Durch die von Chefredakteur Rudolf Augstein verklärte „Jahrhundertarbeit“ eines Laien-Historikers wurden die NS-Mitverantwortlichen am Reichstagsbrand ebenso entlastet wie die Mitschuldigen an dem Justizmord an van der Lubbe.
Ein Gastbeitrag von Hubert Hecker.
Legenden von und über den SPIEGEL bis heute
SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein heuerte seit Gründung des Magazins 1947 ein Dutzend SS-Kader als Redakteure und Mitarbeiter an. Weitere hochrangige NS-Beamte hielt er sich als Informanten warm. Der Einfluss der braunen Seilschaften in der SPIEGEL-Redaktion bei der journalistische Bewertung der NS-Zeit und der nationalsozialistische Kriegsverbrecher bis zur Hinrichtung der letzten sieben Massenmörder im Juni 1952 war unübersehbar. , Der redaktionelle Einfluss des Nazi-Netzwerkes auf die SPIEGEL-Produktion wird aber erst seit 15 Jahren von Historikern ernsthaft untersucht und publiziert.
Gleichwohl werden weiterhin Legenden über die SPIEGEL-Geschichte verbreitet: Nach zehn Jahren reaktionärer NS-Vertuschung habe sich das „heutige aufklärerische Selbstbild des Magazins herausgebildet“ – so kürzlich der Historiker Norbert Frei.
Diese Aussage ist in zweifacher Hinsicht falsch: Das Blendbild vom Aufklärungsmagazin hatte sich der SPIEGEL von Anfang an zugelegt und in dieser Camouflage Ablenkungs- und Vertuschungsjournalismus zu Nazi-Tätern betrieben. Das änderte sich auch „Ende der fünfziger Jahre“ nicht, als die SPIEGEL - Redaktion mit einer Serie über den Reichstagsbrand von 1933 einen Coup plazierte.
Augstein klotzt
In der elfteiligen Serie „Stehen Sie auf van der Lubbe“ von Oktober 1959 bis Januar 1960 wollte Augstein bewiesen haben, dass die Nazis in keiner Weise als Anstifter und Helfershelfer bei dem Reichstagsbrand am 27. 2. 1933 beteiligt gewesen wären, sondern ausschließlich und zufällig von der angeblichen Einzeltat des Marianus van der Lubbe profitiert hätten bei der Zerschlagung des Verfassungsstaates der Weimarer Republik.
Der Hobby-Historiker Augstein protzte großkotzig über die Autorenarbeit des Hobby-Geschichtlers Fritz Tobias: „Nach dieser SPIEGEL-Serie bleibt nicht der Schatten eines Beleges, um den Glauben an die Mittäterschaft der Nazi-Führer lebendig zu erhalten. Einer Jahrhundert-Legende wird der Dolchstoß versetzt.“
Die Nazis waren Nutznießer, Anstifter und Mittäter des Reichstagsbrandes
Es ist historisch unbestritten, dass der Reichstagsbrand kurz vor den Reichstagswahlen am 5. März 1933 für die damalige Nazi-Regierung ein Propagandafanal darstellte, das sowohl die geplanten Verhaftungen von führenden Kommunisten und Sozialdemokraten rechtfertigen sollte wie auch die dauerhafte Aussetzung der Grundrechte-Verfassung durch das Notstandsgesetz am nächsten Tag.
Die damaligen Zeitgenossen und auch die Historiker nach dem 2. Weltkrieg gingen von der berechtigten Hypothese aus, dass die politischen Hauptnutznießer dieses destruktiven Großereignisses, die Nazis, bei der Brandstiftung ihre Finger im Spiel gehabt hätten. Der Nicht-Historiker Augstein selbst zitiert dazu seinen Vater, den er verächtlich „historisch ungebildet“ abkanzelt und damit auch dessen kluge und weitblickende Aussage: „Erst haben sie den Reichstag angezündet, später werden sie die Welt in Brand setzen.“
Die Verhaftungslisten waren schon verschickt
Die Nazi-Führer, allen voran Göring und Goebbels, setzten schon in der Nacht, bevor der letzte Bandherd gelöscht war, die Parole in die Welt, der Reichstagsbrand sei ein lange geplantes Signal für einen kommunistischen Aufstand von den linken Parteien. So lautete dann auch die durchsichtige Rechtfertigung für die „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ schon am nächsten Tag erlassene „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“.
