(Rom) Für die Dauer des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit, das Papst Franziskus für 2016 ausgerufen hat, suspendiert der Papst die Anwendung des Canon 1398 des Codex Iuris Canonci und damit der Exkommunikation jener, die direkt oder indirekt an der Tötung eines ungeborenen Kindes mitgewirkt haben. Genauer gesagt, ist deren Exkommunikation nicht aufgehoben, sondern allen Priester die Erlaubnis übertragen, vom 8. Dezember 2015 bis 20. November 2016 allen, die in Abtreibung verstrickt sind, die Absolution zu erteilen. Auch Abtreibungsärzten und den Müttern, die ihr eigenes Kind im Mutterleib töten haben lassen.
Abtreibung bleibt „ein Drama“ – Kalte Dusche für Römische Kurie
Die Abtreibung bleibt „ein Drama“, ließ das katholische Kirchenoberhaupt wissen, aber während des Heiligen Jahres werden alle Priester die Erlaubnis haben, „von der Sünde der Abtreibung jene loszusprechen, die sie begangen haben, aber im Herzen bereuen und um Vergebung bitten“.
Die Entscheidung ist eine kalte Dusche für die Römische Kurie, da der Papst seine Entscheidung an allen zuständigen Stellen vorbei traf und niemanden informierte.
Eigenhändig schrieb der Papst seine Anweisung an den Vorsitzenden des Organisationskomitees für das Heilige Jahr, Kurienerzbischof Rino Fisichella. Die einsamen Entscheidungen eines Mannes, der sich mit seinen Mitarbeitern nicht beraten will? Auf dem handgeschriebenen Stück Papier legte der Papst persönlich die Normen fest, für die Gewinnung eines vollkommenen Ablasses während des außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit.
Wer an einer Abtreibung mitwirkt ist automatisch exkommuniziert
Wer immer an der Tötung eines ungeborenen Kindes durch Abtreibung mitwirkt, ist automatisch exkommuniziert. Die kirchlichen Bestimmungen in der Frage sind eindeutig. Weniger eindeutig war schon bisher, ob und wie die zuständigen Bischöfe diese Bestimmungen an die Gläubigen weitergaben. Im deutschen Sprachraum dürfte selbst der Großteil der Katholiken keine Ahnung davon haben, geschweige denn die Nicht-Katholiken. In den USA entbrannte der Streit an der Frage, ob Politiker, die Abtreibung befürworten, die Kommunion empfangen dürfen. Das Kirchenrecht sagt Nein. Nicht alle Bischöfe und Priester halten sich daran. In Europa wurde eine solche Konsequenz der Exkommunikation erst gar nicht diskutiert. Die ungeborenen Kinder spielen nicht nur für zahlreihe katholische Politiker keine Rolle. Auch manchem Kirchenvertreter sind gute Kontakte zu Politikern wichtiger als die ungeborenen Kinder.
Canon 1398 des Codex des Kirchenrechts besagt: „Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolgter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation zu.“ Es handelt sich um eine Exkommunikation latae sententiae, die somit automatisch und ohne Urteil eines Kirchengerichts eintritt. Demnach sind nicht nur die Abtreibungsärzte exkommuniziert, sondern auch die Mutter, die ihr Kind töten läßt. Ebenso jeder andere, der in irgendeiner Form am Zustandekommen der Abtreibung mitwirkt. Das gilt auch für die „ergebnisoffene“ Scheinberatung in der Bundesrepublik Deutschland, da erst die Ausstellung des Beratungsscheins – beispielsweise durch die Beratungsstellendes Vereins Donum vitae – eine Abtreibung im Sinne des Gesetzes möglich macht.
Exkommunikation bedeutet, daß nur der Bischof die Lossprechung erteilen kann
Wenn ein Abtreibungsarzt oder eine Mutter, die ihr Kind töten ließ, bereut, kann ihr ein einfacher Priester wegen der Schwere der Sünde keine Lossprechung geben. Nur der zuständige Diözesanbischof oder ein von ihm beauftragter Delegat kann die Exkommunikation aufheben. Diese Bestimmung, die sich gegen die staatlichen Strafgesetzbücher stemmt, die Abtreibung legalisieren oder zumindest straffrei stellen, wurde auch im Rahmen des ordentlichen Heiligen Jahres 2000 ausdrücklich bekräftigt. Papst Johannes Paul II. rief in Erinnerung, daß nur die Diözesanbischöfe oder deren beauftragte Vertreter von der Sünde der Abtreibung lossprechen können.
