(Rom) Der bekannte Kirchenhistoriker, Walter Kardinal Brandmüller, bestätigte in einem Aufsatz für die rechtswissenschaftliche Fachzeitschrift „Stato e Chiesa“ (Staat und Kirche), daß der Rücktritt eines Papstes zwar möglich ist, es aber zu wünschen sei, daß sich dergleichen nicht wiederholt.
Die Diskussion um den unerwarteten Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. im Februar 2013 ist auch nach drei Jahren nicht verstummt. Maßgeblich trägt nicht nur der Umstand selbst, sondern auch die Amtsführung seines argentinischen Nachfolgers dazu bei.
Seit Mai bekam die Debatte über die schwierige „Dyarchie“ zweier Päpste, eines „aktiven“ und eines „kontemplativen“, durch Ausführungen von Kurienerzbischof Georg Gänswein neuen Auftrieb. Der Vatikanist Sandro Magister hat Brandmüllers Aufsatz gelesen. Auf seine Zusammenfassung stützt sich die folgende Darstellung.
Renuntiatio Papae
Zur Frage eines „emeritierten“ Papstes nahm nun auch Kardinal Walter Brandmüller mit seinem Aufsatz „Renuntiatio Papae. Einige kirchenrechtsgeschichtliche Überlegungen“ Stellung. Der 87 Jahre alte Kirchenhistoriker ist dafür ein Fachmann ersten Ranges. Viele Jahre hindurch war er Professor für Kirchengeschichte an der Universität Augsburg. Von 1998–2009 leitete er im Vatikan das Päpstliche Komitee für Geschichtswissenschaft. 2010 kreierte ihn Papst Benedikt XVI. zum Kardinal.
Im deutschen Sprachraum gehörte er zu den wichtigsten Unterstützern des deutschen Pontifikats, das in der eigenen Heimat auf zahlreichen Widerspruch stieß. Nicht einer Meinung ist der Kardinal hingegen mit dem Amtsverzicht von Benedikt XVI. Der Rücktritt eines Papstes sei zwar rechtlich möglich, aber nicht jeder Rücktritt sei moralisch erlaubt, das heißt, am bonum commune der Kirche ausgerichtet, so Brandmüller.
Erst recht widerspricht der Kardinal dem Versuch, dem zurückgetretenen Papst dennoch eine besondere Rolle zuzuschreiben. Er sieht im Versuch, die Figur eines „emeritierten Papstes“ zu erfinden, die es in der Kirchengeschichte nie gab, sogar schwerwiegenden Risiken verbunden bis hin zur Gefahr eines möglichen Schismas.
In seinem Aufsatz meidet der Kirchenhistoriker daher konsequent die Formulierung „emeritierter Papst“. Vielmehr fordert er gesetzliche Bestimmungen, die den Status dessen „definieren“, der einmal Papst gewesen ist, eben ein „ehemaliger Papst“ und kein „emeritierter Papst“.
Widerspruch gegen Gänswein-These
Im fünften und letzten Teil seines Aufsatzes nennt Kardinal Brandmüller fünf konkrete Aspekte, die zu klären seien und unterbreitet Vorschläge dazu. Was der Kardinal darin skizziert, unterscheidet sich radikal von dem, was Kurienerzbischof Georg Gänswein im vergangenen Mai in seiner Rede an der Päpstlichen Universität Gregoriana Benedikt XVI. zudachte. Eine Aussage, die als „explosiv“ bezeichnet wurde und teils heftige Diskussionen auslöste. Gänswein selbst relativierte seine Worte später in einem Interview mit dem Vatikanisten Paul Badde. Die Relativierung klang danach, als habe der ehemalige Erste Sekretär von Papst Benedikt XVI., und nunmehr sein persönlicher Sekretär und Präfekt des Päpstlichen Hauses von Papst Franziskus, alles gar nicht so gemeint. War es nur eine übertriebene und etwas mißglückte Form, um seine Wertschätzung gegenüber Benedikt XVI. zum Ausdruck zu bringen? Erstaunen und zum Teil auch Verärgerung provozierte eine saloppe Hinzufügung Gänsweins, der gegenüber Badde meinte, für ihn wäre es „kein Problem“, wenn es morgen aufgrund mehrerer Rücktritte, auch drei oder vier „emeritierte“ Päpste gäbe.
Kardinal Brandmüller will auch von der Gänswein-Formulierung nichts wissen, laut der das Pontifikat von Benedikt XVI. gerade wegen des Rücktritts ein „Ausnahmepontifikat“ gewesen sei. Brandmüller stößt sich an der Analogie zum Begriff „Ausnahmezustand“ von Carl Schmitt, der das Außerkraftsetzen der geltenden Rechtsordnung und die Regierungsherrschaft durch Notstandsverordnungen als innovativen Schritt meint.