Dabei waren die Listen für etwa 4000 kommunistische und sozialdemokratische Funktionsträger, die in „Schutzhaft“ genommen wurden, schon sechs Stunden vor dem Reichstagsbrand verschickt worden. Göring ließ bald darauf drei Führer der KPD als Brandanstifter und Mittäter verhaften, einer stellte sich freiwillig. Marianus van der Lubbe, der einer links-syndikalistischen Organisation angehörte, war schon im Reichstagsgebäude während des Brandes in Polizeigewahrsam genommen worden.
Bei dem im September 1933 angesetzten Prozess vor dem Reichsgericht in Leipzig wiederholte Göring als Zeuge die NS-Propaganda, dass die Kommunistische Partei zu vernichten sei. Dem angeklagten kommunistischen Funktionär Dimitrow hielt er „brüllend“ (so das Protokoll) entgegen, er sei ein Gauner, der an den Galgen gehöre, weil er den Reichstag angesteckt hätte.
Es gab keinen Zweifel an der Mittäterschaft
Das Reichsgericht unter dem Vorsitz eines ehemaligen DVD-Mannes kam in seinem Urteil vom 23. 12. 1933 zu dem Ergebnis: „Es kann nach Ansicht des Senats keinem Zweifel unterliegen, daß die Tätigkeit van der Lubbes im Reichstag im bewußten und gewollten Zusammenwirken mit dem oder den Mittätern erfolgt ist, die im Plenarsaal den Brand vorbereitet und die Selbstentzündung angelegt haben.“
Das Gericht wusste schon damals, was Historiker, Physiker und Brandexperten später bestätigten: Der zu 75 Prozent erblindete van der Lubbe konnte unmöglich allein in der Zeit von 15 Minuten und nur mit haushaltsüblichen Kohleanzündern den Plenarsaal des Reichstags in Flammen gesetzt haben. Dass der große Plenumssaal schlagartig entflammt wurde, weist auf eine Rauchgasexplosion (Backdraft) hin, die allerdings nur wirksam werden konnte, wenn zuvor Brennstoffe oder Brandbeschleuniger in den Plenarsaal eingebracht worden waren.
Der Plenarsaal war mit Brandbeschleunigern präpariert
Ein vom Reichsgericht bestellter Gutachter, der Chemie-Brandsachverständige Wilhelm Schatz, hatte im Plenarsaal Spuren einer selbstentzündlichen Flüssigkeit entdeckt (Phosphor in Schwefelkohlenstoff), die identisch war mit der Substanz, die seinerzeit auch die Berliner SA benutzt hatte, um zum Beispiel gegnerische Plakate zu zerstören. Auf diesen und weitere Brandexperten gründete das Gericht sein Urteil, dass von der Lubbe Mittäter gehabt haben musste, die den zentralen Reichstagsraum präpariert hatten, sodass die Kohleanzünder des holländischen Blindgängers den Plenarsaal sogleich in ein Flammenmeer verwandelten.
Welche Aufgabe Marinus van der Lubbe in diesem Marionettenspiel zukam, sprach der Senat des Reichsgerichts auch aus: „Die Rolle, die dem Angeklagten van der Lubbe bei der Inbrandsetzung des Reichstags zugedacht war, war offenbar die, den Verdacht der Täterschaft, und zwar einer Alleintäterschaft auf ihn zu lenken.“ Und diese Rolle spielte van der Lubbe auch gut.