Erste Schritt zur gänzlichen Aufhebung der Exkommunikation?
Franziskus hat diese Norm nun umgestoßen in einer delikaten Frage, in der sich die Katholische Kirche seit Jahrzehnten gegen einen tödlichen Zeitgeist wehrt. Die Massenmedien reagierten hellhörig und verbreiteten die Nachricht von der Suspendierung in Windeseile. Streng genommen hat Papst Franziskus die Exkommunikation nicht aufgehoben, sondern unter vorausgesetzter Reue die Erlangung der Absolution lediglich technisch erleichtert. Ohne Reue wegen der begangenen Abtreibung gibt es auch weiterhin keine Lossprechung.
Dennoch liegt der Entscheidung eine Ambivalenz zugrunde, die weniger mit der Theorie, sondern mit der Praxis in der Kirche zu tun hat. Die Exkommunikation wäre ein machtvolles Mittel, die Schwere der Schuld deutlich zu machen, würde sie nicht vom eigenen Kirchenpersonal neutralisiert. Bereits jetzt setzen die Diözesanbischöfe immer häufiger die Durchführung des Canon 1398 aus und erlauben allen Priester, Frauen, die abtreiben ließen, und Ärzten, die ungeborenen Kinder getötet haben, in der Beichte von ihrer Sünde loszusprechen. Ein jüngstes Beispiel ist der Bischof von Terni, der während der Fastenzeit 2015 diese Erlaubnis erteilte. Ebenso der Erzbischof von Turin, der während der Ausstellung des Grabtuches die Priester seines Erzbistums dazu ermächtigte.
„Bereitet sich die Kirche vor, ihre Haltung und ihr Urteil über Frauen, die abgetrieben haben, definitiv zu ändern?“, fragte gestern die Tageszeitung Il Giornale. „Man wird sehen, was der Papst in Zukunft entscheiden wird. Nichts verbietet es, die zeitlich beschränkte Erlaubnis nach dem Heiligen Jahr allen Priestern ständig zu gewähren“, so die Tageszeitung.
Die Katholische Kirche ist die einzige internationale Institution von Gewicht, die sich gegen ein „Recht“ auf Abtreibung wehrt. Bereits bisher erwiesen sich zahlreiche Bischöfe und Priester in den westlichen Staaten als ziemlich kleinlaut, wenn es um das Thema Abtreibung geht. Im Ringen um das Leben der ungeborenen Kinder haben viele auf ganzer Linie versagt. Heute, nach Jahrzehnten des Schweigens, ernten die Bischöfe oft beim kleinsten kritischen Wort schon diözesanintern heftigen Widerspruch, da bestenfalls eine „ergebnisoffene“ Beratung für erträglich befunden wird. Ein hausgemachtes Problem, das zeigt, wie schnell Fehlentwicklungen außerhalb der Kirche, negativ in diese hineinwirken können.
Auch die Medienreaktion auf die jüngste Entscheidung des Papstes läßt den Unterton vernehmen, als würde die Kirche in Sachen Abtreibung „abrüsten“.
Eine ausgestreckte Hand für die Piusbruderschaft?
Normen für die Erlangung eines vollkommenen Ablasses enthalten eine Reihe von Detailbestimmungen. In keinem Zusammenhang mit dem bisher Dargelegten steht die Anerkennung der Gültigkeit und Rechtmäßigkeit der Absolution durch Priester der Priesterbruderschaft St. Pius X. während des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit.
