
(Rom) Nach seinem Fernsehduell am Donnerstag gegen Hillary Clinton, seiner Konkurrentin um die Nominierung als US-Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei flog Bernie Sanders mitten in der entscheidenden Phase des Vorwahlkampfes nach Rom.
Im Vatikan nahm er am Freitag nachmittag auf Einladung der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften an einer Tagung über die kirchliche Soziallehre teil. Die Konferenz fand zum 125. Jahrestag der Sozialenzyklika Rerum novarum von Leo XIII. und dem 25. Jahrestag der Sozialenzyklika Centesimus annus von Johannes Paul II. statt.
Sanders war als einzigem der fünf verbliebenen Präsidentschaftskandidaten, der eine Einladung in den Vatikan erhalten hatte. Die Kontakte knüpfte der argentinische Kurienbischof Marcelo Sanchez Sorondo, Kanzler der Päpstlichen Akademie und enger Vertrauter des Papstes. Das vatikanische Staatssekretariat ist für die offizielle Politik des Heiligen Stuhls zuständig, Sanchez Sorondo für die inoffizielle, jene, die der tatsächlichen Haltung von Papst Franziskus mehr entspricht. Sanchez Sorondo baut seit 2013 im Hintergrund eifrig an einem weltweiten, politischen Netzwerk, dessen Bauteile in ihrer politischen und ideologischen Gesinnung ausnahmslos links der Mitte angesiedelt sind. Neben realpolitischen Kontakten gilt die Vorliebe offensichtlich der radikalen Linken. Die Einladung für den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras im September 2014 war über den ehemaligen Bundesvorsitzenden der Kommunistischen Partei Österreichs eingefädelt worden.
Papst sagte Teilnahme an Tagung im letzten Moment ab
Dieser informellen päpstlichen Präferenz entsprachen die Ehrengäste, die an der Vatikantagung teilnahmen, darunter der bolivianische Staatspräsident Evo Morales und der ecuadorianische Staatspräsident Rafael Correa. Beide waren, laut eigenen Angaben, von Papst Franziskus bei seinem Besuch in diesen Ländern, eingeladen worden, an der Formulierung einer geplanten, neuen Sozialenzyklika mitzuarbeiten. Bernie Sanders, Senator aus Vermont, ist unter den fünf Kandidaten um die US-Präsidentschaft, und damit das Schlüsselamt der Weltpolitik, am weitesten links positioniert.
Papst Franziskus sagte im letzten Augenblick seine geplante Teilnahme an. „Wegen der „Vorbereitungen für seinen Besuch auf der griechischen Insel Lesbos“ könne er nicht persönlich an der Tagung teilnehmen, ließ er über den Kanzler, Sanchez Sorondo, zusammen mit einer Grußbotschaft ausrichten.
Boliviens Staatspräsident Evo Morales war gestern vom Papst in Audienz empfangen worden. Am 8. Juli 2015 hatte Morales dem Papst in der bolivianischen Hauptstadt Sucre das umstrittene Sichel-und-Hammer-Kreuz geschenkt. Nun schenkte er dem Papst drei Bücher über den Koka-Anbau. Das katholische Kirchenoberhaupt hatte im vergangenen Jahr die ihm in Bolivien zum Kauen angebotenen Koka-Blätter abgelehnt.
Ob und wann die vermutete Privataudienz für Bernie Sanders stattfand ist derzeit nicht bekannt. Zuletzt hatte es im Staatssekretariat einige Bedenken gegen die einseitige Einladung gegeben, die den Eindruck einer Präferenz bei den Präsidentschaftswahlen vermitteln könnte.
Sanders war gestern gegen 15 Uhr auf dem internationalen römischen Flughafen gelandet, auf demselben, auf dem Papst Franziskus heute morgen kurz nach 7 Uhr Richtung Lesbos abgeflogen ist. Sanders Rückflug nach New York war für heute vormittags geplant. Der Senator war mit seiner Frau, einigen Kindern und Enkelkindern nach Rom gekommen. Sanders, der sich selbst als „demokratischen Sozialisten“ und laizistischen Juden bezeichnet, konnte zuletzt in einer Reihe von US-Bundesstaaten über Hillary Clinton triumphieren. Für den Nominierungsparteitag werden die Ergebnisse in den bevölkerungsreichen Staaten New York und Kalifornien entscheidend sein.
Sanders‘ Rede im Vatikan: Soziale Lage „heute schlimmer als zur Zeit von Leo XIII.“
Anders als zunächst angekündigt, hielt Sanders doch eine Rede im Vatikan. Ihr Titel lautete: „Die Dringlichkeit einer Wirtschaftsmoral“. Der Senator sagte: „Die Soziallehre der Kirche hat sich von der ersten modernen Enzyklika über die Industriewirtschaft, Rerum novarum von 1891, über Centesimus annus bis zur Öko-Enzyklika von Papst Franziskus, Laudato si vom vergangenen Jahr, die voller inspirierender Elemente ist, den Herausforderungen der Marktwirtschaft gestellt. Es gibt wenige Stellen im modernen Denken, die an Tiefe mit der Morallehre der Kirche über die Marktwirtschaft mithalten können.“
Die Situation sei heute „schlimmer“ als zur Zeit von Papst Leo XIII. „2016 besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als die anderen 99 Prozent zusammen.“
25 Jahre nach der Sozialenzyklika Centesimus annus von Johannes Paul II. „sind die Spekulation, die illegalen Finanzflüsse, die Umweltzerstörung und die Schwächung der Rechte der Arbeiter noch schlimmer. Die Exzesse der Finanz, die verbreitete Finanzkriminalität an der Wall Street haben eine direkte Rolle dabei gespielt, die schlimmste Finanzkrise der Welt seit der Weltwirtschaftskrise“ von 1929. Die Globalisierung sei „als Vorwand benutzt worden, um die Banken zu deregulieren und Jahrzehnten des Rechtsschutzes für die Arbeiter und die Kleinunternehmen ein Ende zu bereiten“. Papst Franziskus wurde von Sanders wörtlich mit den Worten von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ zitiert.
Einige könnten die Hoffnung verlieren, daß man gegen die unaufhaltsame Macht der Wirtschaft ankämpfen könne, so Sanders, weil sie der Meinung, „daß es unmöglich sei, die Marktwirtschaft, die die Grenzen der Moral verlassen hat, wieder unter den moralischen Grundsatz des Allgemeinwohls zurückzuführen. Ich höre von den Reichen und Mächtigen und von den Mainstream-Massenmedien, die sie vertreten, ständig sagen und wiederholen, daß wir ‚praktisch‘ sein müßten, den Status quo akzeptieren müßten, und daß eine wirkliche Wirtschaftsmoral einfach außerhalb der Reichweite sei. Doch Papst Franziskus ist mit Sicherheit der größte, weltweite Beweis dafür gegen eine solche Hingabe an die Verzweiflung oder den Zynismus. Er hat der Welt die Augen geöffnet mit dem Aufruf zur Barmherzigkeit, zur Gerechtigkeit und dazu, daß eine bessere Welt möglich ist. Er inspiriert die Welt, um einen neuen globalen Konsens für unser Allgemeinwohl zu finden.“
Die Herausforderung der Welt heute sei nicht in erster Linie technologisch und auch nicht finanziell. „Unsere Herausforderung ist vor allem moralisch“, so Sanders.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican Insider (Screenshot)