Dass aber die NS-Leute auf keinen Fall als Lenker und Helfer für die Brandstiftung in Frage kämen, schloss das Gericht ohne weitere Untersuchungen deduktiv aus, da die „gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei derartige verbrecherische Handlungen von vornherein ausschließen.“ Indem das Gericht a priori die Mittäterschaft von Nazi-Einheiten ausschloss, wurden in Richtung SA- oder NSDAP-Gruppen auch keine weiteren Ermittlungen eingeleitet. Das war ein schwerwiegender Mangel des Verfahrens und führte letztlich zu einem Justizmord an van der Lubbe. Denn ohne die entscheidende Brand-Hilfe der Nazis wäre dem Holländer das Niederbrennen des Reichstages gar nicht gelungen.
Das Gericht folgte in seinen Verhandlungen allein der Verdachtsspur der Nazi-Propaganda nach kommunistischen Triebkräften. Doch trotz vielfältiger Zeugen konnte es eine Anstiftung oder gar Beteiligung der angeklagten KPD-Führer an dem Reichstagsbrand ebenfalls nicht beweisen, so dass die vier Kommunistenführer aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden.
Van der Lubbe mit dem Anzündemittel Marke „Fleißige Hausfrau“
Augstein hatte schon zehn Jahre vor der großen Reichstagsbrandserie die These von der Alleintäterschaft verbreiten lassen: Der ehemalige Chef der preußischen Politischen Polizei und enger Vertrauter Görings, später SS-Oberführer und Träger des SS-Totenkopfrings, Rudolf Diels (+1957), durfte in Sommer 1949 in der SPIEGEL-typischen Serie „Die Nacht der langen Messer .… fand nicht statt“ seine Version des Reichstagsbrandes ausbreiten. Diels projiziert in den halbblinden und schmächtigen van der Lubbe eine Art Supermann: „Schwer atmend saß er vor mir. Wie nach einer gewaltigen Arbeit flog sein keuchender Atem. Ein wilder Triumph lag in den brennenden Augen des blassen, ausgemergelten jungen Gesichtes.“ Die These von der Alleintäterschaft hakt er mit einem ‚Warum nicht?’ ab: „Warum sollte ein solcher Feuermichel nicht mit einem Streichholz in der Lage sein, die feuerempfindliche kalte Pracht des Plenarsaales in Flammen zu setzen? Nun hatte dieser Spezialist einen ganzen Rucksack voller Anzündemittel verwendet. Er war so emsig tätig gewesen, daß er einige Dutzend Brandherde angelegt hatte. Mit einem Anzündemittel, Marke „Fleißige Hausfrau“ hatte er den Plenarsaal in Flammen gesetzt.“
Der ehemalige SS-Mann und NS-Funktionär Diels führt höchst unglaubwürdig weiter aus: „Ich selbst habe schon einige Wochen nach dem Brand und bis 1945 geglaubt, daß die Nationalsozialisten die Brandstifter gewesen seien. Ich glaube es heute (1949) nicht mehr.“ Was seinen Umschwung zur Entlastung der Nazis nach dem Krieg brachte, wird in keiner Weise deutlich.
Augstein präsentiert Görings Ehrenwort als Beweis für die Alleintäterschaft
Es gehörte schon eine gehörige Portion Chuzpe dazu, wenn Augstein den Lesern vier Jahre nach dem Ende des verbrecherischen NS-System einen hochrangigen SS-Mann, Chef der politischen Polizei und Protegé von Göring als glaubwürdigen Zeugen der NS-Geschichte präsentiert. Diese Frechheit wird nur noch von dem SS-Autor selbst übertroffen, der seinen Förderer Göring, der den Kriminalbeamten Diels zum Vorstandsvorsitzenden der Hermann-Göring-Rüstungswerke gemacht hatte, als Zeugen für die Alleintäterthese aufruft: Göring habe bei den Verhören im Nürnberger Prozess mit Ehrenwort behauptet, dass er und die NSDAP nichts mit der Anstiftung des Reichstagsbrandes zu tun gehabt hätten. In der späteren Reichstagsbrandserie von 1959 greifen die SPIEGEL-Autoren und auch Augstein selbst in seinem Vorwort diese dreiste These wieder auf, dass Görings großes Ehrenwort über die Nichtbeteiligung am Reichstagsbrand glaubwürdiger sei als etwa die Aussagen vom Nazi-Gegner Hermann Rauschning oder Generaloberst a. D. Franz Halder.
