Von falschen Heiligen der Moderne oder: die Anbetung des Ego


Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913) mit seinem rousseauistisch verzogenen Sohn Helios, der später seinen Vater terrorisierte
Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913) mit seinem rousseauistisch verzogenen Sohn Helios, der später seinen Vater terrorisierte

Der Maler Karl Wil­helm Die­fen­bach wird seit eini­gen Jah­ren als moder­ner Pro­phet gefei­ert. Tat­säch­lich insze­nier­te er sich als ulti­ma­ti­ver Mes­si­as der Neu­zeit, als moder­ner Chri­stus-Dar­stel­ler mit den Zügen Nietz­sches, der in einem syn­kre­ti­sti­schen Ansatz die Natur, den Men­schen und das Ego ver­gött­li­chen wollte.

Anzei­ge

Ein Gast­kom­men­tar von Hubert Hecker

Die Frank­fur­ter Kunst­hal­le Schirn ist in Tei­len zu einem veri­ta­bler Kunst-Tem­pel ein­ge­rich­tet wor­den. In ihm wird bis zum 14. Juni die Aus­stel­lung gezeigt: „Künst­ler und Pro­phe­ten. Eine gehei­me Geschich­te der Moder­ne 1872 – 1972“. Dar­in hat die Kura­to­rin Pame­la Kort ihre The­se ver­an­schau­licht, dass die Kunst­ent­wick­lung der letz­ten 150 Jah­re eine ver­schwie­ge­ne Kehr­sei­te gehabt habe: Hin­ter den gro­ßen Kunst­strö­mun­gen der Moder­ne wie Impres­sio­nis­mus und Expres­sio­nis­mus, gegen­über dem Gei­sti­gen in der abstrak­ten Kunst und der ratio­na­len Bau­haus-Gestal­tung soll man mehr als zwei Künst­ler­ge­nera­tio­nen ent­decken, die eher von irra­tio­na­len und eso­te­ri­schen Gestal­tungs-Moti­ven getrie­ben waren sowie mit lebens­re­for­me­ri­schem und zivi­li­sa­ti­ons­kri­ti­schem Geha­be auftraten.

Zweifelhafte Einflüsse, falsche Gurus ohne echte Kunst

Als Urva­ter aller moder­nen Künst­ler-Pro­phe­ten wird der aus dem nas­saui­schen Hada­mar stam­men­de Karl Wil­helm Die­fen­bach vor­ge­stellt. Sein berühm­ter Schat­ten­bild-Fries „per aspe­ra ad astra“ lei­tet die Besu­cher in die Aus­stel­lung. Die dar­ge­stell­te Pro­zes­si­on von Men­schen und Tie­ren in unbe­rühr­ter Natur zum Para­dies als Tem­pel der „Huma­ni­tas“ soll zugleich den Anspruch der pro­phe­ti­schen Künst­ler dar­stel­len, durch Kunst die Mensch­heit vom Bal­last einer als erdrückend emp­fun­de­nen Zivi­li­sa­ti­on zu erlö­sen. Nach­ge­zeich­net wird der Ein­fluss Die­fen­bachs über sei­ne Schü­ler „Fidus“, Kup­ka und Grä­ser auf Arthur Roess­ler und Egon Schie­le. In der Zwi­schen­kriegs­zeit hät­ten zahl­rei­che „Infla­ti­ons­hei­li­ge“, San­da­len­pre­di­ger, Tanz­gu­rus und Jesus-Apo­stel Die­fen­bachs Impul­se wei­ter­ge­führt. Schließ­lich sieht die Kura­to­rin in den Wer­ken von Frie­dens­reich Hun­dert­was­ser sowie Josef Beu­ys und des­sen Schü­ler Jörg Immendorf Ver­bin­dun­gen zu Die­fen­bachs Moti­ven anklingen.

Die mei­sten Zei­tungs­re­zen­sio­nen loben die Idee und Kon­zep­ti­on der Aus­stel­lung. Nur von weni­gen Rezen­sen­ten wer­den sowohl vie­le der behaup­te­ten Ein­fluss­li­ni­en infra­ge gestellt wie auch die Rele­vanz der Lebens­re­form­be­we­gung auf die Kunst der Moder­ne rela­ti­viert. So erschei­nen die Bele­ge für Die­fen­bachs Ein­fluss auf die drei oben genann­ten Nach­kriegs­künst­ler doch arg dünn, wenn etwa mit der Umhän­ge­ta­sche Beu­ys‘, dem Kru­zi­fix mit Son­nen­rad oder sei­nem Revo­lu­ti­ons­an­spruch die Wir­kung des Kohl­ra­bi-Apo­stels ver­an­schau­licht wird. Die Abstrak­ti­ons­mo­ti­ve in den Wer­ken Kup­kas sind gera­de nicht auf die Abbild-Male­rei von Die­fen­bach zurück­zu­füh­ren. Auch der Ein­fluss der Tem­pel­kunst von Fidus, Die­fen­bachs „Mei­ster­schü­ler“, etwa auf Gro­pi­us und die Bau­haus-Grup­pe dürf­te in Wirk­lich­keit gegen Null gegan­gen sein. Fidus‘ berühm­tes Bild von der Ver­zückung des nack­ten Jüng­lings bei der Son­nen­an­be­tung hat­te sicher­lich Wir­kung – aber eher auf die völ­ki­sche Kunst­sze­ne und spä­te­re Kitsch-Nach­ah­mer als auf die moder­ne Kunst. Allen­falls hat Die­fen­bach mit der Idee vom gemar­ter­ten Pro­phe­ten und lei­den­den Chri­stus ande­re Künst­ler wie Schie­le und Beu­ys inspi­riert. Aber das ist weni­ger dem Pro­zess der moder­nen Kunst­ge­schich­te zuzu­ord­nen als der Eso­te­rik. Über­haupt sei­en von den ins­ge­samt zwan­zig vor­ge­stell­ten „Künst­ler und Pro­phe­ten“ nur Kup­ka und Schie­le, Hun­dert­was­ser und Beu­ys als form­be­wuss­te Kunst­schaf­fen­de anzu­se­hen, ande­re ohne künst­le­ri­sche Sub­stanz und wei­te­re wie Nagel, Haeu­sser und Baa­der sei­en als „fal­sche Gurus ohne ech­te Kunst“ ein­zu­ord­nen, wie der Rezen­sent der taz anmerkt.

