Papst Franziskus und Patriarch Kyrill – Gemeinsame Erklärung im Wortlaut


Patriarch Kyrill und Papst Franziskus Havanna
Patriarch Kyrill und Papst Franziskus Havanna

BEGEGNUNG DES HEILIGEN VATERS
MIT KYRILL, PATRIARCH VON MOSKAU UND GANZ RUSSLAND 

Anzei­ge

UNTERZEICHNUNG DER GEMEINSAMEN ERKLÄRUNG 

Inter­na­tio­na­ler Flug­ha­fen „José Martà­“ von Havan­na – Kuba
Frei­tag, 12. Febru­ar 2016

[Mul­ti­me­dia]


„Gemeinsame Erklärung“
von Papst Franziskus
und Patriarch Kyrill von Moskau und dem ganzen Rus

„Die Gna­de Jesu Chri­sti, des Herrn, die Lie­be Got­tes und die Gemein­schaft des Hei­li­gen Gei­stes sei mit euch allen!“ 2 Kor 13,13)

1. Durch den Wil­len Got­tes des Vaters, von dem jede Gabe kommt, im Namen unse­res Herrn Jesus Chri­stus und mit dem Bei­stand des Hei­li­gen Gei­stes des Trö­sters haben wir, Papst Fran­zis­kus und Kyrill, Patri­arch von Mos­kau und dem gan­zen Rus, uns heu­te in Havan­na getrof­fen. Wir dan­ken Gott, der in der Drei­fal­tig­keit ver­herr­licht ist, für die­se Begeg­nung, die erste in der Geschichte.

Mit Freu­de sind wir als Brü­der im christ­li­chen Glau­ben zusam­men­ge­kom­men, die sich tref­fen, um per­sön­lich mit­ein­an­der zu spre­chen (vgl. 2 Joh 12), von Herz zu Herz, und die wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen zwi­schen den Kir­chen, den wesent­li­chen Pro­ble­men unse­rer Gläu­bi­gen und die Aus­sich­ten zur Ent­wick­lung der mensch­li­chen Zivi­li­sa­ti­on zu erörtern.

2. Unser brü­der­li­ches Tref­fen hat auf Kuba statt­ge­fun­den, am Kreu­zungs­punkt von Nord und Süd sowie von Ost und West. Von die­ser Insel, dem Sym­bol der Hoff­nun­gen der „Neu­en Welt“ und der dra­ma­ti­schen Ereig­nis­se der Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts, rich­ten wir unser Wort an alle Völ­ker Latein­ame­ri­kas und der ande­ren Kontinente.

Wir freu­en uns, dass der christ­li­che Glau­be hier in dyna­mi­scher Wei­se im Wach­sen begrif­fen ist. Das star­ke reli­giö­se Poten­ti­al Latein­ame­ri­kas, sei­ne jahr­hun­der­te­al­te christ­li­che Tra­di­ti­on, die in der per­sön­li­chen Erfah­rung von Mil­lio­nen von Men­schen zum Aus­druck kommt, sind die Garan­tie für eine gro­ße Zukunft für die­se Region.

3. Da wir uns weit weg von den alten Aus­ein­an­der­set­zun­gen der „Alten Welt“ tref­fen, emp­fin­den wir mit beson­de­rem Nach­druck die Not­wen­dig­keit einer gemein­sa­men Arbeit zwi­schen Katho­li­ken und Ortho­do­xen, die geru­fen sind, mit Sanft­mut und Respekt der Welt Rede und Ant­wort zu ste­hen über die Hoff­nung, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15).

4. Wir dan­ken Gott für die Gaben, die wir durch das Kom­men sei­nes ein­zi­gen Soh­nes in die Welt emp­fan­gen haben. Wir tei­len die gemein­sa­me geist­li­che Tra­di­ti­on des ersten Jahr­tau­sends der Chri­sten­heit. Die Zeu­gen die­ser Tra­di­ti­on sind die Aller­se­lig­ste Got­tes­mut­ter und Jung­frau Maria und die Hei­li­gen, die wir ver­eh­ren. Unter ihnen sind unge­zähl­te Mär­ty­rer, die ihre Treue zu Chri­stus bezeugt haben und „Samen der Chri­sten“ gewor­den sind.