Anfang 1957 ließ Augstein den ehemaligen SS-Obersturmbannführer und versierten Pressechef des NS-Außenministers, Karl Paul Schmidt, alias Paul Carell, in der SPIEGEL-Serie: „Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt“ ebenfalls die Alleintäterthese zum Reichstagsbrand ausbreiten. Schmidt verkauft ähnlich wie Diels seine Phantasie- und Plausibilitätsüberlegungen als Aufklärungsfakten. Seine Formulierung: „nicht der Schatten eines Beweises“ wurde später von Augstein in seinem Loblied auf die nächste Brandtäterserie übernommen.
Die SS-Seilschaft in der SPIEGEL-Redaktion wird aktiv
Ab Oktober 1959 publizierte der SPIEGEL die elfteilige Serie: „Stehen Sie auf van der Lubbe! Der Reichstagsbrand 1933 – Geschichte einer Legende / Nach einem Manuskript von Fritz Tobias“. Die SPIEGEL-typische Geschichte vermittelt den Eindruck einer akribischen Investigation von Spuren. In Wirklichkeit ist sie das Gegenteil von einer systematischen kriminalistischen und historischen Untersuchung, sondern besteht nach SPIEGEL-Manier im „personalisierten und emotionalen Ansatz“ aus einer Sammlung von Kriminalgeschichte – journalistisch aufgepeppt von den SPIEGEL-Leuten.
Der Hauptgewährsmann von Tobias war der damalige Kriminalrat Dr. Walter Zirpin, der maßgeblich an den Ermittlungen zum Reichstagsbrand Anteil hatte. Später war er als SS-Hauptsturmführer und kriminalpolitischer Leiter im Ghetto Litzmannstadt an kriegsverbrecherischen Aktionen beteiligt. Zirpin wurde Anfang der 50er Jahre vom SPIEGEL als unbelasteter und kompetenter Kriminalist empfohlen. In einem Akt später SS-Kameradschaft hatte der SS-Obersturmbannführer Wehner, Autor der 30teiligen SPIEGEL-Serie zur Glorifizierung von SS-Gruppenführer Arthur Nebe, in einem weiteren Artikel für mehrere ehemalige SS-Führer hochrangige Stellen in der bundesdeutschen Kriminalpolizei eingefordert – darunter Walter Zirpin. Die publizistische Fürsprache hatte Erfolg: Zirpin wurde daraufhin Leiter der Kriminalpolizei Hannover. Nach der Eröffnung der zentralen Erfassungsstelle für NS-Verbrecher in Ludwigsburg 1958 musste Zirpin mit unangenehmen Ermittlungen rechnen, zumal er auch auf der polnischen Liste für NS-Kriegsverbrecher stand. Es spricht einiges dafür, dass die SPIEGEL-Redaktion damals mit der eigenwilligen Interpretation der Reichstagsbrandgeschichte dem unter Ermittlungsdruck stehenden SS-Kameraden Zirpin Schützenhilfe geben wollte.
Auch ein Zweck der Serie: ein SS-Kriegsverbrecher als Widerständler
Zirpin und sein Kollege Heise werden als Kronzeugen dafür aufgebaut, dass neben dem schnell gefassten Brandstifter van der Lubbe keine weiteren kommunistischen Mittäter oder Anstifter ermittelt werden konnten. An dieses kommunistische Täterkomplott glaubte aber schon 1933 niemand ernsthaft und nach dem Krieg sowieso nicht. Warum wollte der SPIEGEL dann 1959 mit einer elfteiligen Serie offene Türen einrennen, Antworten auf Fragen geben, die keiner gestellt hatte?