Esoterische Künstler als geniale Selbstinszenierer

Diefenbach dem Schüler Fidus: Selbstinszenierung als prophetischer Wegweiser ins irdische Paradies der vergöttlichten Natur
Die­fen­bach dem Schü­ler Fidus: Selbst­in­sze­nie­rung als pro­phe­ti­scher Weg­wei­ser ins irdi­sche Para­dies der ver­gött­lich­ten Natur

Eine Gemein­sam­keit kann man schließ­lich doch noch bei allen moder­nen Pro­phe­ten-Künst­lern ent­decken: Mit ihren Selbst­dar­stel­lun­gen waren sie genia­le Selbst­ver­mark­ter. In mit­tel­al­ter­li­chen Gemäl­den trat der Maler völ­lig hin­ter sei­nem Werk zurück. Bei vie­len der moder­nen Künst­ler-Gurus hat man den Ein­druck, dass die Selbst­in­sze­nie­rung das eigent­li­che Kunst-Event dar­stellt, dem das Werk unter­ge­ord­net ist. Die­fen­bach hat­te die­se künst­le­ri­sche Selbst­sti­li­sie­rung bei sei­ner Wie­ner Aus­stel­lung 1892 per­fek­tio­niert, wie die Zeit­schrift Bohe­mia damals schwärm­te: „Das effect­voll­ste Ereig­nis in den Aus­stel­lungs­sä­len aber ist es, wenn sich die Thür des Ate­liers öff­net und Die­fen­bachs lang­be­haar­tes Haupt selbst sicht­bar ist. Gern erzählt der Duld­er (!) dem stau­nen­den Publi­kum die Lei­dens­ge­schich­te sei­ner Bekeh­rung zum Para­dies­zu­stand.“ Ins­be­son­de­re in der spä­te­ren Kom­mu­ne Him­mel­hof stei­ger­te sich der Kult um den Geni­us Die­fen­bach zu einer Anbe­tung des Egos.

Die­se Ego-Insze­nie­rung beherrsch­te auch der deut­sche Künst­ler Joseph Beu­ys. Bei einem Auf­ent­halt 1972 in Nea­pel und auf Capri, dem letz­ten Wirk­ort Die­fen­bachs, ließ er ein Ganz­bild von sich in fort­schritt­li­cher Pose mit Umhän­ge­ta­sche anfer­ti­gen. Auf das Bild schrieb er auf Ita­lie­nisch: „Wir sind die Revo­lu­ti­on“. Gemeint war: Ich bin die Revo­lu­ti­on.

In zuge­spitz­ter Wei­se hat­te der extrem­ste Pro­phet der Zwi­schen­kriegs­zeit, Lud­wig Chri­sti­an Haeu­sser, sei­ne eige­ne Apo­theo­se als ulti­ma­ti­ver Mes­si­as der Neu­zeit in Sze­ne gesetzt. Der ehe­ma­li­ge Sekt-Ver­tre­ter soll sein Erweckungs­er­leb­nis in einem bana­len Hotel­zim­mer in Frank­furt gehabt haben. Aber in sei­ner Bot­schaft prä­sen­tier­te er sich den erlö­sungs­gläu­bi­gen Mas­sen als das Alpha und Ome­ga einer neu­en Zeit, ein moder­ner Chri­stus­dar­stel­ler mit den Zügen Nietz­sches. Sein Leit­spruch lau­te­te: „Ich bin der Weg, die Wahr­heit und das Leben; der Über­mensch und die Auf­er­ste­hung und die Neue Zeit“. Der Anspruch die­ses eso­te­risch durch­ge­knall­ten Cham­pa­gner-Händ­lers als wie­der­erstan­de­ner Mes­si­as für die Neue Zeit/​New Age ent­sprach in den Grund­zü­gen dem Pro­gramm, dass der Ur-Guru Die­fen­bach eine Gene­ra­ti­on vor­her pro­pa­giert und insze­niert hatte.