5. Trotz die­ser gemein­sa­men Tra­di­ti­on der ersten zehn Jahr­hun­der­te sind Katho­li­ken und Ortho­do­xe seit unge­fähr tau­send Jah­ren der Gemein­schaft in der Eucha­ri­stie beraubt. Wir sind getrennt durch Wun­den, die durch Kon­flik­te in fer­ner oder naher Ver­gan­gen­heit her­vor­ge­ru­fen wur­den, durch von den Vor­fah­ren ererb­te Gegen­sät­ze im Ver­ständ­nis und in der Aus­übung unse­res Glau­bens an Gott, einer in drei Per­so­nen – Vater, Sohn und Hei­li­ger Geist. Wir bekla­gen den Ver­lust der Ein­heit als Fol­ge der mensch­li­chen Schwä­che und der Sün­de, die trotz des Hohe­prie­ster­li­chen Gebets Chri­sti, des Erlö­sers, ein­ge­tre­ten ist: „Alle sol­len eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sol­len auch sie in uns sein“ (Joh 17,21).

6. Im Bewusst­sein, dass zahl­rei­che Hin­der­nis­se andau­ern, hof­fen wir, dass unse­re Begeg­nung zur Wie­der­her­stel­lung die­ser von Gott gewoll­ten Ein­heit, für die Chri­stus gebe­tet hat, bei­tra­gen kann. Möge unser Tref­fen die Chri­sten in aller Welt inspi­rie­ren, Gott mit neu­em Eifer um die vol­le Ein­heit aller sei­ner Jün­ger zu bit­ten. In einer Welt, die von uns nicht nur Wor­te, son­dern auch kon­kre­te Taten erwar­tet, möge die­se Begeg­nung ein Zei­chen der Hoff­nung für alle Men­schen guten Wil­lens sein!

7. In unse­rer Ent­schlos­sen­heit, alles, was not­wen­dig ist, zu unter­neh­men, um die uns über­kom­me­nen geschicht­li­chen Gegen­sät­ze zu über­win­den, wol­len wir unse­re Bemü­hun­gen ver­ei­nen, um das Evan­ge­li­um Chri­sti und das all­ge­mei­ne Erbe der Kir­che des ersten Jahr­tau­sends zu bezeu­gen und mit­ein­an­der auf die Her­aus­for­de­run­gen der gegen­wär­ti­gen Welt zu ant­wor­ten. Ortho­do­xe und Katho­li­ken müs­sen ler­nen, in Berei­chen, wo es mög­lich und not­wen­dig ist, ein ein­mü­ti­ges Zeug­nis für die Wahr­heit zu geben. Die mensch­li­che Zivi­li­sa­ti­on ist in eine Zeit epo­cha­len Wan­dels ein­ge­tre­ten. Unser christ­li­ches Gewis­sen und unse­re pasto­ra­le Ver­ant­wor­tung erlau­ben es uns nicht, ange­sichts der Her­aus­for­de­run­gen, die eine gemein­sa­me Ant­wort erfor­dern, untä­tig zu bleiben.

8. Unser Augen­merk rich­tet sich in erster Linie auf die Gebie­te in der Welt, wo die Chri­sten Opfer von Ver­fol­gung sind. In vie­len Län­dern des Nahen Ostens und Nord­afri­kas wer­den Fami­li­en, Dör­fer und gan­ze Stän­de unse­rer Brü­der und Schwe­stern in Chri­stus aus­ge­löscht. Ihre Kir­chen wer­den ver­wü­stet und bar­ba­risch aus­ge­plün­dert, ihre sakra­len Gegen­stän­de pro­fa­niert, ihre Denk­ma­le zer­stört. In Syri­en, im Irak und in ande­ren Län­dern des Nahen Ostens stel­len wir mit Schmerz eine mas­sen­haf­te Abwan­de­rung der Chri­sten fest, aus dem Gebiet, in dem sich unser Glau­be einst aus­zu­brei­ten begon­nen hat und wo sie seit den Zei­ten der Apo­stel zusam­men mit ande­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten gelebt haben.

