von Amand Timmermans
Das Jahr 1500 wird allgemein als der Anfang von Spaniens Goldenem Zeitalter angesehen.
Mit dem Fall von Granada, der letzten Maurenfestung (1492) auf dem europäischen Festland, mit der Entdeckung Amerikas (1492) im kastilischen Auftrag und mit spanischen Schiffen durch Christoph Kolumbus, mit tiefgreifenden kirchlichen Reformen und spiritueller Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideale der Franziskaner und der anderen Bettelorden, mit einer breiten und tiefen Christianisierung der ehemals maurischen Gebiete, mit einer Zentralisierung der Staatsgewalt, weitgehender Entmachtung des Adels und der Eingliederung von Navarra in Spanien sowie einem großen wirtschaftlichen Aufschwung fing Spaniens Aufstieg zu einer Weltmacht an.
1500 wurde im heute belgischen Gent Karl (Carlos) geboren, der Sohn des habsburgischen Erzherzogs und burgundischen Herzogs, Philipp (dem Schönen), Sohn von Kaiser Maximilian I. von Österreich und Maria von Burgund, Erbtochter des letzten burgundischen Herzogs Karl dem Kühnen. Karls Mutter war die spanische Infantin Johanna, Erbtochter von Ferdinand II., König von Aragon, und Isabella I., Königin von Kastilien und Leon.
Damals schon war klar daß der neugeborene Prinz und spätere Kaiser Karl V. durch legitime Erbfolge einmal ein gewaltiges Territorium regieren würde: Spanien mit den Neuentdeckungen in der Neuen Welt, das Herzogtum Burgund mit den Niederlanden und nicht zuletzt die habsburgische Stammländer mit der Aussicht auf die Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation.
In der Tat ein Reich, in dem die Sonne niemals untergehen würde!
Kardinal Francisco Gonzalo Ximénez de Cisneros OFM (1436–1517), Erzbischof von Toledo, Beichtvater der Königin Isabella, franziskanischer Provinzminister für Spanien, asketischer Reformator des heruntergekommenen Klerus und großer Staatsmann und Ratsherr der spanischen Könige, war äußerst belesen, ausgesprochen dezidiert und tatkräftig, und legte enormen Wert auf gediegene Gelehrsamkeit und Bildung.
Zusammen mit König Ferdinand II. von Aragon legte er die Basis für Spaniens Einstieg in die Neuzeit und zugleich für Spaniens fast zwei Jahrhunderte dauerndes „Goldenes Zeitalter“ (1500–1700).
Anläßlich der Geburt des Erzherzogs Karl, der in Spanien Infant Carlos genannt wurde, gründete Ximénez de Cisneros 1500, rund 30 Kilometer von Madrid entfernt auf halbem Weg nach Guadalajara, die Universität in Alcalá de Henares, in römischer Zeit Complutum genannt. 1508 nahm sie den Lehrbetrieb auf und zählte alsbald bis zu 7.000 Studenten.
Parallel dazu regte er ein einmaliges Projekt an: den Druck einer vollständigen, mehrsprachigen Bibel „zur Wiederbelebung der Sprachstudien der heiligen Schriften“, die alsbald als die Complutensische Polyglotte bekannt wurde.
Kardinal Cisneros sammelte unter gewaltigen, persönlichen finanziellen Ausgaben viele und sehr alte griechische und hebräische Bibelhandschriften. Andere Handschriften wurden ihm von Papst Leo X. (1513–1521) zur Verfügung gestellt.
Der Kardinal zog 1502 in Alcalá de Henares die besten und bekanntesten Philologen seiner Zeit zusammen.
Der Theologe, Humanist und päpstliche Diplomat Diego Lopez de Zúniga (Jacobus Stunica +1531) leitete dieses Herkuleswerk.
Demetrius Ducas aus Kreta, Hernán Núñez de Toledo y Guzmán und Juan de Vergara waren die bekanntesten Spezialisten für Altgriechisch und Koiné; die bekehrten Juden Alfonso de Zamora und Pablo de Coronel waren für Hebräisch und Aramäisch zuständig.
Die äußerst komplexe Arbeit von Textvergleich aus vielen Manuskripten, Auswahl der wahrscheinlichsten Version, Parallelführung der Textstellen und der Kommentare und die gewaltigen drucktechnischen Schwierigkeiten waren verantwortlich für ein langsames Fortschreiten des Projekts.
Mehrmals waren Feuer- und Wasserschäden zu bekämpfen; zugleich kam es durch unsachgemäße Lagerung der Bögen in der Zeit zwischen Druck und Einband bzw. Verbreitung zu unterschiedlichen Papierschäden.
Allen Beteiligten war die Großartigkeit dieses Projekts bewußt.
Man druckte auf großem Folioformat.
Besondere Sorgfalt wurde auf ein schönes Schriftbild gelegt.