1872 begann Karl Wil­helm Die­fen­bach mit sei­ner Über­sied­lung nach Mün­chen sei­ne Künst­ler-Kar­rie­re. Für die­ses Jahr setzt Pame­la Kort den Beginn der künst­le­ri­schen Erweckungs­be­we­gung der Moder­ne an. Doch erst ab 1875, nach dem Tod sei­ner Eltern, lässt sich der Pro­zess der Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung des jun­gen Künst­lers nach­wei­sen, der nur weni­ge Jah­re spä­ter zu einem sozia­len Exzen­tri­ker wer­den soll­te – mit Gott und der Welt ver­kracht. Sein zeit­wei­se eng­ster Schü­ler „Fidus“ cha­rak­te­ri­sier­te Die­fen­bach Ende der 80er Jah­re so: In sei­nen per­sön­li­chen Ver­hält­nis­sen sei er „krank­haft erregt“ und mit vie­len Zeit­ge­nos­sen stets „in Hader ver­strickt“; er beschei­nigt ihm auto­ri­tä­res Geha­be sowie über­grif­fi­ge Ansprü­che, die die Per­sön­lich­kei­ten sei­ner Schü­ler, Freun­de und Frau­en miss­ach­te­ten; wei­ter beob­ach­te­te er „Kind­lich­keit, Tor­heit, Unbe­son­nen­heit und Maß­lo­sig­keit“ bei sei­nem ehe­ma­li­gen „Mei­sters“.

Was trieb Diefenbach zu seiner exzessiven Zivilisationskritik?

Diefenbachs Selbststilisierung als meditativer Christus
Die­fen­bachs Selbst­sti­li­sie­rung als medi­ta­ti­ver Christus

In sei­nem „Lebens­be­richt“ von 1897 ließ Die­fen­bach schrei­ben: Nach dem Tode sei­ner Eltern 1875 brach die „Revo­lu­ti­on sei­nes inner­sten Wesens gegen alle in Staat, Kir­che, Schu­le, Gesell­schaft und Fami­lie über­kom­me­nen Ver­hält­nis­se, wel­che ihn anekel­ten oder aufs äußer­ste empör­ten, end­lich aus“. In Wirk­lich­keit muss sei­ne Lebens- und Per­sön­lich­keits­wand­lung ein län­ge­rer Pro­zess gewe­sen sein, wie Die­fen­bach in sei­nem „Testa­ment“ von 1909 selbst dar­legt. Der katho­li­sche Stand­punkt sei­ner Schwe­ster Eli­sa­beth habe ihn des Öfte­ren hin­aus­ge­trie­ben in ein „‚unmo­ra­li­sches‘ Nacht­le­ben auf der Stra­ße mit Fol­gen“. Hin­ter die­sen Andeu­tun­gen könn­te eine Syphi­lis ste­hen, die er sich bei sei­nen nächt­li­chen Eska­pa­den zuge­zo­gen haben dürf­te. Jeden­falls wur­de er von Ärz­ten mit den damals übli­chen Queck­sil­ber-Mit­teln trak­tiert. Die­se Sym­ptom­be­hand­lung konn­te jedoch die Neben­wir­kun­gen wie Schwä­che­zu­stän­den, Ner­ven- und „Gehirn­lei­den“ nicht behe­ben, über die Die­fen­bach in sei­nen Tage­bü­chern klag­te. Die in sei­nem Kör­per stecken­de Syphi­lis könn­te zusam­men mit der Queck­sil­ber­be­hand­lung für sei­ne psy­chi­sche und men­ta­le Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung mit­ver­ant­wort­lich gewe­sen sein, die sich in sei­nen radi­ka­li­sier­ten Lebens­an­sät­zen, sei­ner Selbst­über­schät­zung und dem dau­ern­den Hader mit Gott und der Welt zeig­te. Wei­ter ist zu erwä­gen, ob nicht auch die Milieu-Erfah­run­gen sei­nes „unmo­ra­li­schen Nacht­le­bens auf der Stra­ße“ Die­fen­bachs ethi­sche und gesell­schaft­li­che Wer­te-Koor­di­na­ten tief­grei­fend ver­rückt haben. Jeden­falls ging sein abgrund­tie­fer Hass auf die Insti­tu­ti­on der Ehe in Schrift („ent­wür­di­gend und schmach­voll“) und Bild („Unterm Ehe­joch“) weit über die dama­li­gen Ansät­ze von „frei­er Lie­be“ als einer „höhe­ren Form“ des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens hinaus.