9. Bit­ten wir die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft, drin­gend zu han­deln, um einer wei­te­ren Ver­trei­bung der Chri­sten im Nahen Osten zuvor­zu­kom­men. Wenn wir die Stim­me zur Ver­tei­di­gung der ver­folg­ten Chri­sten erhe­ben, möch­ten wir zugleich unser Mit­ge­fühl für die Lei­den zum Aus­druck brin­gen, die die Ange­hö­ri­gen ande­rer reli­giö­ser Tra­di­tio­nen erfah­ren, wel­che ihrer­seits Opfer von Bür­ger­krieg, Cha­os und ter­ro­ri­sti­scher Gewalt gewor­den sind.

10. In Syri­en und im Irak hat die Gewalt bereits Tau­sen­de von Opfern gefor­dert sowie Mil­lio­nen von Men­schen obdach­los und ohne Mit­tel zurück­ge­las­sen. Wir rufen die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft auf, sich zu ver­ei­nen, um der Gewalt und dem Ter­ro­ris­mus ein Ende zu set­zen, und zugleich durch den Dia­log zu einer raschen Wie­der­her­stel­lung des inne­ren Frie­dens bei­zu­tra­gen. Es ist ent­schei­dend, eine huma­ni­tä­re Hil­fe in gro­ßem Umfang für die gepei­nig­ten Bevöl­ke­run­gen und für die so vie­len Flücht­lin­ge in den angren­zen­den Län­dern bereit zu stellen.

Wir bit­ten alle, die auf das Schick­sal der Ent­führ­ten, unter ihnen die Metro­po­li­ten von Alep­po Pav­los und Yohan­na Ibra­him, die im April 2013 ver­schleppt wur­den, Ein­fluss neh­men kön­nen, alles zu unter­neh­men, was für ihre rasche Befrei­ung nötig ist.

11. Fle­hen wir in unse­ren Gebe­ten zu Chri­stus, dem Erlö­ser der Welt, um die Wie­der­her­stel­lung des Frie­dens im Nahen Osten, der „das Werk der Gerech­tig­keit“ (Jes 32,17) ist, auf dass sich das brü­der­li­che Zusam­men­le­ben zwi­schen den ver­schie­de­nen Volks­grup­pen, Kir­chen und Reli­gio­nen dort inten­si­vie­re, auf dass die Flücht­lin­ge in ihre Häu­ser zurück­keh­ren kön­nen, die Ver­letz­ten wie­der gene­sen und die See­len der unschul­dig Getö­te­ten die Ewi­ge Ruhe finden.

Einen drin­gen­den Appell rich­ten wir an alle Par­tei­en, die in die Kon­flik­te ver­wickelt sein kön­nen, auf dass sie guten Wil­len zei­gen und sich an den Ver­hand­lungs­tisch set­zen. Zugleich ist es nötig, dass die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft alle mög­li­chen Anstren­gun­gen unter­nimmt, um dem Ter­ro­ris­mus mit Hil­fe von gemein­sa­men, ver­ein­ten und abge­stimm­ten Aktio­nen ein Ende zu set­zen. Wir rufen alle Län­der auf, die in den Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus invol­viert sind, in ver­ant­wor­tungs­vol­ler und umsich­ti­ger Wei­se zu han­deln. Wir ermah­nen alle Chri­sten und alle Gott­gläu­bi­gen, mit Inbrunst den sor­gen­den Schöp­fer der Welt zu bit­ten, auf dass er sei­ne Schöp­fung vor der Ver­nich­tung bewah­re und kei­nen neu­en Welt­krieg zulas­se. Für einen dau­er­haf­ten und zuver­läs­si­gen Frie­den sind beson­de­re Bemü­hun­gen erfor­der­lich, die dar­auf aus­ge­rich­tet sind, die gemein­sa­men, uns ver­bin­den­den Wer­te wie­der­zu­ent­decken, die im Evan­ge­li­um unse­res Herrn Jesus Chri­stus ihr Fun­da­ment haben.