Bereits der Kirchenrechtler Guido Ferro Canale hatte vom „Amtsverzicht von Benedikt XVI. und dem Schatten Carl Schmitts“ geschrieben, ebenso der RAI-Vatikanist Aldo Maria Valli: „Ratzinger, Schmitt und der ‚Ausnahemezustand‘“. Valli, laut Eigendefinition ein begeisterter Anhänger von Papst Franziskus, übte zuletzt wegen des nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia erstaunlich heftige Kritik am argentinischen Papst.
Keine Doppelspitze in der Kirche – Seit 2013 verbreiteten Irrtum bekämpfen
Zur Frage des emeritierten Papstes treffen sich die Ansichten von Papst Franziskus mit jenen von Kardinal Brandmüller. Das katholische Kirchenoberhaupt fand am 26. Juni, auf dem Rückflug von Armenien, zwar freundliche Worte für seinen Amtsvorgänger, wies die Gänswein-These jedoch entschieden zurück, der „emeritierte“ Papst könne in irgendeiner Form einen Anteil an der Leitung der Kirche haben. Den exklusiven Primat nahm Papst Franziskus höflich, aber dezidiert für sich in Anspruch.
Am 3. Juli legte Franziskus in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nacion nach, als er etwas kryptisch sagte: der Amtsverzicht von Benedikt XVI. habe „nichts Persönliches“ gehabt. Gemeint sei damit gewesen, daß der deutsche Papst selbst gesagt habe, daß allein seine „schwindenden Kräfte“ für den Rücktritt verantwortlich seien.
Die Kernaussage von Kardinal Brandmüller, auf die der namhafte Kirchenhistoriker in der Frage wert legt, lautet:
„Der Rücktritt eines Papstes ist möglich und hat stattgefunden. Es bleibt aber zu hoffen, daß das nie wieder geschieht.“
In seinem Aufsatz weist Brandmüller zunächst darauf hin, daß eine künftige rechtliche Regelung eines Papstrücktritts deshalb besonders schwierig sein werde, weil „die Figur eines emeritierten Papstes der gesamten kirchenrechtlich-theologischen Tradition fremd ist“.
„Der Rücktritt des Papstes ist möglich (Can. 332, § 2). Das bedeutet aber nicht, daß er ohne weiteres moralisch erlaubt ist.“
Dafür brauche es objektive institutionelle Gründe, die am „bonum commune Ecclesiae“ ausgerichtet sein müssen. Persönliche Motive seien nicht statthaft. Als Beispiel für einen „erlaubten“ Rücktritt führt Kardinal Brandmüller den Amtsverzicht von Papst Gregor XII. 1415 an, „um ein Schisma zu beenden“. Sowohl Papst Pius VII. als auch Papst Pius XII. hätten Rücktrittsbullen vorbereitet für den Fall ihrer Gefangennahme durch Napoleon bzw. Hitler.
„Aus pastoraler Sicht hingegen scheint es besonders dringlich, den Irrtum zu bekämpfen“, der sich durch den Rücktritt von Benedikt XVI. stark verbreitet habe, „das Amt des Nachfolgers des Petrus sei durch den Rücktritt seines einzigartigen und heiligen Charakters entblößt und auf dieselbe Stufe zeitgenössischer demokratischer Funktionen gestellt worden“.
Dieses weltlich-politische Verständnis des Papsttums sei „heute“ die große Gefahr, die dazu führe, zu meinen, man könne gegen einen Papst Rücktrittsforderungen erheben, wie gegenüber irgendeinem Politiker.
Amtsverzicht eines Papstes setzt „sehr gefährliche kirchliche Situation voraus und schafft diese zugleich“
Kardinal Brandmüller sieht in diesem falschen Verständnis, das durch den Rücktritt von Benedikt XVI. verursacht wurde, konkrete und reale Gefahren für die Einheit der Kirche. Es brauche daher eine intensive und gründlich Beschäftigung mit dieser Frage. „Wie bereits gesagt, setzt der Amtsverzicht eines Papstes eine sehr gefährliche kirchliche Situation voraus und schafft diese zugleich“, so der Kardinal. „Es fehlt in diesem Augenblick nicht an Personen und Gruppen von Anhängern des zurückgetretenen Papstes, die – unzufrieden mit den Geschehnissen – die Einheit der Kirche bedrohen und sogar ein Schisma provozieren könnten.“
In der prekären Situation eines Amtsverzichts sei, die via tutior zu wählen. Die derzeitige lacuna legis beizubehalten, bedeute, „in einem gefährlichen Moment von vitaler Bedeutung für die Kirche die Unsicherheit zu erhöhen“, so Brandmüller.