Kritik an der „entarteten Gesellschaft“ und eine naturreligiöse Erlösungsvision

Doppelbild Diefenbachs als Dulder und Gekreuzigter
Dop­pel­bild Die­fen­bachs als Duld­er und Gekreuzigter

Zusam­men­fas­send lässt sich sagen, dass Karl Wil­helm Die­fen­bach seit sei­nen End­zwan­zi­ger Lebens­jah­ren mit Gott und der Welt im Streit lag. Er beschimpf­te die Für­sten von Nas­sau und Preu­ßen, die ihn jeweils mit einem klei­nen Sti­pen­di­um für sein Kunst­stu­di­um unter­stützt hat­ten, als hab­gie­rig und herrsch­süch­tig. Die Ärz­te, die Die­fen­bach bei Typhus, Syphi­lis und vie­len ande­ren Krank­hei­ten behan­delt hat­ten, nann­te er dok­to­rier­te Esel oder Medi­zin­pfaf­fen. Vom Ver­hal­ten in der Mün­che­ner Kunst­aka­de­mie sprach er abschät­zig als Laus­bu­ben­an­stalt. Rich­ter, Amts­lei­ter und Poli­zei­of­fi­zie­re waren für Die­fen­bach Staats- und Justiz­pfaf­fen. Hef­ti­ge Attacken rich­te­te er gegen Prie­ster, Kir­che und Chri­sten­tum. Auch mit sei­nen fünf Geschwi­stern ent­zwei­te er sich völ­lig. Neben die­sem Streit mit Insti­tu­tio­nen und Per­so­nen bekämpf­te Die­fen­bach in pole­mi­scher Wei­se bür­ger­li­che Ver­hal­tens­wei­sen wie Bier- und Wein­trin­ken, Tabak­rau­chen, Fleisch­essen, Rasie­ren und enge Klei­dung tra­gen. Das Insti­tut der Ehe beschimpf­te er als „gemei­nen Zwang und fluch­be­la­de­ne Frucht der Welt­an­schau­ung längst ver­gan­ge­ner Zeiten“.

1881 zei­tig­te Die­fen­bachs Lebens­wand­lung erkenn­ba­re Kon­tu­ren: Er wur­de Mit­glied der frei­re­li­giö­sen Gemein­de Mün­chen, nahm am deut­schen Frei­den­ker-Kon­gress in Frank­furt am Main teil und trat aus der katho­li­schen Kir­che aus. Von dem Begrün­der der frei­re­li­giö­sen Gemein­den über­nahm Die­fen­bach des­sen pan­the­isti­sche Natur­re­li­gi­on sowie als Kon­se­quenz den Vege­ta­ris­mus. Von dem Mit­be­grün­der des deut­schen Frei­den­ker­bun­des, Carl Scholl, ließ er sich zu einer aggres­si­ven Kri­tik gegen die „römi­sche Anma­ßung“ der katho­li­schen Kir­che inspi­rie­ren. Scholls „Reli­gi­on der Huma­ni­tät“ stand wohl auch Pate, als Die­fen­bach im Jah­re 1882 den Ver­ein „Mensch­heit“ grün­de­te. Drei Jah­re spä­ter eta­blier­te der Künst­ler in der Ein­öde Höll­rie­gels-Gereu­te die „Huma­ni­tas“ genann­te „Werk­stät­te für Reli­gi­on, Kunst & Wis­sen­schaft“. Schließ­lich stand er im Brief­wech­sel mit dem Natur­heil­prak­ti­ker Arnold Rik­li, dem Vor­kämp­fer des Natu­ris­mus und Begrün­der der Licht-Luft-Bäder.

Herrschaft über die „fügsame Weiblichkeit“, Polemik gegen das „Joch der Ehe“,

Diefenbach als gekreuzigter Christus
Die­fen­bach als gekreu­zig­ter Christus

1877 hat­te Die­fen­bach die Haus­halts­ge­hil­fin Maxi­mi­lia­ne Schlott­hau­er ken­nen­ge­lernt, die er Maja nann­te. Ein Jahr spä­ter „nahm ich die Maja zu mir“, wie er sei­ner Schwe­ster Eli­sa­beth anver­trau­te, „im Bedürf­nis nach einer stil­len, füg­sa­men, wie wei­ches Wachs mich umge­ben­de Weib­lich­keit“. Wäh­rend einer Kur liier­te er sich nur ein Jahr spä­ter mit der Made­lei­ne Atz­in­ger. 1880 wur­de der gemein­sa­me Sohn Heli­os gebo­ren. Die Atz­in­ger war eine gebil­de­te Frau, die zeit­wei­se die jun­ge Fami­lie mit Sprach- und Kla­vier­un­ter­richt über Was­ser hal­ten muss­te. Sie spiel­te aber nicht die Rol­le der füg­sa­men, wachs­wei­chen Weib­lich­keit, die dem her­ri­schen Cha­rak­ter Die­fen­bachs zu unter­wür­fi­gen Dien­sten war. Daher kam es zu dau­ern­den, tief­grei­fen­den Ent­zwei­un­gen zwi­schen dem Paar. In den Tren­nungs­pha­sen hat­te Die­fen­bach aber kei­nen Ein­fluss auf sei­nen Sohn, den er als „strah­len­de Ver­kör­pe­rung“ sei­ner eige­nen, rous­se­au­istisch­ne Idea­le erzie­hen woll­te. Nur aus die­sem Motiv her­aus habe sich ihre Vater, so die Toch­ter Stel­la, „über­haupt dem Joch der Ehe gefügt“. Die zivil­recht­li­che Trau­ung, die am 27.  Janu­ar 1882 statt­fand, hat­te daher für Die­fen­bach nur instru­men­tel­len Cha­rak­ter zum erzie­he­ri­schen Durch­griff auf sei­nen Sohn. Zugleich emp­fand er das Hin­ein­ge­zo­gen­wer­den in die bür­ger­li­che „Zwangs­ehe“ als eine Demü­ti­gung und Erpres­sung eines „sata­nisch raf­fi­nier­ten Weibes“.