12. Wir ver­beu­gen uns vor dem Mar­ty­ri­um der­je­ni­gen, die auf Kosten ihres eige­nen Lebens die Wahr­heit des Evan­ge­li­ums bezeugt haben und den Tod der Ver­leug­nung des Glau­bens an Chri­stus vor­ge­zo­gen haben. Wir glau­ben, dass die­se Mär­ty­rer unse­rer Zeit, die ver­schie­de­nen Kir­chen ange­hö­ren, aber im gemein­sa­men Lei­den geeint sind, ein Unter­pfand der Ein­heit der Chri­sten sind. An euch, die ihr für Chri­stus lei­det, rich­tet sich das Wort des Apo­stels: „Lie­be Brü­der! … Freut euch, dass ihr Anteil an den Lei­den Chri­sti habt; denn so könnt ihr auch bei der Offen­ba­rung sei­ner Herr­lich­keit voll Freu­de jubeln“ (1 Petr 4,12–13).

13. In die­ser beun­ru­hi­gen­den Zeit ist der inter­re­li­giö­se Dia­log uner­läss­lich. Die Unter­schie­de im Ver­ständ­nis der reli­giö­sen Wahr­hei­ten dür­fen die Men­schen unter­schied­li­cher Glau­bens­über­zeu­gun­gen nicht davon abhal­ten, in Frie­den und Ein­tracht zu leben. Unter den aktu­el­len Umstän­den haben die Lei­ter der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten die beson­de­re Ver­ant­wor­tung, ihre Gläu­bi­gen in einem respekt­vol­len Geist gegen­über den Über­zeu­gun­gen derer, die ande­ren reli­giö­sen Tra­di­tio­nen ange­hö­ren, zu erzie­hen. Abso­lut inak­zep­ta­bel sind die Ver­su­che, kri­mi­nel­le Hand­lun­gen mit reli­giö­sen Slo­gans zu recht­fer­ti­gen. Kein Ver­bre­chen kann im Namen Got­tes began­gen wer­den, „denn Gott ist nicht ein Gott der Unord­nung, son­dern ein Gott des Frie­dens“ (1 Kor 14,33).

14. Indem wir den hohen Wert der Reli­gi­ons­frei­heit bekräf­ti­gen, dan­ken wir Gott für die noch nie dage­we­se­ne Erneue­rung des christ­li­chen Glau­bens, die gera­de in Russ­land und in vie­len Län­dern Ost­eu­ro­pas geschieht, wo über Jahr­zehn­te hin­weg athe­isti­sche Regime vor­ge­herrscht haben. Heu­te sind die Ket­ten des mili­tan­ten Athe­is­mus zer­bro­chen, und die Chri­sten kön­nen an vie­len Orten ihren Glau­ben frei beken­nen. In einem Vier­tel­jahr­hun­dert sind Zehn­tau­sen­de von neu­en Kir­chen gebaut sowie Hun­der­te von Klö­stern und theo­lo­gi­schen Schu­len eröff­net wor­den. Die christ­li­chen Gemein­schaf­ten brin­gen eine wich­ti­ge kari­ta­ti­ve und sozia­le Akti­vi­tät vor­an, indem sie den Bedürf­ti­gen viel­fäl­ti­ge Unter­stüt­zung bie­ten. Ortho­do­xe und Katho­li­ken arbei­ten oft Sei­te an Sei­te. Sie bestä­ti­gen die bestehen­den gemein­sa­men spi­ri­tu­el­len Fun­da­men­te des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens und bezeu­gen die Wer­te des Evangeliums.

