Ettore Gotti-Tedeschi: Brief an eine Enkelin – nach der Familiensynode


(Rom) Der inter­na­tio­nal bekann­te Ban­kier und Finanz­ethi­ker Etto­re Got­ti Tede­schi, von 2009–2012 Prä­si­dent der Vatik­an­bank IOR, ver­faß­te eini­ge Tage nach dem Ende der Bischofs­syn­ode über die Fami­lie einen Brief an sei­ne soeben zur Welt gekom­me­ne Enke­lin. In die­sem Brief drückt er sein Unbe­ha­gen über die aktu­el­le Situa­ti­on aus, über die gei­sti­ge Ver­faßt­heit der sich glo­ba­li­sie­ren­den Welt und der uni­ver­sa­len Kir­che sowie die Grund­la­gen ihres Han­delns. Eine Kri­tik, die weit über die Fami­li­en­syn­ode hinausreicht.

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Der Brief ist ein fik­ti­ver Blick in die Zukunft: klar, nüch­tern und scharf­sin­nig. Und das alles mit einem Schuß Pro­vo­ka­ti­on, denn Aus­druck der von ihm erkann­ten Fehl­ent­wick­lung sei­en fal­sche Prä­mis­sen, irri­ge Schwer­punkt­set­zun­gen und fehl­ge­lei­te­te Bedeu­tungs- und Gewichts­ver­la­ge­rung. Der unter­schwel­li­ge Tenor: die Mensch­heit bedarf einer Auf­rütt­lung, will sie den anste­hen­den Her­aus­for­de­run­gen gewach­sen sein. Das gel­te vor allem für die katho­li­sche Kir­che, beson­ders und in erster Linie für ihre Ober­hir­ten, denn ihnen fal­le eine Haupt­ver­ant­wor­tung für die Welt und die Mensch­heit zu..

Brief an meine Enkelin über die Familiensynode

Brief an meine Enkelin - von Ettore Gotti-Tedeschi
Brief an mei­ne Enke­lin – von Etto­re Got­ti Tedeschi

von Etto­re Got­ti Tedeschi

Die­sen Brief schrei­be ich an mei­ne Enke­lin Oli­via, die vor einem Monat gebo­ren wur­de, damit sie in 20 Jah­ren, wenn sie ihn liest, die Welt bes­ser ver­ste­hen kann, in der sie leben wird.

Liebe Olivia,

in 20 Jah­ren könn­test Du den Wunsch ver­spü­ren, hei­ra­ten zu wol­len. Was aber die sakra­men­ta­le Ehe in 20 Jah­ren sein wird, hängt von uns heu­te ab, oder bes­ser gesagt, scheint es, mit­tels Refe­ren­dum, von der Ver­samm­lung der Gläu­bi­gen abzuhängen …
Eine Syn­ode über die Ehe ist vor weni­gen Tagen zu Ende gegan­gen und wenn man die Zei­tun­gen liest, könn­te man zum Schluß kom­men, daß alle tri­um­phiert haben (Pro­gres­si­ve und Kon­ser­va­ti­ve), gera­de so wie wir es nach poli­ti­schen Wah­len gewohnt sind. Liest man den Brief des Syn­oden­se­kre­tärs Kar­di­nal Loren­zo Bal­dis­se­ri an den Cor­rie­re del­la Sera vom 27. Okto­ber, könn­te man den Ein­druck gewin­nen, daß der Betrof­fe­ne (das Volk Got­tes) selbst ent­schei­det, mit­tels Fra­ge­bo­gen befragt, um den Sen­sus fidei her­aus­zu­fin­den. Denn die Her­de ver­fü­ge über den rich­ti­gen „Geruchs­sinn“, um unter­schei­den zu kön­nen, was die Kir­che in den Din­gen zu tun habe, die sie betrifft. Und schließ­lich fin­det der Hei­li­ge Geist auch in der Stim­me der Gläu­bi­gen Wider­hall – natür­lich. Damit aber, so fürch­te ich, wer­den wir, um zu wis­sen, wel­ches Sakra­ment Dich erwar­tet, die Ent­schei­dung der Ver­samm­lung der an der Sache inter­es­sier­ten Gläu­bi­gen abwar­ten müssen …