Papst Benedikt XVI. hatte 2009 die von Rom vertretene Exkommunikation der vier Bischöfe Piusbruderschaft zurückgenommen. Allerdings wurde mehrfach betont: die Priester der Bruderschaft hätten keine Erlaubnis, die Sakramente zu spenden. Eine Situation, die einiges an Unbehagen zur Folge hatte. Seit dem Motu proprio Summorum Pontificum steht es jedem Priester frei, die Heilige Messe im überlieferten Ritus zu zelebrieren. Etwas anders ist es noch, was die öffentlichen Zelebrationen betrifft.
Offen ist bisher besonders die Frage, ob die Absolution durch Priester der Piusbruderschaft Gültigkeit besitzt. Mit der Entscheidung von Papst Franziskus wurde die Frage mit einem klaren Ja beantwortet, jedenfalls für die Dauer des Heiligen Jahres. Wird auch in diesem Punkt eine dauerhafte Entscheidung vorbereitet?
Den vollkommenen Ablaß auch für jene, die Armen helfen
Den vollkommenen Ablaß kann im Heiligen Jahr auch gewinnen, wer physische oder geistliche Werke der Barmherzigkeit tut und zwar ohne die Heilige Tür einer römischen Basilika oder der diözesanen Kathedralkirche durchschreiten zu müssen. Auch Gefangene können ihn gewinnen, nach Reue, Beichte und Kommunionempfang, wann immer sie durch die Tür ihrer Gefängniszelle gehen.
Die Heiligen Jahre seien schon immer eine Gelegenheit für eine „große Amnestie“ gewesen. Papst Johannes Paul II. hatte es im Heiligen Jahr 2000 ausdrücklich von den Staaten gefordert. In Italien blieb er damit ungehört. Die italienische Nationalmannschaft mußte 2006 zuerst Fußballweltmeister werden, bis sich Regierung und Parlament zu einem Strafnachlaß durchringen konnten.
Papst Franziskus fordert eine Amnestie nicht ausdrücklich, sendet den Staaten aber eine Botschaft, die sie darüber nachdenken lassen möchte.
Eine weitere Ohrfeige für die Kurie
Papst Franziskus ließ einmal mehr alle Regeln und Gepflogenheiten des Vatikans links liegen, um seine Entscheidung durchzusetzen. Bisher war es der Großpönitentiar, der in Übereinkunft mit dem Papst, die Bedingungen festlegte, unter denen während eines Heiligen Jahres ein vollkommener Ablaß gewonnen werden kann. Großpönitentiar der Katholischen Kirche ist seit 2013 Kardinal Mauro Piacenza, den Franziskus, bald nach seiner Wahl zum Papst, als Präfekt der wichtigen Kleruskongregation absetzte und in die Apostolische Pönitentiarie abschob. Mit der Restauration des sakramentalen Priestertums, die Papst Benedikt XVI. nach dem Vorbild des heiligen Pfarrers von Ars versuchte, konnte sich schon Kardinal Jorge Mario Bergoglio nicht anfreunden. Kardinal Piacenza unterstützte die Linie des deutschen Papstes, was nach dessen Rücktritt auch ihm den Präfektenstuhl kostete.
Papst Franziskus wandte sich im Zusammenhang mit dem vollkommenen Ablaß im Heiligen Jahr nicht an den zuständigen Großpönitentiar, sondern schrieb eigenhändig seine Entscheidung nieder und schickte sie direkt dem Organisationskomitee zu. Kardinal Piacenza erfuhr erst nach vollendeten Tatsachen davon.
Die päpstliche Bestimmung wirft eine Reihe neuer Fragen auf. In der Bulle Misericordiae Vultus, mit der das Heilige Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hatte, kündigte Papst Franziskus für die Dauer des Heiligen Jahres die Schaffung einer neuen Figur an, der „Missionare der Barmherzigkeit“. Laut Bulle solle es sich dabei um Priester handeln, denen der Papst die Erlaubnis überträgt, auch „die Sünden zu vergeben, die dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind“. In seiner jüngsten Entscheidung findet sich jedoch kein Hinweis auf diese „Missionare der Barmherzigkeit“, die, zumindest der Theorie nach, von der Apostolischen Pönitentiarie abhängen würden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Jahr der Barmherzigkeit/InfoVaticana/FSSPX (Screenshots)