In erster Linie wäre der Canon 332, Paragraph 2 zu ergänzen, der derzeit einzig besagt, daß der Verzicht eines Papstes auf sein Amt „libere fiat et rite manifestetur“ zu sein habe. Der Verweis auf die Canones 185 und 186, die den Verzicht auf ein Kirchenamt allgemein regeln, sei nicht geeignet. Es sei, so Brandmüller, auch nicht eine einfache Erklärung ausreichend, mit der die betreffende Person erklärt, aus freien Stücken auf das Amt zu verzichten. Je nach Umständen sei eine solche Erklärung leicht zu erzwingen, womit der Rücktritt ungültig wäre. Aus solchen Situationen „kann ein Schisma entstehen.“
Es sei daher „unerläßlich“, genau zu regeln, wie festgestellt werden kann, daß der Verzicht aus freien Stücken erfolgt. Der Hinweis, daß der Rücktritt bis zum Beweis des Gegenteils gültig sei, könne im konkreten Fall nicht gelten, da das Kirchenrecht beim Tod oder Rücktritt eines Papstes sofort die Wahl eines neuen Papstes verlangt. Sollten nach erfolgten Neuwahlen Beweise vorgelegt werden, daß der Amtsverzicht ungültig war, hätte das „verheerende Folgen“.
Die Rolle des Kardinalskollegiums
Die Freiheit des Verzichts könnte, so Brandmüllers Vorschlag, durch die dienstältesten Kardinäle der drei Kardinalsklassen, durch den Kardinaldekan, den Protopriester und den Protodiakon bestätigt werden.
Insgesamt stelle sich die Frage nach der Einbindung des Kardinalskollegiums in einen päpstlichen Amtsverzicht. Bereits zur Zeit des Rücktritts von Papst Coelestin V. sei das Problem diskutiert worden. Das Dekret Quoniam von Papst Bonifatius VIII. unterstreiche die Rolle der Kardinäle mit der Feststellung: der Amtsverzicht Coelestins V. sei erfolgt „deliberatione habita cum suis fratribus cardinalibus… de nostro et ipsorum omnium concordi consilio et assensu“.
Diese Rolle der Kardinäle zeige sich auch in der päpstlichen Praxis, seit dem 11. Jahrhundert besonders wichtige Dokumente mit der Formel „de fratrum nostrorum consilio“ zu erlassen. Die Kardinäle unterzeichneten diese Dokumente mit der Formel „qui actui interfuerunt“. Dies gilt noch heute. Vor Heiligsprechungen werden die Kardinäle aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen.
Papst Johannes Paul II. ging in seiner Ablehnung eines eventuellen Amtsverzichts eines Papstes soweit, einen solche der Abstimmung der Kardinäle zu unterziehen, was Kardinal Brandmüller aus anderen Gründen als ebenso “problematisch, ja unmöglich“ zurückweist. Die Abstimmung des Kardinalskollegiums könne keine conditio sine qua non für die Gültigkeit sein. Die freie Entscheidung müsse gewährleistet bleiben.
Fünf Aspekte, die dringend geklärt werden sollten
Aus diesem Grund wiederholt der deutsche Kardinal seine Anliegen, daß das Kirchenrecht zu dieser Frage „dringend“ ergänzt werden sollte, und nennt fünf Aspekte:
- Der Status eines ehemaligen Papstes. In der Geschichte gibt es zwar keine Präzedenzfälle, aber zumindest analoge Fälle für eine Lösung: Die Gegenpäpste Johannes XXIII. (Baldassare Cossa) und Felix V. (Amadeus von Savoyen) wurden nach ihrer Aussöhnung mit der Kirche sofort zu Kardinälen kreiert. Analog könnte ein ehemaliger Papst sofort nach seinem Amtsverzicht wieder zum Kardinal kreiert werden, aber in jedem Fall ohne aktives oder passives Wahlrecht.
- Die Bezeichnung des zurückgetretenen Papstes. Um auch nur den Anschein zu vermeiden, daß es zwei Päpste gegeben könnte, wäre es geboten, daß der Zurückgetretene wieder seinen Familiennamen annimmt. In diesem Sinne wäre auch seine Kleidung zu regeln.
- Von nicht geringer Bedeutung ist auch der ihm zuzuweisende Wohnsitz und der Unterhalt des Zurückgetretenen.
- Ein besonderes Problem ist die Regelung seiner eventuellen sozialen Kontakte und zu den Medien, sodaß einerseits seine persönliche Würde gewahrt bleibt, andererseits jede Gefahr für die Einheit der Kirche ausgeschlossen wird.
- Schließlich bräuchte es ein eigenes Zeremoniale für den verstorbenen Zurückgetretenen, das nicht dem für einen Papst entsprechen könne.
Diese fünf Aspekte seien vordringlich de lege ferenda zu klären, so Kardinal Brandmüller. Dem sollte eine vertiefte theologische und kirchenrechtliche Sicht des Petrusamtes einhergehen. Aber grundsätzlich gelte laut Kardinal Brandmüller: Der Rücktritt eines Papstes ist möglich, es sei aber zu hoffen, daß er sich nie mehr wiederholt.
Text: Settimo Cielo/Giuseppe Nardi
Bild: MiL