Liebe Olivia,

jede Epo­che hat­te immer ihr Elend, ihre Tra­gö­di­en und auch ihre Grö­ßen. So ist es, seit der Mensch sei­nem Leben und sei­nen Taten einen Sinn zu geben ver­sucht. Und das geschieht schon immer, seit die mora­li­schen Auto­ri­tä­ten der ver­schie­de­nen Reli­gio­nen ver­su­chen, die Grün­de für Gut und Böse zu erklä­ren. Dei­ne Epo­che läuft aber Gefahr, daß die mora­li­schen Auto­ri­tä­ten ver­schwin­den, daß sie in einer glo­ba­len Welt rela­ti­viert und gleich­ge­schal­tet wer­den unter dem Vor­wand, glo­ba­le Kon­flik­te ver­mei­den zu wol­len, die durch Dog­men und Fun­da­men­ta­lis­men ver­schul­det sei­en, die vor allem im Zuge der Evan­ge­li­sie­rung Ver­brei­tung fän­den. Ich fürch­te, daß die mora­li­schen Auto­ri­tä­ten nicht mehr die­sel­ben sein wer­den und das zum Scha­den für die Kennt­nis der Wahr­heit und die Errun­gen­schaft des Glau­bens. Du wirst es selbst fest­stel­len, wenn Du in eini­gen Jah­ren Reli­gi­ons­un­ter­richt erhal­ten wirst.

Wem ande­ren soll­te man die Ver­ant­wor­tung für all das zuschrei­ben, wenn nicht der Gno­sis, die über­all siegt? In der Phi­lo­so­phie ist es ihr gelun­gen, selbst das zu rela­ti­vie­ren, was abso­lut ist. In der Anthro­po­lo­gie ist es ihr gelun­gen, den Men­schen sich selbst zu einem mehr oder weni­ger intel­li­gen­ten Tier zurück­zu­stu­fen, das ein Krebs­ge­schwür für die Natur ist. In der Wirt­schaft ist es ihr gelun­gen, glau­ben zu machen, daß das wirt­schaft­li­che Elend die Moral her­vor­ge­bracht hat. In Wis­sen­schaft und Tech­nik ist es ihr gelun­gen, glau­ben zu machen, daß bei­de über eine mora­li­sche Auto­no­mie ver­fü­gen müssen.

Die mora­li­schen Auto­ri­tä­ten (der ver­schie­de­nen Reli­gio­nen) reagie­ren auf unter­schied­li­che Wei­se auf die­se Zurück­drän­gung. In eini­gen Krei­sen und Kul­tu­ren reagie­ren sie mit Gewalt. In ande­ren las­sen sie sich ein­schüch­tern aus Angst, aus­ge­grenzt zu wer­den. Und um nicht als Fun­da­men­ta­li­sten zu gel­ten, gehen sie sogar soweit, die Sün­de, den Irr­tum und die Unord­nung zu recht­fer­ti­gen und geschickt zu verschleiern.