Die­ser Hin­ter­grund ist für das Ver­ständ­nis der dann fol­gen­den pro­phe­ti­schen Initia­ti­on von Die­fen­bach ent­schei­dend. Noch am Tag sei­ner Trau­ung „flüch­te­te“ er nach eige­nen Aus­sa­gen in die Ein­sam­keit des Hohen­pei­ßen­bergs, der von einer barocken Wall­fahrts­kir­che gekrönt ist. Vier­zehn Tage spä­ter schrieb er nach einer durch­wach­ten Nacht bei Son­nen­auf­gang eine „Visi­on“ auf. In Wirk­lich­keit war die­ser zwei­sei­ti­ge Text ein bio­gra­phisch gefärb­tes Kla­ge­lied, das er schon oft gesun­gen hat­te – über „Für­sten­habgier, Prie­ster­wahn und Medi­zi­ner­trei­ben, die der Men­schen Mensch­lich­keit“ ver­nich­ten wür­den. Im zwei­ten Teil sieht er im Auf­gang der Son­ne sei­ne eige­ne „wah­re Men­schen­grö­ße“ auf­er­ste­hen. Er fühlt sich „frei trotz der Ket­ten“, den Kampf gegen „Wahn und Lüge“ auf­zu­neh­men für der „Mensch­lich­keit Erwa­chen – gott­be­freit“. Auch die Ele­men­te die­ses Kampf­pro­gramms hat­te Die­fen­bach aus Tex­ten von Balt­zer, Scholl und ande­ren „Frei­gei­stern“ schon des Öfte­ren herausgerufen.

Der Prophet vom Hohenpeißenberg: Es ist kein Gott – und Diefenbach ist ein Prophet

Aber Pro­phe­ten müs­sen zur sozia­len Aner­ken­nung ein Erweckungs­er­leb­nis vor­wei­sen kön­nen. Und so insze­nier­te sich Die­fen­bach zu Beginn sei­nes öffent­li­chen Wir­kens – in Nach­ah­mung von Jesus mit sei­nem 40tägigen Fasten in der Wüste. Am Ende sei­ner Ein­sam­keits­prü­fung fühlt er sich von Offen­ba­rungs­strah­len der Son­ne erleuch­tet und von der gött­li­chen Natur beauf­tragt, die Mensch­heit von Gott zu befreien.

Auch der Berg hat­te als Offen­ba­rungs­ort pro­phe­ti­sche Bedeut­sam­keit. Denn Die­fen­bachs Her­ab­kunft vom Ber­ge mit einem Erlö­sungs­pro­gramm in den Hän­den weist ihn als neu­en Eli­as aus – wenn nicht gar als Wie­der­gän­ger von Mose. Auch wenn er erst eini­ge Mona­te spä­ter die neue Kut­ten-Kluft anleg­te – inspi­riert von dem Klei­dungs­pio­nier Gustav Jäger, und noch spä­ter mit dem som­mer­li­chen Bar­fuß­ge­hen begann: Die­fen­bachs gro­ße Geste der archai­schen Selbst­in­sze­nie­rung als Pro­phet aus der Berg­ein­sam­keit zog unwei­ger­lich die pro­phe­ti­schen Erken­nungs-Attri­bu­te nach sich. Das bestä­tigt Pame­la Kort in ihrem Kata­log: „Als er von dem Berg her­un­ter­ge­stie­gen war, leg­te er die Kut­te eines Pro­phe­ten an und ging fort­an bar­fuß“. Im Bericht der Tages­post vom 2. Juni 2015 wird die pro­phe­ti­sche Selbst­in­sze­nie­rung sogar als objek­ti­ves Offen­ba­rungs­ge­sche­hen behaup­tet: „Die­fen­bach erhielt auf dem Hohen­pei­ßen­berg sei­ne Offenbarung“.

Das Pro­gramm von dem letz­ten Wort sei­ner Son­nen­auf­gang-Visi­on, „gott­be­freit“, führ­te Die­fen­bach spä­ter in zwei Tex­ten wei­ter: Neben sei­ner Pre­digt „Es ist kein Gott!“ ent­fal­te­te er in der Bei­schrift zu sei­nem künst­le­ri­schen Haupt­werk „per aspe­ra ad astra“ ein wei­te­res Mani­fest zu sei­nem Kunst- und Lebens­pro­gramm. Sei­ne Grund­the­sen, mit Die­fen­bachs Wor­ten zusam­men­ge­fasst, lauten:

  1. Der Glau­be an einen tran­szen­den­ten Gott ist eine von der „fin­ste­ren Macht der Prie­ster ver­kün­de­te Lüge“. Sie ist „die Quel­le allen Elends“. Wie ein „wüster Traum, einem Alb­druck gleich“, lastet der Gott­glau­be noch „auf dem größ­ten Teil der Mensch­heit. Die arme, irre­ge­lei­te­te Mensch­heit fleh­te zu toten Göt­zen um Erlö­sung.“
  2. Denn die „Mensch­heit ist gewi­chen einst vom Wege der Natur, nicht mehr erkennt sie ihrer Mut­ter Erde Lie­be, die trau­te Stim­me der Natur und ist dem Wahn“
  3. Die­fen­bach sieht sich „erwacht aus die­sem unna­tür­li­chen Schlaf, den Prie­ster sorg­sam hüten, und erkennt jenen wüsten Traum von einem Gott, der nichts als Irr­tum und Lüge ist.“ Als Pro­phet „ruft er in die Welt hin­ein: Es ist kein Gott!“
  4. Durch die­se Erkennt­nis und Bot­schaft, „befreit von den Ban­den und dem Fluch des Irr­tums“, kann sich der Mensch „zum wah­ren Gott des Lebens und des Heils“ erhe­ben, zu dem „ewi­gen Urquell der durch­gött­lich­ten Natur“.
  5. „Die gött­li­che Mut­ter NATUR“ schuf die Welt zu einem „blü­hen­den Gar­ten Eden“. In den Natur­phä­no­me­nen kön­nen „die nicht ent­ar­te­ten Men­schen das gött­li­che Wer­den“ betrach­ten und „Erkennt­nis der Gott­heit in All-Religion“ 
  6. Der Mensch muss auch zur „Erkennt­nis sei­ner eige­nen GÖTTLICHKEIT“ kom­men, denn sei­ne „Mut­ter, die NATUR, hat ihn rein und frei als höch­stes Wesen gebo­ren, nicht befleckt mit Erb­sünd, Fluch und Schan­de“. Die Erkennt­nis des eige­nen gött­li­chen Selbst ist der Weg zur Erlö­sung, die Rück­kehr ins Paradies.
  7. Denn die Mut­ter Natur hat dem Men­schen auf der Erde „ein Para­dies geschaf­fen mit Blu­men und Früch­ten. Der Gar­ten ladet Mensch und Tier zum Got­tes­mah­le ein. Men­schen und Tie­re – im Wesen gleich als Emana­ti­on der Gott­heit, nur ver­schie­den im Grad der Ent­wick­lung –, ver­schö­nen in Lie­be ver­eint sich gegen­sei­tig das Leben.“ 
  8. Da aber „der größ­te Teil der Mensch­heit“ durch die Ver­füh­rung des „Satans­in­sti­tuts der Kir­che, des teuf­li­schen Pfaf­fen­gei­stes aller Kün­ste sowie der teuf­li­schen Staats­ver­fas­sung“ sei­ne gött­li­che Ursprungs­na­tur ver­ra­ten und ver­kauft hat, braucht sie Füh­rer, die sie „den Weg zum Para­dies lei­ten, den Weg zu Gott“.
  9. Die­fen­bach betrach­tet die Kunst im Gei­ste sei­ner näch­sten Gei­stes­ver­wand­ten wie Shel­ley, Schil­ler und Richard Wag­ner als „das wesent­li­che Ver­ed­lungs­mit­tel“, die Mensch­heit „vom Kada­ver essen­den ‚Raub­thier­men­schen‘ zum ‚Gott­men­schen‘ zu füh­ren in den Tem­pel der HUMANITAS“.
  10. Die­fen­bach streb­te „die Ver­wirk­li­chung der ‚fro­hen Bot­schaft‘ Jesu von der Mensch­heits­er­lö­sung und der Errich­tung des ‚Rei­ches Got­tes‘ durch die all­ge­mei­ne Men­schen­lie­be“ Aber wie beim „Edel­mensch Jesus“ so wür­den „heu­te noch die Erlö­ser der Mensch­heit als ‚Got­tes­lä­ste­rer‘ und ‚Ket­zer‘ ver­folgt, aus­ge­beu­tet, in Elend, Ver­zweif­lung oder Wahn­sinn getrieben“.
  11. Die­fen­bach iden­ti­fi­zier­te sich in Text und Bild mehr­fach mit dem gekreu­zig­ten „Gott­men­schen aus Naza­reth“. In die­ser alle­go­ri­schen Selbst­sti­li­sie­rung zum chri­stus­glei­chen Mar­ty­rer der Mensch­lich­keit fühl­te sich Die­fen­bach als mes­sia­ni­scher Weg­wei­ser der Mensch­heit zu ihrer „Höher­ent­wick­lung als gott­glei­che Men­schen“, die in die­sem Zustand „inni­ger Lie­be von allen zu allen, erlöst von Krank­heit, Armut und jeg­li­cher Not, sich in wunsch­lo­ser Won­ne selig im Para­die­se füh­len“.

Geistesgeschichtliche Einflüsse auf Diefenbachs Lebensphilosophie

Joseph Beuys: Wir sind die Revolution, 1972
Joseph Beu­ys: Wir sind die Revo­lu­ti­on, 1972

In Die­fen­bachs Mani­fe­sten und pro­gram­ma­ti­schen Schrif­ten sind eini­ge Strö­mun­gen aus der euro­päi­schen Gei­stes­ge­schich­te seit der Auf­klä­rung zu erken­nen. Mehr­fach lässt er durch­blicken, dass er der Prie­ster­be­trugs­theo­rie anhängt, wie sie von Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phen – etwa vom Baron d’Holbach (+1789) – auf­ge­stellt wor­den war. Dem­nach wären reli­giö­se Aus­sa­gen als lüg­ne­ri­sche und betrü­ge­ri­sche Erfin­dun­gen der kirch­li­chen Amts­trä­ger anzusehen.