Die griechischen Lettern von Arnaldo Guillén de Brocar gingen als die schönsten, je entworfene in die Geschichte ein. Sie bilden die Grundlage des Typus Otter Greek von Robert Proctor (1903) und der GFS Complutensian Greek der griechischen Druckgesellschaft.
Bei Bibliophilen und Typographen steht die Complutensische Polyglotte noch immer an erster Stelle.
Die einzelnen Teile wurden unterschiedlich schnell fertig.
Als erstes wurde 1514 Band 5 mit dem Neuen Testament fertiggestellt. Er enthält die lateinische Vulgata und parallel dazu den griechischen Text in der complutensischen Fassung.
Die Bände 1 bis 4 enthalten das Alte Testament: ein typographisches Meisterwerk mit drei parallelen Textspalten: außen Hebräisch oder Aramäisch, innen die griechische Septuaginta (mit lateinischer Interlinearübersetzung) und in der Mitte die lateinische Vulgata nach dem heiligen Kirchenvater Hieronymus. Dadurch wird die lateinische, die römisch-katholische Kirche symbolisch zwischen der Synagoge und den Ostkirchen zentriert, „wie Jesus auf Golgotha zwischen dem guten und dem schlechten Schächer“, wie im Vorwort zu lesen ist.
Hier findet sich übrigens der erste Druck der vollständigen Septuaginta überhaupt, fertiggestellt ein Jahr vor der Ausgabe des venezianischen Buchdruckers Aldus Manutius 1518!
Bei den ersten fünf Büchern der Bibel, dem Pentateuch, steht unten zusätzlich:
- der Targum Onkelos (sog. Babylonischer Targum in aramäischer Rückübersetzung, hier als „Transla. Chal.“ bezeichnet);
- die lateinische Übersetzung („Interp. chal.) und
- in der Außenmarge die Peschittavariationen („Pritius chal.“) in hebräischen Buchstaben (eig. aramäische Blockschrift).
Das Ende des fünften Bandes und der gesamte sechste Band sind philologisch und zeithistorisch äußerst interessant: sie enthalten hebräische, aramäische und griechische Wörterlisten und Wörterbücher, lexikographische Stücke und Hilfsmaterialien zum Textstudium.
Kardinal Cisneros unterstützte die Ausgabe kontinuierlich mit riesigen Summen: selbst als Franziskaner asketisch lebend stellte er 50.000 Dukaten für dieses Werk zur Verfügung. Bei dem aktuellen Goldpreis entspricht das einer Summe von knapp sieben Millionen Euro!
Die lange Dauer und die Komplexität des Drucks, die unterschiedliche Fertigungsstellung, technische Probleme und Unfälle führten dazu, daß nicht sehr viele Exemplare gefertigt wurden und die wenigsten vollständig sind.
Insgesamt wurden nur etwa 600 Exemplare fertiggestellt. Der Preis für das Gesamtwerk betrug 6 ½ Dukaten, rund 900 Euro.
Damit kostete der Druck der Complutensischen Polyglotte etwa das Dreizehnfache der maximal zu erwartenden Verkaufssumme!
Kardinal Cisneros verstarb 1517 ohne selbst das Werk fertig gedruckt gesehen bzw. in der Hand gehalten zu haben.
Etwa zwei Drittel der Auflage wurden 1522 per Schiff Richtung Italien versandt und gingen in einem Sturm verloren.
Habent sua fata libelli.
So sind leider nur noch 123 Exemplare erhalten, die meisten unvollständig.
Besonders deutlich wurde dies bei der Herausgabe des Faksimile 1984–1987 in Valencia.
Die ersten fünf Bänder gehen zurück auf das Exemplar der Jesuitenbibliothek in Rom, der sechste Band auf ein Exemplar der Universitätsbibliothek Madrid.
Die Wirksamkeit und die Verbreitung der Complutensischen Polyglotte war anfänglich sehr eingeschränkt.
Desiderius Erasmus von Rotterdam, angespornt vom Basler Drucker Johannes Frobenius (Johann Froben), hatte 1516 von Papst Leo X. und Kaiser Maximilian I. ein vierjähriges Veröffentlichungsprivileg für seine Ausgabe des Novum Instrumentum Omne beantragt und bekommen.
Papst Leo X. stand zu seiner Entscheidung und garantierte dieses Privileg. So wurde die Complutensische Polyglotte erst nach 1520 freigegeben.
Dem Papst wurde ein auf Pergament gedrucktes Exemplar in Dezember 1521 überreicht. Anfang 1522 wurde die Complutense dann verbreitet.
Durch ihre gewaltige Qualität und Einzigartigkeit, durch die Verknüpfung mit den hebräischen und aramäischen Texten und ihre meisterhafte Typographie erlangte die Complutensische Polyglotte sofort Weltruhm.