Auffällig oft wird ein Gegensatz zwischen der Kripo-Arbeit und der NS-Propaganda aufgebaut – etwa so: „Sie (Zirpin und Heisig) betonten auch vor dem Reichsgericht in Leipzig wiederholt, daß van der Lubbe nach den kriminalpolizeilichen Feststellungen – entgegen den Thesen Hitlers und der NSDAP-Prominenz – Alleintäter war.“ Die Botschaft ist klar: Zirpin sei tapfer bei seinem Standpunkt geblieben – gegen den Druck der NS-Prominenz!
Der Spiegel lügt
Doch in der Sache tischte der SPIEGEL zu der Rolle und den Aussagen Zirpins Lügen auf. Schon in einer Expertise durch den Stuttgarter Studienrat Hans Schneider im Jahre 1960 und anderen Studien nach 1990 konnte anhand der originalen Reichstagsbrand-Prozessakten aus Ost-Berlin nachgewiesen werden, dass der SPIEGEL bzw. Autor Tobias die Vernehmungs- und Gerichtsprotokolle falsch zitiert, teilweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt hatte, um die Alleinschuld van der Lubbes zu beweisen: Zirpin hatte 1933 vor dem Reichsgericht nie von der Alleintäterschaft gesprochen, sondern im Gegenteil betont, dass er wegen Zeitmangels die Frage nach Mittätern nicht habe untersuchen können.
Der SPIEGEL/Tobias/Zirpin nennen die Gutachter und Brandexperten „naive oder gewissenlose Sachverständige“ mit „phantasievollen Kombinationen“. Damit waren die Ergebnisse gemeint, die gegen die vom SPIEGEL propagierte Alleintäterschaft sprachen: Alle theoretischen Erwägungen und praktischen Erfahrungen sprechen dagegen, „daß bei der zur Verfügung stehenden Zeit der Brand im Plenarsaal den Umfang hätte annehmen und so hätte verlaufen können, wenn nicht eine besondere Vorbereitung des Saales für die Inbrandsetzung vorangegangen wäre“.
Dann phantasiert Zirpin ins Blaue hinein Geschichtshalluzinationen, die nichts mit Ermittlungstatsachen zu tun haben: „Als ob es nicht in der Geschichte unzählige Brandkatastrophen gegeben hätte, die – durch winzige Ursachen in Gang gesetzt – mit rasender Schnelligkeit auch große, stabile Bauten eingeäschert haben.“ Das war ein Rückgriff auf ein Zitat vom SS-Kollegen Diels – aber 1959 genauso unsinnig wie 1949.
Schließlich behauptet Zirpin fälschlich, allein die Kommunisten hätten einige Tage später den Verdacht der Nazi-Mittäterschaft am Reichstagsbrand aufgebracht. In Wirklichkeit war diese Vermutung schon in der Nacht Allgemeingut bei den meisten Nicht-Nazis.
Das ideologisch-soziale Umfeld des ‚Alleintäters’ wird ausgeblendet
Das siebenseitige Erstvernehmungsprotokoll von Zirpin und Heisig ist so angelegt, dass die Kontakte van der Lubbes mit links- und rechtsradikalen Kräften keine Rolle spielen. Aufgrund der Ausblendung des sozialen und ideologischen Umfeldes von dem Brandstifter kommt Zirpin zu der Schlussfolgerung der Alleintäterthese. Dieser polizeiliche Tunnelblick war gerade kein Ruhmesblatt der deutschen Kriminalistik, wie Zirpin, der Goldräuber von Litzmannstadt, nach dem Krieg glauben machen wollte.
Spätestens als Hitler am 28. 2. mit dem Reichstagsbrand die notstandsbegründete Aussetzung der Verfassung und den Bannfluch gegen die Linken ins Werk setzte, verbreitete und verfestigte sich im Parteienspektrum, der Bevölkerungsmehrheit und sogar bei Nazis wie Diels die Ansicht, dass die Nationalsozialisten bei dem Feueranschlag auf das Reichstagsgebäude ihre Finger im Spiel gehabt hätten. In der noch nicht gleichgeschalteten Presse war davon allerdings nur in Vermutungen zu lesen, insofern man noch keine Zeugen und Beweise in der Hand hatte.
