(Moskau) Sergej Tschapnin, veröffentlichte bei „AsiaNews“, dem auch für Rußland zuständigen katholischen Nachrichtenportal, eine Analyse über die anti-westliche innerorthodoxe Opposition gegen Patriarch Kyrill I. und dessen Treffen mit Papst Franziskus auf der Karibikinsel Kuba. Tschapnin, ein exzellenter Kenner der Orthodoxie, war bis zu seiner Entlassung im vergangenen Dezember Chefredakteur des offiziellen Presseorgans des Moskauer Patriarchen. Grund für die Entlassung war seine im November auf der amerikanischen Internetseite „First Things“ veröffentlichte Kritik an einer zu engen Anlehnung der russischen Kirche an die Staatsmacht. Er gehört damit der pro-westlichen, innerorthodoxen Opposition an.
Von Sergej Tschapnin
„Verräter“ und „Häretiker“. Die Vorwürfe sind hart, die interne Kritiker dem Moskauer Patriarchen Kyrill I. vorhalten, weil er am 12. Februar auf Kuba mit Papst Franziskus zusammengetroffen ist.
Die Kritik war ein Grund, weshalb das Moskauer Patriarchat einem Treffen an einem Ort zustimmte, der 10.000 Kilometer von Moskau entfernt liegt. Eine Begegnung auf russischem Boden war ohnehin ausgeschlossen. Dem Patriarchen von ganz Rußland wird vorgeworfen, „nikodimisch“, also „zu ökumenisch“ zu sein.
Das wenige Tage vorher von Moskau noch offiziell dementierte Treffen mit dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche war für die meisten Russen, auch innerhalb der orthodoxen Kirche, eine Überraschung. Die vom Fernsehen aus Havanna übertragenen Bilder machten großen Eindruck. Durch die räumliche Entfernung war jede Form unerwünschter Intervention ausgeschlossen.
Vor wem mußte der Patriarch flüchten, daß er sich in 10.000 Kilometer Entfernung mit dem Papst getroffen hat? So lautet eine der Fragen, die orthodoxe Kritiker Kyrill stellen. Die Kritik hat nicht nur mit dem Papst zu tun. Sie geht tiefer. Dem seit 2009 amtierenden Patriarchen wird vorgeworfen, zwar eine Verwaltungsreform durchgeführt zu haben, doch damit gleichzeitig alle Macht in seiner Hand konzentriert und jede ernsthafte Opposition ausgeschaltet zu haben.
Heute hat Kyrill intern keinen nennenswerten Widerspruch im Episkopat. Im Klerus und unter den Mönchen gibt es abweichende Meinungen, doch gelten jene, die ihre Stimme erheben, als randständig. Und auf kritische Stimmen von Laien muß ein Moskauer Patriarch schlicht und ergreifend erst gar nicht achten.
Vor wem ist er dann aber nach Kuba geflohen? Die offizielle Lesart ist bekannt. Havanna wurde gewählt, um durch einen örtlichen Bezug die in Europa noch bestehenden Probleme in den katholisch-orthodoxen Beziehungen zu vermeiden.
In Moskau gibt es noch eine zweite Lesart. Die große Entfernung sei gewählt worden, um es zu vermeiden, daß die marginale, innerorthodoxe Opposition hingeht und sich Gehör verschafft. Wenn man im Patriarchat deren Bedeutung herunterzuspielen versucht, kennen alle Bischöfe diese „randständige“ Opposition sehr genau. Jeder von ihnen bekommt Briefe, Anrufe und E‑Mails und der Tenor ist immer derselbe: die Sorge, daß die Bischöfe die heilige Orthodoxie verraten könnten.
Offiziell äußert sich das Patriarchat nicht dazu. Inoffiziell heißt es, daß ein Dialog nicht möglich sei. Das erklärt auch, warum das Treffen mit dem Papst in strikter Geheimhaltung vorbereitet wurde. Auch dazu gibt es eine andere Lesart, der zufolge Patriarch Kyrill keinen Dialog mit seinen Kritikern führen will.