Wei­ter­hin lässt Die­fen­bachs Rede, dass der Mensch „nicht befleckt mit Erb­sün­de“ aus dem Schoß der Mut­ter Natur her­vor­ge­gan­gen sei, auf die Rous­se­aui­sche Denk­tra­di­ti­on schlie­ßen. Jean-Jac­ques Rous­se­aus (+1779) zen­tra­les Axi­om lau­tet: „Der Mensch ist frei gebo­ren (…), aber er ist durch die Insti­tu­tio­nen unse­rer Zivi­li­sa­ti­on in Ket­ten gelegt.“ „Der Mensch ist von Natur aus gut“, heißt es wei­ter im Zwei­ten Dis­kurs, da die Natur in sich gut sei. Als sich die Mensch­heit gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Regeln gab sowie zivi­li­sa­to­ri­sche Insti­tu­tio­nen, ver­lo­ren die Men­schen nach Rous­se­au ihre para­die­si­sche Natür­lich­keit und natür­li­che Unschuld.

In einer Bekennt­nis­schrift Die­fen­bachs heißt es: „Erkenn Dich selbst! – In DIR ist Gott! … Nur die Erkennt­nis Dei­ner GOETTLICHKEIT befreit Dich von den Ban­den und dem Fluch des Irr­tums.“ Die „Erkennt­nis“, dass ein tran­szen­den­ter Gott nicht exi­stie­re, son­dern das Gött­li­che ein­zig im Men­schen zu sehen sei, war nicht neu im 19. Jahr­hun­dert. Lud­wig Feu­er­bach schrieb um etwa 1840: Dem Men­schen müs­se bewusst wer­den, „dass der ein­zi­ge Gott des Men­schen der Mensch selbst ist. Homo homi­ni deus – das ist der Wen­de­punkt der Geschich­te.“ Und: „Gott ist das offen­ba­re Inne­re, das aus­ge­spro­che­ne Selbst des Men­schen.“ „Der Mensch“ hät­te dem­nach voll­stän­dig die Stel­le Got­tes ein­ge­nom­men. In die­sem Welt­an­schau­ungs­strom beweg­te sich auch Die­fen­bach: An dem Ide­al einer huma­ni­sier­ten Gesell­schaft müss­ten alle ethi­schen und gesell­schaft­li­chen Impe­ra­ti­ve Maß neh­men und sich alle Zukunfts­per­spek­ti­ven legi­ti­mie­ren. Die Erlö­sung der Mensch­heit gesche­he allein in der Dies­sei­tig­keit als ein mensch­li­ches Werk.

Auch Hein­rich Hei­ne (+1856) for­mu­lier­te Gedan­ken einer natür­li­chen Reli­gi­on des Dies­seits. Im Anschluss an Spi­no­zas Pan­the­is­mus – deus sive natu­ra – sah er die Gött­lich­keit in der Welt inhä­rent, aber nicht nur im Men­schen, son­dern in der gesam­ten Natur: „Gott mani­fe­stiert sich in den Pflan­zen, den Tie­ren und am herr­lich­sten im Men­schen. Im Men­schen kommt die Gott­heit zum Selbst­be­wußt­sein. Die gan­ze Mensch­heit ist eine Inkar­na­ti­on Got­tes.“ An einen sol­chen reli­gi­ons­ar­ti­gen Pan­the­is­mus knüpf­te Die­fen­bach an, als er sich in den Jah­ren nach 1880 sei­ne per­sön­li­che Welt­an­schau­ung zusammenreimte.

Die human-athe­isti­sche und natur­gött­li­che Gedan­ken­welt der Auf­klä­rung blieb als Sedi­ment der Gei­stes­ge­schich­te in der ersten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts viru­lent und fruch­te­te in den Köp­fen von Vor­märz-Rebel­len. Zwei von ihnen waren Edu­ard Balt­zer und Carl Scholl, durch die Die­fen­bach stark beein­flusst wur­de, wie oben schon dargelegt.

Mit dem Die­fen­bach-Jün­ger Johan­nes Gutt­zeit sind die Autoren und Gei­stes­strö­mun­gen anzu­spre­chen, die von Die­fen­bach nach sei­nem Erweckungs­er­leb­nis als Bestä­ti­gung sei­ner inne­ren Wand­lung wahr­ge­nom­men wur­den. Gutt­zeit war zwei­mal „Schü­ler“ von Die­fen­bach: ab 1885 und in der Kom­mu­ne Him­mel­hof 1898. Aber schon vor sei­ner ersten Schü­ler­zeit hat­te Gutt­zeit eine Schrift mit dem pro­gram­ma­ti­schen Titel her­aus­ge­bracht: „Von der Kir­che zur Natur“ – ein Wort, das auch gut Die­fen­bachs Wand­lungs­zeit in den Jah­ren um 1880 cha­rak­te­ri­sie­ren kann. 1884 grün­det Gutt­zeit den Pytha­go­rä­er-Bund, der spä­ter Bru­der-Bund hieß, seit 1885 mit dem Organ Der Bru­der. Zeit­schrift des Bun­des für vol­le Mensch­lich­keit. Offen­sicht­lich tra­ten hier mit dem Mensch­lich­keits­traum See­len- und Rich­tungs­ver­wandt­schaf­ten zu Tage sowie gegen­sei­ti­ge Inspirationen.