Nach dem Krieg: ein Mosaikbild von der NS-Mittäterschaft
Erst nach dem Zusammenbruch des NS-Systems konnten Zeugen, Kontaktpersonen und Betroffene ihre Erfahrungen erzählen, was in zahlreichen Schriften publiziert wurde. Der prominenteste Zeuge war der ehemalige Generalstabschef Franz Halder, der 1942 persönlich Görings angeberische Rede zur Anstiftung des Reichstagsbrands gehört hatte. Ebenso berichtete der ehemalige Danziger Senatspräsident Hermann Rauschning von einer Gesprächsrunde in der Berliner Reichskanzlei, bei der Göring detailliert schilderte, wie „seine Jungens durch einen unterirdischen Gang aus dem Präsidentenpalais in den Reichstag gelangten, wie sie wenige Minuten Zeit gehabt und fast entdeckt worden wären“. Aus den verschiedenen Zeugnissen und Perspektiven war mosaikartig das folgende Bild entstanden: Demnach hatten Hitlerleute unter Anleitung mittlerer Parteifunktionäre und im Auftrag der NS-Spitze als vorbereitende Mittäter van der Lubbes den Plenarsaal des Reichstages brandtechnisch präpariert.
Zwei Geständnisse von SA-Leuten
Den Indizienbeweis, dass der halbblinde van der Lubbe unmöglich allein mit Haushaltsanzündern in kürzester Zeit den Plenarsaal hätte vollständig in Brand setzen können, hatte schon das Reichsgericht festgestellt, aber mit der These der Mittäterschaft von Kommunisten auf eine falsche Spur gesetzt. Der Chemie-Brandsachverständige Schatz hatte Spuren von Phosphat-Brandbeschleuniger im Plenarsaal nachweisen können. Diese Hinweise auf Mittäter wurden später durch ein Dokument bestärkt: Die 1936 herausgegebene Hitlerbiographie von Konrad Heiden enthält im sogenannten „Ernst-Testament“ einen Bericht, der auf den SA-Führers Karl Ernst zurückgeht:
„Durch einen unterirdischen Gang zwischen Görings Palast und dem Reichstag ist SA-Gruppenführer Karl Ernst mit seinen Kameraden Fiedler und von Mohrenschildt am Abend des 27. Februar 1933 um viertel vor neun in den Plenarsaal des Reichstags eingedrungen, wo sie Stühle und Tische mit Phosphor bestrichen, Draperien und Teppiche mit Petroleum tränkten. Nach zwanzig Minuten war die Arbeit fertig.“
Der nationalsozialistische Mitwisser und Mittäter Karl Ernst kam ein Jahr später auf die Proskriptionsliste der NS-Führung und wurde am 30. 6. 1934 im Rahmen des sogenannten Röhmputsches liquidiert. Auch von Mohrenschildt als Vertrauter Ernst’ wurde ein Tag später von SS-Leuten erschossen.
Das Ernst-Dokuments als „Testament“ mag in seiner Form nachträglich erstellt worden sein, der Wahrheitsgehalt von dessen Reichstagsbrandbericht wurde aber vor einigen Jahren vollständig bestätigt: Walter Erich von Mohrenschildt besuchte im Laufe des Jahres 1933 in Witzenhausen, wo er Schüler der dortigen Kolonialschule gewesen war, die ihm bekannte Arztfamilie Dr. Richard Wolfrom. Dessen Frau Toni Wolfrom vertraute von Mohrenschildt „ein Geheimnis an, das ihn sehr bedrückte“: Er als SA-Mann habe mit anderen SA-Leuten im Reichstag das Feuer legen müssen. Dieses Geständnis des SA-Manns wurde nach dem Tod von Mohrenschildt in der Familie Wolfrom tradiert und von zwei Nichten der Toni Wolfrom in einem FAZ-Leserbrief vom 8. 2. 2008 der Öffentlichkeit mitgeteilt. Die beiden Leserbriefschreiberinnen waren Dr. Ilse Wolfrom aus Bad Kreuznach und Gisela Tecklenborg aus Bremen.