15. Gleich­zei­tig sind wir über die Situa­ti­on in vie­len Län­dern besorgt, in denen die Chri­sten immer häu­fi­ger mit einer Ein­schrän­kung der reli­giö­sen Frei­heit, des Rechts, die eige­nen Über­zeu­gun­gen zum Aus­druck zu brin­gen, und der Mög­lich­keit, ihnen ent­spre­chend zu leben, kon­fron­tiert sind. Beson­ders stel­len wir fest, dass die Trans­for­ma­ti­on eini­ger Län­der in säku­la­ri­sier­te Gesell­schaf­ten, die jedem Bezug zu Gott und sei­ner Wahr­heit fern­ste­hen, eine schwe­re Bedro­hung für die Reli­gi­ons­frei­heit dar­stellt. Quel­le zur Beun­ru­hi­gung ist für uns die gegen­wär­ti­ge Beschrän­kung der Rech­te der Chri­sten, wenn nicht gar ihre Dis­kri­mi­nie­rung, wenn gewis­se poli­ti­sche Kräf­te, die durch die Ideo­lo­gie eines oft sehr aggres­si­ven Säku­la­ris­mus gelei­tet wer­den, sie an den Rand des öffent­li­chen Lebens zu drän­gen versuchen.

16. Der Pro­zess der Inte­gra­ti­on Euro­pas, der nach Jahr­hun­der­ten blu­ti­ger Kon­flik­te begon­nen wur­de, ist von vie­len mit Hoff­nung auf­ge­nom­men wor­den, wie eine Garan­tie für Frie­den und Sicher­heit. Wir möch­ten aller­dings dazu ein­la­den, gegen­über einer Inte­gra­ti­on, die die reli­giö­se Iden­ti­tät nicht ach­tet, wach­sam zu sein. Auch wenn wir für den Bei­trag ande­rer Reli­gio­nen zu unse­rer Kul­tur offen sind, sind wir davon über­zeugt, dass Euro­pa sei­nen christ­li­chen Wur­zeln treu blei­ben muss. Wir bit­ten die Chri­sten Ost- und West­eu­ro­pas sich im gemein­sa­men Zeug­nis für Chri­stus und das Evan­ge­li­um zu ver­ei­nen, so dass Euro­pa sei­ne See­le bewahrt, die sich in zwei­tau­send Jah­ren christ­li­cher Tra­di­ti­on gebil­det hat.

17. Unser Blick rich­tet sich auf die Men­schen, die sich in gro­ßer Schwie­rig­keit befin­den, die unter Bedin­gun­gen extre­mer Bedürf­tig­keit und Armut leben, wäh­rend der mate­ri­el­le Reich­tum der Mensch­heit zunimmt. Wir kön­nen nicht gleich­gül­tig gegen­über dem Los von Mil­lio­nen von Migran­ten und Flücht­lin­gen sein, die an die Tür der rei­chen Län­der klop­fen. Der zügel­lo­se Kon­sum, wie man ihn in eini­gen der am mei­sten ent­wickel­ten Län­der antrifft, beginnt all­mäh­lich die Res­sour­cen unse­res Pla­ne­ten auf­zu­brau­chen. Die wach­sen­de Ungleich­heit in der Ver­tei­lung der irdi­schen Güter erhöht den Ein­druck von Unge­rech­tig­keit im Hin­blick auf das sich aus­ge­bil­de­te System der inter­na­tio­na­len Beziehungen.

18. Die christ­li­chen Kir­chen sind auf­ge­ru­fen, die Erfor­der­nis­se der Gerech­tig­keit, den Respekt vor den Tra­di­tio­nen der Völ­ker und eine ech­te Soli­da­ri­tät mit allen Lei­den­den zu ver­tei­di­gen. Wir Chri­sten dür­fen nicht ver­ges­sen, dass Gott das Törich­te in der Welt erwählt hat, um die Wei­sen zuschan­den zu machen. Das Schwa­che in der Welt hat Gott erwählt, um das Star­ke zuschan­den zu machen. Und das Nied­ri­ge in der Welt und das Ver­ach­te­te hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu ver­nich­ten, damit kein Mensch sich rüh­men kann vor Gott (vgl. 1 Kor 1,27–29).