Für die technische Abwicklung des Treffens war der Schachzug zielführend. Ob er auch strategisch klug war, ist eine ganz andere Frage, denn ohne einen Dialog mit den Kritikern der orthodox-katholischen Annäherung wird Moskau nicht auskommen. Den Treffpunkt Kuba lesen die Kritiker als eine Schwäche Kyrills. Sie nehmen an, daß der Patriarch Angst vor ihnen habe, was sie als eigene Stärke deuten.
Traditionalisten und „Nikodimiker“
Worin könnte die inhaltliche Schwäche des Patriarchen liegen? Die Frage hat damit zu tun, daß der von Kyrill beschrittene Weg, der „nikodimisch“ genannt wird, noch sehr jung ist. Benannt ist er nach dem Metropoliten Nikodim von Leningrad und Nowgorod, der 1978 während einer Audienz vor den Augen von Papst Johannes Paul I. unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben ist.
Nikodim wurde innerorthodox vorgeworfen, ein „Krypto-Katholik“ zu sein. In Wirklichkeit war er weder von einer Ablehnung gegenüber dem Vatikan geprägt noch sah er in jedem nicht-orthodoxen Christen einen Feind. Das war mehr oder weniger auch schon alles. Die Tatsache, daß er die Katholiken nicht als „Häretiker“ bezeichnete, wurde jedoch von einem Teil der Orthodoxen schon als Skandal gesehen.
Der „nikodimischen“ Richtung steht die sogenannte „patristische“ Richtung gegenüber. So nennt sich die Opposition zu Kyrill und bezieht sich damit auf die byzantinische Überlieferung und die russischen Theologen des 19. Jahrhunderts. Bischof Tichon (Schewkunow), der Beichtvater des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin, stellte für seine Predigt vom vergangenen Sonntag, eine erstaunliche Liste von Zitaten zusammen. Positive und negative Aussagen über die Katholiken scheinen sich die Waage zu halten. Die negativen Aussagen sind jedoch sehr stark, darunter Zitate von zwei Kirchenvertretern, die von der orthodoxen Kirche als Heilige verehrt werden.
Den heiligen Ignatius (Brjantschaninow) von Stawropol (1807–1867) zitierte er mit den Worten: „Papismus, so nennt sich die vom Westen erklärte Häresie, aus dem wie Äste aus einem Baum die verschiedenen protestantischen Lehren hervorgegangen sind.“
Das Zitat von Bischof Tichon endete an dieser Stelle. Es geht aber noch härter weiter: „Der Papismus weist dem Papst die Eigenschaft Christi zu und lehnt damit Christus ab. Einige westliche Autoren haben diese Ablehnung fast explizit geäußert, indem sie sagten, daß die Zurückweisung von Christus eine geringere Sünde sei, als die Zurückweisung des Papstes. Der Papst ist ein Götze der Papisten; er ist ihre Gottheit.“
Soweit wollte Bischof Tichon also nicht gehen.