Der SPIEGEL glaubt der Göring-Propaganda von der Nazi-Nichtbeteiligung …
Die SPIEGEL-Autoren versuchten die Zeugenaussagen von Halder und Rauschning als ungenau und unzutreffend abzubiegen, während sie für die Glaubwürdigkeit des Ober-Nazis Göring ihre Hand ins (Reichstagsbrand-) Feuer legen wollten. Göring hatte vor dem Nürnberger Tribunal im Nachhinein behauptet: „Selbst wenn ich das Feuer veranlaßt hätte, würde ich nicht damit prahlen.“ Nachdem aber die NS-Führung die beiden Hauptakteure der SA-Brandvorbereitungstruppe beseitigt hatte, also Karl Ernst und Walter Erich von Mohrenschildt, würde von den eingeschüchterten anderen SA-Leuten niemand mehr den Mund aufmachen. Somit konnte Göring gefahrlos – zumindest im engsten NS-Kreisen –von „seiner“ Reichstagsbrandstiftung prahlen.
…führende Nazis dagegen gingen von der NS-Mittäterschaft aus
Für die Anstiftung und Mittäterschaft der Nazis beim Reichstagsbrand spricht auch die Tatsache, dass führende NS-Leute, die die Mentalität der Parteigenossen gut kannten, die Tat spontan ihrer eigenen Organisation zutrauten. Die Aussage des ehemalige SS-Führers und Protegé Görings, Rudolf Diels, wurde schon genannt: „Ich selbst habe schon einige Wochen nach dem Brand und bis 1945 geglaubt, daß die Nationalsozialisten die Brandstifter gewesen seien.“ Noch eindeutiger ist die Zuordnung des Nazi-Ideologen und damaligen Chefredakteurs des „Völkischen Beobachters“, Alfred Rosenberg: „Ich hoffe, es ist nicht das Werk unserer Burschen. Es ist genau eines jener verdammt blöden Stücke, die ihnen ähnlich sehen.“ Das sagte der NSDAP-Ideologe zu dem britischen Journalisten Sefton Delmer, als die beiden am 27. Februar 1933 gegen 22 Uhr vor dem brennenden Reichstag standen.“
Der Brandstifter – von Nazi-Leuten angestiftet?
Nicht nur als Mittäter, auch als Anstifter und Ideengeber für den Holländer kamen NS-Leute in den Blick. Ein entsprechender Zeitzeugenbericht stammt von dem Berliner Journalisten Alfred Weiland. Der wirkte damals als Funktionär der Allgemeinen Arbeiterunion (AAU), einer links-syndikalistischen, aber nicht moskauhörigen Räteorganisation. Weiland hatte im Februar 1933 Kontakt mit van der Lubbe, der im Auftrag einer holländischen Räte-Gruppe nach Berlin gesandt worden war. Das Reichsgericht bestätigte in seinem Urteil die Kontakte und Sympathien von van der Lubbe gegenüber der AAU. Es ist auch bekannt, dass die Berliner NSDAP mit Spitzeln in der AAU präsent war. Goebbels, seit 1926 NSDAP-Gauleiter von Berlin, hatte seiner Parteiorganisation mit der Propagandaschrift „Der Nazi-Sozi“ ein linkes Profil gegeben und verstand es, Mitglieder linker Organisationen herüberzuziehen. Außerdem ließ er mit SA-Spitzeln und ‚U‑Booten’ in verdeckten Operationen für die Nationalsozialisten arbeiten. Van der Lubbe, der sich in den Berliner Organisationen nicht auskannte, rutschte in diese Gemengelage von aktionistisch eingestellten Syndikalisten und radikalen SA-Gruppen mit sozialistischem Drall. Weiland berichtete, diese Nazi-Gruppen hätten van der Lubbe in provokative Aktionen hineingezogen, die die Notstandsmaßnahmen der Regierung Hitler rechtfertigen bzw. herbeiführen sollten.