Die recht wenigen, fertiggestellten Exemplare reichten bei weitem nicht aus, um den Bedarf der kirchlichen und weltlichen Bibliotheken zu decken.
Die Complutensische Polyglotte wurde jedoch sehr schnell als äußerst wichtig anerkannt.
Im Vergleich zur Ausgabe von Erasmus (Novum Instrumentum Omne, 1516; 2. Druck als Novum Testamentum, 1520; letztere wurde von Luther für seine Bibelübersetzung benutzt) stellte sich die Complutensische Polyglotte als viel genauer und zuverlässiger dar.
Gerade die wissenschaftliche Akribie und der Quellenreichtum der Complutense waren eine gewaltige Hilfe bei der wissenschaftlichen Entgegnung gegen die Reformation und deren Schriftverständnis (sola scriptura).
Die Differenzen und die zunehmende Antipathie Luthers gegenüber Erasmus sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen.
Die Complutensische Polyglotte hat eine große Menge Handschriften benutzt, die zum großen Teil jetzt verloren sind. So ist sie bis heute quellenmäßig unersetzlich.
Bis jetzt wird in den neuesten wissenschaftlichen Ausgaben des griechischen Alten Testaments (Rahlfs) die Complutense als Autorität an hervorgehobener Stelle genannt und referiert.
Die Complutense setzte textmäßig und typographisch gewaltig hohe Maßstäbe.
Sie war beispielhaft für das Interesse an den orientalischen Sprachen der Bibel und für die Textkritik und die Bibelforschung.
Besonders wichtig war ihre Rolle in den ersten Jahren der Reformation.
In jener aufgewühlten Zeit, wo viele Reformatoren breit und plakativ der Katholischen Kirche Textverfälschungen, Unwissen und sogar Dummheit vorwarfen, zeigte die Complutense eindrucksvoll feinste und sehr gediegene Textkritik und Textstudium, tiefe Sprachkenntnisse und gewaltiges typographisches Können und machte es den katholischen Bibelgelehrten möglich, den Reformatoren Paroli zu bieten.
Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde 1569–1572 in Antwerpen beim Drucker Christoph Plantin unter der Schirmherrschaft von König Philipp II. (dem Sohn von Kaiser Karl V.) die Antwerpener Polyglotte oder Biblia regia gedruckt.
Der wissenschaftliche Leiter dieses Unternehmens, Benito Arias Montano, nahm sich die Complutense zum Vorbild.
Wie groß in den damaligen Zeiten das Interesse an der Heiligen Schrift und an schönen Drucken war, und wie interessiert und gebildet damals die Führungselite war, zeigt eindrucksvoll folgendes Detail:
Für die vom König zusätzlich bestellten sieben Exemplare auf Pergament mußte Plantin 16.263 (sechzehntausendzweihundertdreiundsechzig) Kalbshäute bestellen.
Berühmte andere Interessenten wie der katholische Herzog von Bayern, der „neutrale“ Prinz Wilhelm von Oranien (am Lebensende mit Sympathien für den Kalvinismus) und der aus Burgund stammende Kardinal Antoine Perrenot de Granvelle (damals Vizekönig von Neapel), bekamen trotz Drängens nur die Ausgabe auf Papier.
Sic tempora mutantur et homines in iis.
Bibliographie :
- Heribert Tenschert/Martin Cordes: Biblia Sacra. Das Buch der Bücher. 180 Manuskripte und Drucke vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Ramsen, Rotthalmünster 2004 (Verkaufskatalog des Antiquariats Bibermühle: Prächtig!);
- Stichworte „Bibel“ und „Bibelillustration“ in: Lexikon der Buchkunst und Bibliophilie, Hrsg. Karl Klaus Walther, Weltbild Verlag, 1995
(wie im Anhang zu sehen auf eine ostdeutsche Vorlage von vor der Wende 1989 zurückzuführen: Sehr qualitätsvoll); - Arabische Kultur und Ottomanische Pracht im Goldenen Jahrhundert Antwerpens, Ausstellung, Museum Plantin-Moretus, Antwerpen;
- Alistair Hamilton: Arabic Culture and Ottoman Magnificence in Antwerp’s Golden Age, The Arcadian Library, Antwerpen 2001, Publikation zur Ausstellung „Arabische Kultur und Ottomanische Pracht im Goldenen Jahrhundert Antwerpens“, Museum Plantin-Moretus, Antwerpen
und natürlich breites Stöbern.
Text: Amand Timmermans
Bild: Wikicommons/elhistoriador/Alcala de Henares (Screenshot)
Vielen Dank! Ich bin immer sehr interessiert an Historisches.
„Herausgabe des Faksimile 1984–1987 in Valencia.“
Kann man das heute iregendwo kaufen? Kaufpreis? Wenn nicht: Ob jemand heute an ein neues Verlegen der Faksimile denkt?