Der andere ist der heilige Hieromärtyrer Hilarion (Troitsky) von Verey (1886–1929): „Die Katholiken sind für mich nicht Kirche und daher nicht einmal Christen, weil es kein Christentum ohne Kirche gibt.“
Ioann Krestiankin, Archimandrit des Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad (1910–2006): „Bei der Vertiefung in die Geschichte und bei der Beobachtung der Handlungen der neuen Retter Rußlands stellen wir fest, daß die römisch-katholische Kirche immer dann auftauchte, wenn dunkle Zeiten anbrachen, mit dem einzigen Zweck, die Rus der Herrschaft Roms zu unterwerfen.“
Zur Verteidigung des Dialogs mit den Katholiken zitierte Bischof Tichon ebenfalls einige Stellen, darunter den heiligen Theophan den Klausern (1815–1894), der Bischof von Tambow und dann von Wladimir war: „Unsere Heilige Kirche ist nachsichtig gegenüber den Katholiken und erkennt nicht nur die katholische Taufe und andere Sakramente an, sondern auch das Priestertum, was von großer Bedeutung ist. Man muß nur bedenken, daß man nicht zu den Katholiken wechseln kann, weil sie einige Teile des kirchlichen Bekenntnisses beschädigt und in Abweichung von den Alten verändert haben.“
Der heilige Metropolit Philaret (Drosdow) von Moskau (1782–1867): „Alle im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit getauften Individuen sind Christen unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit. Es gibt nur einen wahren Glauben, den orthodoxen, aber alle christlichen Konfessionen bestehen dank der Nachsicht des Allmächtigen weiter. Das Evangelium ist für alle das eine, auch wenn es nicht alle auf dieselbe Weise verstehen und auslegen. Man soll jenen ihre Fehler nicht vorhalten, die sich von der universalen Kirche entfernt haben, wenn sie seit ihrer Geburt nach einer anderen Konfession erzogen werden. Die einfachen Seelen glauben in ihrer Schlichtheit an die Lehre, die ihnen gelehrt wird, ohne durch religiöse Debatten berührt zu werden, die sich ihrer Reichweite entziehen. Es sind ihre geistlichen Führer, die sich dafür vor Gott verantworten müssen. Fromme Menschen findet man ebenso vielen in der orthodoxen Kirche wie in der römisch-katholischen. Die wahre religiöse Toleranz kann sich nicht versteifen, um die Christen untereinander zu spalten, sondern um für die Einheit aller zu beten.“
„Konfusion“ und Erziehung
Es fällt auf, daß sich die Kenntnis der katholischen Kirche unter Orthodoxen, auch unter gebildeten Bischöfen, auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert beschränkt. Damit die russische Kirche eine Zusammenarbeit mit den Katholiken im Geist der Gemeinsamen Erklärung von Havanna beginnen kann, braucht es eine große Erziehungsarbeit. Es ist notwendig, zu erzählen, was die römisch-katholische Kirche heute ist, denn davon wissen in Rußland nur wenige.
Es ist interessant zu bemerken, daß Bischof Tichon die Situation dramatisiert. Über das Verhältnis der Orthodoxen zum Treffen zwischen dem Papst und dem Patriarchen sagte er: „Für einen guten Teil der Orthodoxen war dieses Ereignis auch Anlaß für eine schwerwiegende Verwirrung. Nennen wir die Dinge beim Namen. Wir Priester wissen es von den Beichten, von den Fragen, die uns bei den Begegnungen gestellt werden und den Briefen.“
Die Worte, „ein guter Teil der Orthodoxen“, stellen eine persönliche Meinung von Bischof Tichon dar, um nicht zu sagen, eine Manipulation. Es gibt keine glaubwürdigen Angaben zur Zahl der orthodoxen Opposition. Es wurden keine Erhebungen durchgeführt. Sie dürften sich auf zwei, drei Bischöfe und einige Dutzend Priester beschränken.
Eine persönliche Umfrage unter Bekannten und in den sozialen Netzwerken ergab, daß eine überwältigende Mehrheit antwortete, daß es in ihren Pfarreien keine Priester oder Laien mit anti-ökumenischer Einstellung gebe. Diese Gruppen scheinen sich unter dem Einfluß einiger Starzen zu treffen, wie zum Beispiel dem Hieromönch Raffael (Berestow) und organisieren Kampagnen auf sehr beliebten orthodoxen Internetportalen.