Liebe Olivia,

die Welt, in der Du groß wirst, wird die Evo­lu­ti­ons­theo­rie behaup­ten, doch in Wirk­lich­keit evol­viert sich der Men­schen, das Geschöpf Got­tes, wild. In die­ser Welt, in der Du auf­wächst, wirst Du eini­gen Gefah­ren begeg­nen. Um in die­sen Gefah­ren bestehen zu kön­nen, wirst Du gut vor­be­rei­tet sein müssen.
Die erste Gefahr wird dar­in bestehen, nicht zu ver­ste­hen, ob die Wahr­heit vor oder nach der Frei­heit kommt, sie zu suchen, und ob sie nur aus dem Dia­log mit ande­ren Wahr­hei­ten ent­steht oder unab­hän­gig davon existiert.
Die zwei­te Gefahr wird dar­in bestehen, nicht ver­ste­hen zu kön­nen, was die Ursa­che der Übel ist, die den Men­schen quä­len, ob es wirk­lich die wirt­schaft­li­che Unge­rech­tig­keit ist oder doch die mora­li­sche Ungerechtigkeit.
Eine wei­te­re Gefahr wird in der Anstren­gung lie­gen, die sub­ti­le Schwie­rig­keit in der Ent­schei­dung zwi­schen Barm­her­zig­keit und Gerech­tig­keit zu ver­ste­hen, wenn die­se im Kon­flikt mit­ein­an­der scheinen.
Die­se und vie­le ande­re Gefah­ren wer­den um so grö­ßer, wenn die mora­li­schen Auto­ri­tä­ten die Was­ser trü­ben, indem sie es auf­ge­ben, den Ideen und den Ver­hal­tens­wei­sen des Men­schen Ori­en­tie­rung zu geben und die­se zu kor­ri­gie­ren; wenn sie statt des­sen sich die­sen anpas­sen, indem sie sie ent­schul­di­gen und anneh­men, anstatt sie umzu­wan­deln. Mit ande­ren Wor­ten gesagt: indem sie sich der Zeit anpas­sen, die eine evo­lu­ti­ve Dyna­mik im Ver­ständ­nis der Natur­ge­set­ze verlange.

Die Hei­li­ge Kir­che wuß­te durch die Zei­ten, dank der Hei­li­gen, Ver­än­de­run­gen zu wir­ken, um die Feh­ler der Men­schen zurecht­zu­bie­gen: man den­ke an die Häre­si­en, an den Pro­te­stan­tis­mus, an den Modernismus.

Heu­te aber gelingt es der Gno­sis, sogar dort die Wahr­heit zu leug­nen, wo die­se ist, und selbst dort die Gewis­sens­frei­heit hin­zu­set­zen, wo die­se nicht hin­ge­hört. Der Gno­sis gelingt es heu­te, der Kir­che das Recht abzu­spre­chen, zu evan­ge­li­sie­ren (aus Respekt vor ande­ren Kul­tu­ren) und von ihr zu for­dern, dem (so schlecht wie kaum je gebil­de­ten) Gewis­sen die Ent­schei­dung zu über­las­sen, was Gut und was Böse ist. Das ist, als wür­de man einen Blin­den auf­for­dern, ohne jede Hil­fe eine stark befah­re­ne Stra­ßen­kreu­zung zu über­que­ren, und ihn damit der Gefahr aus­zu­set­zen, nie­der­ge­fah­ren zu wer­den. Man ver­langt von der Kir­che, dem Men­schen die Frei­heit zu las­sen, nach sei­nem Gewis­sen zu bestim­men, was für ihn gut ist, ohne dar­über nach­zu­den­ken, daß das gleich­be­deu­tend ist, eine Maus vor einen wohl­rie­chen­den Käse zu set­zen, der mit einer gut­ge­tarn­ten, töd­li­chen Fal­le ver­bun­den ist. Man ver­langt von der Kir­che, den Gläu­bi­gen die Ent­schei­dung über die Rei­fe ihres Gewis­sens zu über­las­sen, um zur Her­de zurückzukehren.

Das alles erlaubt es mir, Dir, lie­be Oli­via, gleich­zei­tig zu erklä­ren, war­um es die glo­ba­le Erd­er­wär­mung gibt. Es gibt sie, weil die Zahl der See­len so groß ist, die auf dem Weg sind, in der Höl­le zu bren­nen, wegen der sich aus­brei­ten­den Ver­wir­rung in der Lehre.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nardi
Bild: Scolpict

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