Keine Beweise, aber viel Spekulationen
Der Hobby-Historiker Fritz Tobias und die journalistischen SPIEGEL-Frisierer lassen von Anfang an durchblicken, dass sie nur an der Alleintäterthese Interesse haben. Cum ira et studio stellen sie im ersten Teil der Serie mit dem kontextlosen Tunnelblick des NS-Kriminalisten Zirpin einige Hinweise für die Alleintäterschaft van der Lubbes zusammen. Die Beweise gipfeln in reiner Historienspekulation von anderen Großbränden durch „winzige Ursachen“.
In den folgenden sieben Fortsetzungen konzentriert sich die SPIEGEL-Autorengemeinschaft darauf, alle Spuren und Kontakte, die auf Anstiftung, Hintermänner und Mittäterschaft verweisen, zu verwischen und zu vernebeln. Dabei hatte das Magazin selbst auf seinem Titelbild den Täter anschaulich als eine Marionette präsentiert, bei der die Drahtzieher (Nazi-Leute) nach dem Spiel (dem Reichstagsbrand) die Figur sichtbar „hängen“ lassen:
Eine Kriminalgeschichte zur Verwirrung der Leser
Der Hauptteil der Serie, die sieben Fortsetzungsgeschichten zur Entkräftung der Mittäterschaft-These, haben wenig mit Darstellung und Aufklärung historischer Ereignisse zu tun, sondern stellen eine Art Kriminalgeschichte dar, bei dem die SPIEGEL-Autoren alle Zeugenaussagen zu erschüttern suchen, um ihre eigene Version der Geschichte durchzuboxen.
Die Leser werden mit einer Unmenge von historischen Personen, Beziehungen, Orten und Geschichten überladen. Am Ende blickt keiner mehr durch, so dass man resignierend den Schlussfolgerungen der SPIEGEL-Autoren folgen soll. Oder: Der Leser wird in ein Labyrinth von Orten und Ereignissen geführt, aus dem nur der allwissende Serien-Autor den Ausweg weist, der mit „Alleintäter“ überschrieben ist.
Perfektionierung der Verneblungstechnik durch Serien
Die SPIEGEL-Redaktion hatte 1959 jede Menge Erfahrungen in dieser Serien-Technik, bei der man anscheinend jedes gewollte Ergebnis produzieren konnte: In der dreißigteiligen SPIEGEL-Serie genau zehn Jahre vorher: „Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei“ vom ehemaligen SS-Hauptsturmführer Bernhard Wehner war die Legendenbildung und Verneblungstechnik zur NS-Geschichte in der Form von Aufklärungsarbeit eines Kriminalisten schon vorexerziert worden. Die Serie „Die Nacht der langen Messer“ (1949) von SS-Oberführer Rudolf Diels kann als Vorbereitung der Alleintäterthese zum Reichstagsbrand angesehen werden. Mit der elfteiligen Serie „Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt“ (1957) vom ehemaligen SS-Hauptsturmführer Paul ‚Carell’ Schmidt hatte man die Situation der Gerichtsprozesse in totalitären Systemen durchexerziert. Außerdem konnte der SS-Hauptsturmführer a. D. Georg Wolff als Ressortleiter und stellvertretender Chefredakteur bis 1959 die Entwicklung oder Betreuung von mehr als 70 SPIEGEL-Serien vorweisen.
Die größte Verneblungsaktion aber bestand darin, dass SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein diese kriminalgeschichtenhafte Serie zu einer fach-historischen Jahrhundertarbeit hochjubelte.
Und keiner lachte.
Text: Hubert Hecker
Bild: vom Autor zusammengestellt (Screenshots)