Eine der wichtigsten Seiten dieser Kampagne ist die Seite „Moskau, Drittes Rom“ (3rm.info). Dort finden sich alle Materialien zur Opposition gegen die ökumenische Linie des Patriarchen. Dort findet sich auch das Flugblatt „Aufruf an die orthodoxe Jugend“, das heruntergeladen werden kann, das ein ganzes „Register“ der Sünden von Priestern und Bischöfen auflistet. Darin heißt es:
„Ihr habt Euer Andienen gegenüber dem Vatikan mit der Sorge für die Christen getarnt, die im Nahen Osten sterben.“ Bis Sonntag abend wurde das Flugblatt insgesamt 1975 Mal heruntergeladen. Sehr wenig für eine große Kampagne innerhalb der russischen Kirche. [1]Die Betreiber der Seite beklagten, daß das Portal in den vergangenen Tagen Hackerangriffen ausgesetzt und daher nicht erreichbar war. Die orthodoxen Kritiker sehen darin eine „Beweis“ für die … Continue reading
Anti-ökumenische Welle
Bisher gab es nur wenige Fälle im Klerus, die öffentlich erklärten, in der Liturgie nicht mehr für den Patriarchen zu beten. Dazu gehört der Hegumen Ambrosios, Dekan des Männerklosters des heiligen Zosimus Sawa, der am Tag nach dem Treffen in Havanna seinem Bischof schrieb und erklärte, er höre mit sofortiger Wirkung auf, den Namen von Patriarch Kyrill in der heiligen Liturgie zu erwähnen.
Am 19. Februar schrieben zwölf Priester und zwei Klöster in Moldawien dem Metropoliten von Chisinau und der ganzen Moldau, dem sie mitteilten, in der Liturgie nicht mehr seinen Namen zu erwähnen, da die russische Kirche der Häresie des Ökumenismus verfallen sei. Sie forderten die Aufhebung einer Reihe von Entscheidungen des Heiligen Synod, die im Zusammenhang mit der Ökumene und dem panorthodoxen Konzil stehen, das für kommenden Juni geplant ist. Gleichzeitig verlangen sie die Verurteilung der Gemeinsamen Erklärung von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill.
Wie es scheint, hat die anti-ökumenische Welle in der russischen Kirche bereits ihren Höhepunkt erreicht und beginnt wieder abzuebben. Der Versuch, das Treffen mit dem Papst zum Vorwand zu nehmen, um eine Opposition gegen Patriarch Kyrill zu schaffen, ist eindeutig mißlungen. Dennoch wird man die Diskussion über die Ökumene nicht als beendet betrachten können. Eine Reihe von Bischöfen, auch der griechischen und georgischen Kirche, haben die Textentwürfe für das panorthodoxe Konzil scharf kritisiert. Die Grundsätze einer ökumenischen Zusammenarbeit sind aus der Sicht der traditionellen orthodoxen Ekklesiologie nicht haltbar. Das bedeutet, daß der Konflikt zwischen Ökumenikern und Anti-Ökumenikern innerhalb der orthodoxen Kirche nicht aufhören wird. Er wird weitergehen, manchmal auflodern, andere Male zurückgehen.
Sprechen wir schließlich noch von der radikalsten Interpretation des Treffens von Havanna. Indem er die unbequemsten Fragen seiner Pfarrangehörigen vorwegnahm, sagte der Verantwortliche einer Moskauer Kirche in der Predigt vom 14. Februar:
„Es gibt eine positive Stimme, daß der Papst von Rom bereuen und in den Schoß der orthodoxen Kirche zurückkehren will.“
Die Aussage zeigt, welche Orientierungslosigkeit und welcher völlige Mangel an Verständnis für das Geschehene vorhanden ist. Leider kamen die offiziellen Erläuterungen vor dem Treffen sehr spät, sowohl von Patriarch Kyrill als auch von Metropolit Hilarion. Die Lage wäre viel ruhiger, wenn der Klerus von Rußland zumindest ein bißchen besser auf dieses Treffen vorbereitet worden wäre.
Text: Sergej Tschapnin/Asianews
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Asianews/Wikicommons/3rm.info (Screenshot)
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↑1 | Die Betreiber der Seite beklagten, daß das Portal in den vergangenen Tagen Hackerangriffen ausgesetzt und daher nicht erreichbar war. Die orthodoxen Kritiker sehen darin eine „Beweis“ für die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche, Anm. Katholisches.info |
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