19. Die Fami­lie ist die natür­li­che Mit­te des mensch­li­chen Lebens und der Gesell­schaft. Wir sind über die Kri­se der Fami­li­en in vie­len Län­dern besorgt. Ortho­do­xe und Katho­li­ken tei­len die glei­che Auf­fas­sung über die Fami­lie. Sie sind auf­ge­ru­fen zu bezeu­gen, dass sie ein Weg zur Hei­lig­keit dar­stellt, der in der Treue der Ehe­leu­te in ihren gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen, in ihrer Offen­heit für den Nach­wuchs und für die Erzie­hung der Kin­der, in der Soli­da­ri­tät zwi­schen den Gene­ra­tio­nen und der Ach­tung der Schwäch­sten zum Aus­druck kommt.

20. Die Fami­lie grün­det sich auf der Ehe, dem Akt der frei­en und treu­en Lie­be eines Man­nes und einer Frau. Die Lie­be besie­gelt ihre Ver­bin­dung und lehrt sie, sich gegen­sei­tig als Geschenk anzu­neh­men. Die Ehe ist eine Schu­le der Lie­be und der Treue. Wir bedau­ern, dass ande­re For­men des Zusam­men­le­bens mitt­ler­wei­le auf die glei­che Stu­fe die­ser Ver­bin­dung gestellt wer­den, wäh­rend die durch die bibli­sche Tra­di­ti­on gehei­lig­te Auf­fas­sung der Vater­schaft und der Mut­ter­schaft als beson­de­re Beru­fung des Man­nes und der Frau in der Ehe aus dem öffent­li­chen Bewusst­sein aus­ge­schlos­sen wird.

21. Wir bit­ten alle, das unver­äu­ßer­li­che Recht auf Leben zu respek­tie­ren. Mil­lio­nen Kin­dern ist selbst die Mög­lich­keit ver­sagt, zur Welt zu kom­men. Das Blut der unge­bo­re­nen Kin­der schreit zu Gott (vgl. Gen 4,10).

Die Ent­wick­lung der soge­nann­ten Eutha­na­sie führt dazu, dass die alten Men­schen und die Kran­ken begin­nen, sich als eine über­mä­ßi­ge Last für ihre Fami­li­en und die Gesell­schaft all­ge­mein zu fühlen.

Wir sind auch besorgt über die Ent­wick­lung der tech­ni­schen Ent­wick­lung der bio­me­di­zi­ni­schen Fort­pflan­zung, denn die Mani­pu­lie­rung des mensch­li­chen Lebens ist ein Angriff auf die Grund­la­gen der Exi­stenz des Men­schen, der als Abbild Got­tes erschaf­fen ist. Wir hal­ten es für unse­re Pflicht, an die Unver­än­der­lich­keit der christ­li­chen mora­li­schen Grund­sät­ze zu erin­nern, die auf der Ach­tung der Wür­de des Men­schen beru­hen, der nach dem Plan Got­tes ins Leben geru­fen ist.

22. Heu­te möch­ten wir uns im Beson­de­ren an die jun­gen Chri­sten wen­den. Ihr lie­be Jugend­li­che, habt die Auf­ga­be, euer Talent nicht in der Erde zu ver­stecken (vgl. Mt 25,25), son­dern alle Fähig­kei­ten, die Gott euch geschenkt hat, zu gebrau­chen, um in der Welt die Wahr­hei­ten Chri­sti zu bekräf­ti­gen und in eurem Leben die im Evan­ge­li­um ver­an­ker­ten Gebo­te der Got­tes- und der Näch­sten­lie­be zu ver­kör­pern. Habt kei­ne Angst, gegen den Strom zu schwim­men, wenn ihr die Wahr­heit Got­tes ver­tei­digt, der sich die heu­ti­gen welt­li­chen Nor­men durch­aus nicht immer angleichen.

23. Gott liebt euch und erwar­tet von jedem von euch, dass ihr sei­ne Jün­ger und Apo­stel seid. Seid das Licht der Welt, damit die Men­schen in eurer Umge­bung eure guten Wer­ke sehen und euren Vater im Him­mel prei­sen (vgl. Mt 5,14.16). Erzieht eure Kin­der im christ­li­chen Glau­ben, gebt die kost­ba­re Per­le des Glau­bens (vgl. Mt 13,46), die ihr von euren Eltern und euren Vor­fah­ren emp­fan­gen habt, an sie wei­ter. Erin­nert euch dar­an: „Um einen teu­ren Preis seid ihr erkauft wor­den“ (1 Kor 6,20), um den Preis des Kreu­zes­to­des des Gott­men­schen Jesus Christus.

