Chur gelang. Der Vatikan brachte seine Mißbilligung gegen die progressiven Hardliner jedoch unmißverständlich zum Ausdruck, indem er das Fürstentum Liechtenstein aus dem Bistum herauslöste und zum Erzbistum erhob. Damit wahrte der Vatikan das Gesicht und wurde Haas der Abgang „versüßt“. Nach der Vernichtung von Kardinal Groer in Wien konnte die Rangerhöhung in Vaduz nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Vertreibung von Haas aus Chur ein weiterer Sieg gegen den päpstlichen Versuch war, durch Bischofsernennungen einen Kurswechsel zu erreichen. Der Papst hatte richtig erkannt, daß die hierarchisch gegliederte Kirche auch im deutschen Sprachraum nur von oben erneuert werden und die fortschreitende innere Zerrüttung durch Verlust an Glaubenssubstanz gestoppt werden konnte, jedenfalls mußte jede Erneuerung von unten erfolglos bleiben, wenn sie nicht von oben gewollt und tatkräftigt gefördert würde.
Auf Haas folgte mit dem Benediktiner Amedée Grab eine leichte Beruhigung. Er stammte aus dem Kanton Schwyz, der sich besonders massiv auf staatsrechtlicher Ebene gegen Haas gewandt hatte. 2007, als Papst Benedikt XVI. Vitus Huonder zum neuen Bischof ernannte, wurden mit einem Schlag alle mühsam übertünchten Risse wieder sichtbar. An keiner anderen Diözese des deutschen Sprachraums zeigt sich gnadenloser und offener als in Chur, daß die Einheit der katholischen Kirche nur mehr ein Schein ist. Noch reichen die Klammern mit Mühe und Not aus, die auseinanderstrebenden Kräfte pro forma zusammenzuhalten.
Msgr. Huonder, förderte als guter Hirte jene Kräfte, von denen nach menschlichem Ermessen eine Erneuerung der Kirche ausgehen kann oder unterstützt wird. Dazu zählen für den Churer Oberhirten nicht zuletzt auch die Kräfte der Tradition, die er väterlich förderte. Mehrfach zelebrierte er in der Vergangenheit die Heilige Messe im überlieferten Ritus und ernannte, als erster Bischof weltweit, mit Pater Martin Ramm von der Petrusbruderschaft einen eigenen Bischofsvikar für die Gläubigen des überlieferten Ritus.
Die Konflikte, die Bischof Huonder von in- und außerhalb der Kirche ertragen mußte, sind zahlreich. Als Beispiel sei nur an den Sommer 2015 erinnert, als ein Schweizer Homo-Dachverband gegen den Bischof wegen angeblicher „homophober“ Äußerungen Strafanzeige erstattete. Obwohl Msgr. Huonder nur die katholische Lehre zur natürlichen Ordnung und der Homosexualität erklärt hatte, bezichtigte ihn der Vorsitzende des Homo-Verbandes besonderer Strafwürdigkeit, weil er sogar „Wiederholungstäter“ sei. Markus Büchel, der Bischof von Sankt Gallen, seit 2006 Gastgeber des gleichnamigen innerkirchlichen Geheimzirkels, fiel Huonder prompt in den Rücken und distanzierte sich von ihm. Andere Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz schwiegen oder stammelten nur verlegen, um nicht mit dem gerade triumphierenden, homophilen Zeitgeist in Konflikt zu geraten.
Wie entscheidet Franziskus? – Das Churer Wahlverfahren
Papst Franziskus muß das Rücktrittsangebot Huonders nicht annehmen. Dessen Pressesprecher Giuseppe Gracia ließ allerdings schon vor zweieinhalb Jahren keinen Zweifel, daß er nicht mit einer Verlängerung des Mandats rechnet. Das wäre unter Benedikt XVI. sicher der Fall gewesen, da sich Bischof Huonder guter Gesundheit erfreut. Auch Bischof Grab blieb zwei Jahre länger im Amt. Ganz anders hält es Franziskus. Der argentinische Papst verlängert nur in Ausnahmefällen ein bischöflichen Leitungsmandat über die Altersgrenzen hinaus, und in der Regel nur für Bischöfe, die ihm inhaltlich besonders zu Gesicht stehen. Anders ausgedrückt: In den Bischofsernennungen sieht Franziskus ein Hauptinstrument eines Kirchenumbaus in seinem Sinn.
2014 nahm Bischof Huonder am Ad-limina-Besuch der Schweizer Bischöfe teil. Ende 2016 wurde er erneut von Papst Franziskus empfangen. Es ist anzunehmen, daß sich Franziskus über die Lage im Bistum informieren ließ, was ein persönliches Interesse an der Nachfolgefrage erkennen läßt.
Huonder antizipierte zuletzt die Schweizer Bischofskonferenz, um dem nivellierenden Gruppenzwang zu entgehen und den Mitbrüdern im Bischofsamt ein Vorbild zu sein, und legte eigene pastorale Richtlinien zur Umsetzung des nachsynodalen Schreibens Amoris laetitia vor. Mit dem Hirtenwort „Die Heiligkeit des Ehebandes“ bekräftigte er die kirchliche Ehe- und Morallehre. Damit stellte er sich gegen Papst Franziskus und dessen offenkundigen Versuch, die Unauflöslichkeit der Ehe ein gutes Stück zu relativieren. Freunde macht man sich damit in den derzeit im Vatikan tonangebenden Kreisen nicht.
Laut dem Churer Wahlverfahren ist es der Papst, der dem 24-köpfigen Domkapitel einen Dreiervorschlag unterbreitet. Aus diesen drei Kandidaten können die Domherren den neuen Bischof wählen. Der vom Papst bevorzugte Kandidat kann dabei entsprechend in Stellung gebracht werden. Was Benedikt XVI. zum Vorwurf gemacht wurde, kann nun auch Franziskus nützen, der sich bisher in Personalfragen weit entschlossener und vor allem rücksichtsloser erwiesen hat, als seine vielkritisierten Vorgänger. Stets auf der Suche nach dem „progressivsten Kandidaten“, zumindest dort, wo er sich persönlich interessiert, könnten auch Chur bald „bunte“ Zeiten bevorstehen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/Petrusbruderschaft (Screenshot)
Wahrlich, in einem Satz stimme ich mit dem Verfasser überein, aber im Sinne der Hoffnung, dass es so komme „…könnten auch Chur bald ‚bunte‘ Zeiten bevorstehen. Davon abgesehen gibt es zum Thema durchaus andere Sichtweisen, aber denen verschliessen Sie sich ja vollständig. Erwachsene, mündige Leser werden genug Artikel finden, die diese andere Seite umschreiben. Ich hoffe sehr, für das Bistum Chur, dass Papst Franziskus seine Linie auch in diesem Fall durchsetzt!