24. Ortho­do­xe und Katho­li­ken sind nicht nur durch die gemein­sa­me Tra­di­ti­on der Kir­che des ersten Jahr­tau­sends mit­ein­an­der ver­bun­den, son­dern auch durch die Sen­dung, das Evan­ge­li­um Chri­sti in der Welt von heu­te zu ver­kün­den. Die­se Sen­dung beinhal­tet die gegen­sei­ti­ge Ach­tung für die Mit­glie­der der christ­li­chen Gemein­schaf­ten und schließt jede Form von Pro­se­ly­tis­mus aus.

Wir sind nicht Kon­kur­ren­ten, son­dern Geschwi­ster, und von die­ser Vor­stel­lung müs­sen alle unse­re wech­sel­sei­ti­gen Unter­neh­mun­gen wie auch die gegen­über der Außen­welt gelei­tet sein. Wir for­dern die Katho­li­ken und die Ortho­do­xen aller Län­der auf zu ler­nen, in Frie­den, in der Lie­be und in „Ein­mü­tig­keit“ (Röm 15,5) zusam­men­zu­le­ben. So darf man nicht zulas­sen, dass unlau­te­re Mit­tel ein­ge­setzt wer­den, um die Gläu­bi­gen zum Über­tritt von einer Kir­che zur ande­ren zu bewe­gen, und so ihre Reli­gi­ons­frei­heit und ihre Tra­di­tio­nen ver­neint wer­den. Wir sind beru­fen, nach der Regel des Apo­stels Pau­lus zu han­deln: Ich habe „dar­auf geach­tet, das Evan­ge­li­um nicht dort zu ver­kün­di­gen, wo der Name Chri­sti schon bekannt gemacht war, um nicht auf einem frem­den Fun­da­ment zu bau­en“ (Röm 15,20).

25. Wir hof­fen, dass unse­re Begeg­nung auch dort zur Ver­söh­nung bei­tra­gen möge, wo Span­nun­gen zwi­schen Grie­chisch-Katho­li­schen und Ortho­do­xen bestehen. Heu­te ist klar, dass die Metho­de des „Unia­tis­mus“ aus der Ver­gan­gen­heit, der als Ver­ei­ni­gung einer Gemein­schaft mit der ande­ren durch ihre Los­lö­sung von ihrer Kir­che ver­stan­den wur­de, nicht eine Wei­se ist, die es ermög­licht, die Ein­heit wie­der­her­zu­stel­len. Den­noch haben die kirch­li­chen Gemein­schaf­ten, die unter die­sen histo­ri­schen Umstän­den ent­stan­den sind, das Recht zu exi­stie­ren und alles zu unter­neh­men, was not­wen­dig ist, um die geist­li­chen Ansprü­che ihrer Gläu­bi­gen zu befrie­di­gen, bei gleich­zei­ti­gem Bemü­hen, mit ihren Nach­barn in Frie­den zu leben. Ortho­do­xe und Grie­chisch-Katho­li­sche haben es nötig, sich mit­ein­an­der zu ver­söh­nen und For­men des Zusam­men­le­bens zu fin­den, die bei­der­sei­tig annehm­bar sind.

26. Wir bedau­ern die Aus­ein­an­der­set­zung in der Ukrai­ne, die bereits vie­le Opfer gefor­dert, unzäh­li­ge Ver­wun­dun­gen bei den fried­li­chen Ein­woh­nern ver­ur­sacht und die Gesell­schaft in eine schwe­re wirt­schaft­li­che und huma­ni­tä­re Kri­se gewor­fen hat. Wir laden alle Kon­flikt­par­tei­en zur Beson­nen­heit, zur sozia­len Soli­da­ri­tät und zum Han­deln ein, um den Frie­den auf­zu­bau­en. Wir laden unse­re Kir­chen in der Ukrai­ne ein zu arbei­ten, um zur gesell­schaft­li­chen Ein­tracht zu gelan­gen, sich einer Betei­li­gung an der Aus­ein­an­der­set­zung zu ent­hal­ten und nicht eine wei­te­re Ent­wick­lung des Kon­flik­tes zu unterstützen.

27. Wir hof­fen, dass die Kir­chen­spal­tung unter den ortho­do­xen Gläu­bi­gen in der Ukrai­ne auf der Grund­la­ge der bestehen­den kano­ni­schen Rege­lun­gen über­wun­den wer­den kann, dass alle ortho­do­xen Chri­sten der Ukrai­ne in Frie­den und Ein­tracht leben und dass die katho­li­schen Gemein­schaf­ten des Lan­des auch dazu bei­tra­gen, so dass unse­re christ­li­che Brü­der­lich­keit immer deut­li­cher sicht­bar wird.

28. In der viel­ge­stal­ti­gen und doch durch eine gemein­sa­me Bestim­mung ver­ein­ten Welt von heu­te sind Katho­li­ken und Ortho­do­xe beru­fen, in der Ver­kün­di­gung der Fro­hen Bot­schaft brü­der­lich zusam­men­zu­ar­bei­ten und gemein­sam die ethi­sche Wür­de und die authen­ti­sche Frei­heit der Per­son zu bezeu­gen, „damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21). Die­se Welt, in der die gei­sti­gen Grund­pfei­ler des mensch­li­chen Lebens in zuneh­men­dem Maß ver­schwin­den, erwar­tet von uns ein star­kes christ­li­ches Zeug­nis in allen Berei­chen des per­sön­li­chen und gesell­schaft­li­chen Lebens. Von unse­rer Fähig­keit, in die­sen schwie­ri­gen Zei­ten gemein­sam Zeug­nis zu geben für den Geist der Wahr­heit, hängt zum gro­ßen Teil die Zukunft der Mensch­heit ab.

29. In die­sem küh­nen Zeug­nis für die Wahr­heit Got­tes und die Fro­he Bot­schaft möge uns der Gott­mensch Jesus Chri­stus, unser Herr und Erlö­ser, unter­stüt­zen, der uns gei­stig mit sei­ner untrüg­li­chen Ver­hei­ßung stärkt: „Fürch­te dich nicht, du klei­ne Her­de! Denn euer Vater hat beschlos­sen, euch das Reich zu geben.“ (Lk 12,32)!

Chri­stus ist die Quel­le von Freu­de und Hoff­nung. Der Glau­be an ihn ver­wan­delt das mensch­li­che Leben und erfüllt es mit Sinn. Davon haben sich durch die eige­ne Erfah­rung alle über­zeu­gen kön­nen, auf die man die Wor­te des Apo­stels Petrus bezie­hen kann: „Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Got­tes Volk; einst gab es für euch kein Erbar­men, jetzt aber habt ihr Erbar­men gefun­den“ (1 Petr 2,10).

30. Erfüllt von Dank für das Geschenk des gegen­sei­ti­gen Ver­ste­hens, das wäh­rend unse­rer Begeg­nung zum Aus­druck kam, schau­en wir dank­bar auf die Aller­se­lig­ste Got­tes­mut­ter und rufen sie mit den Wor­ten die­ses alten Gebe­tes an: „Unter den Schutz und Schirm flie­hen wir, o hei­li­ge Got­tes­mut­ter“. Möge die seli­ge Jung­frau Maria durch ihre Für­bit­te alle, die sie ver­eh­ren, zur Brü­der­lich­keit ermu­ti­gen, damit sie zur von Gott bestimm­ten Zeit in Frie­den und Ein­tracht in einem ein­zi­gen Got­tes­volk ver­eint sei­en, zur Ehre der Aller­hei­lig­sten und unteil­ba­ren Dreifaltigkeit!

Fran­zis­kus
Bischof von Rom
Papst der katho­li­schen Kirche
Kyrill
Patri­arch von Moskau
und dem gan­zen Rus

12. Febru­ar 2016, Havan­na (Kuba)

Bild: Vati​can​.va/OR (Screen­shot)

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