Die­fen­bach hat sich nach 1882 viel­fach mit der „Theo­so­phie“ der Hele­na Blava­ts­ky (1831–1891) aus­ein­an­der­ge­setzt sowie der dar­auf fußen­den Anthro­po­so­phie Rudolf Stei­ners (1861–1925). Die Got­tes­weis­heit lehr­te die Ein­heit Got­tes in drei Offen­ba­rungs­aspek­ten: das Her­ab­stei­gen des Gei­stes in die Mate­rie, die ver­schie­de­nen Ent­wick­lungs­stu­fen in der Mani­fe­sta­ti­on des Lebens sowie das Wei­ter­le­ben und ‑wan­dern der See­le. Die­fen­bach schrieb in sei­nem Tage­buch, dass er die älte­ren Wer­ke der Theo­so­phie (Jacob Böh­me, Para­cel­sus pp) gele­sen habe wie auch die neue­ren Autoren, etwa den „Haupt-Apo­stel der Deut­schen Theo­so­phi­schen Gesell­schaft, Dr. Hüb­be-Schlei­den“, mit dem er in den 80er Jah­ren auch per­sön­li­chen Kon­takt pfleg­te. Er betont, „dass ich der Theo­so­phie einen rela­ti­ven Wert zur Mensch­heits­ver­ed­lung in einer sol­chen noch wild gäh­ren­den Über­gangs­zeit zu einer höhe­ren Mensch­heits-Stu­fe, als seit­her je exi­stier­te habe, zuschrei­be“. Die­fen­bachs kurz­zei­ti­ge Mit­glied­schaft in der Theo­so­phi­schen Gesell­schaft Roms zeigt sei­ne Ambi­va­lenz zu die­ser Strö­mung, die sich in der Kri­tik an dem „Wahn­sinn der Wie­der­ver­kör­pe­rungs­leh­re“ als Ele­ment einer Tran­szen­den­zer­war­tung fest­mach­te. Noch zwei Wochen vor sei­nem Tode fass­te Die­fen­bach sein inbrün­sti­ges Bekennt­nis zur abso­lu­ten Dies­sei­tig­keit so zusam­men: Er hof­fe auf „eine kom­men­de Gene­ra­ti­on (…) als Bei­trag zur Erlö­sung der Mensch­heit aus dem ent­gött­li­chen­den und ver­elen­den­den Wust des Pseu­do-Chri­sten­tums mit sei­ner Leh­re von einem ‚bes­se­ren Jen­seits‘ nach unse­rem Tode, als aus der, wohl edle­ren, aber fast eben­so von der Erkennt­nis und besten Betä­ti­gung unse­res irdi­schen (ein­zi­gen) Lebens ablen­ken­den theo­so­phi­schen Leh­re einer glück­li­che­ren Wie­der­ge­burt in tau­sen­den von Jah­re. Alle Fra­gen des Lebens müs­sen in die­sem Leben ihre Lösung fin­den kön­nen, sonst wäre die­ses Leben nicht die denk­bar und tat­säch­lich höch­ste Erschei­nung auf der Erde (…) son­dern Unsinn und ein Unding.“

Die abso­lu­te Dies­sei­tig­keit von Die­fen­bachs Natur­re­li­gi­on fin­det sich sehr klar in der dama­li­gen Ideo­lo­gie der Vege­ta­rier­be­we­gung for­mu­liert. Die Schrift­lei­tung der Vege­ta­ri­schen War­te – seit 1908 das Organ des Inter­na­tio­na­len Vege­ta­ri­er-Bun­des – brach­te es auf den Punkt: „Alles Über­na­tür­li­che, Über­sinn­li­che, Jen­seits­ori­en­tier­te des Chri­sten­tums ist abzu­lö­sen durch eine ‚Reli­gi­on des irdi­schen Lebens’. Ihr Ziel ist es, die tra­di­tio­nel­le Hoff­nung auf ein ewi­ges Leben bezie­hungs­wei­se auf eine ewi­ge Selig­keit umzu­for­men in die maxi­ma­le För­de­rung der irdi­schen Glück­se­lig­keit durch ‚Ver­voll­komm­nung und Ver­län­ge­rung des Lebens im Diesseits‘.“

Wer denkt bei die­ser Pas­sa­ge nicht an Fried­rich Nietz­sches Ruf: „Brü­der, bleibt mir der Erde treu“? 1883–85 war Nietz­sches „Zara­thu­stra“ her­aus­ge­kom­men mit sei­ner Bot­schaft vom Über­men­schen nach der Ver­kün­di­gung vom Tode Got­tes. Das war ein Jahr, nach­dem Die­fen­bach in sei­ner Bekennt­nis­schrift „Son­nen-Auf­gang“ geschrie­ben hat­te: „Es ist kein Gott“. Er kom­men­tier­te Nietz­sches Phi­lo­so­phie mit den Wor­ten: „des­sen Satz von der Berech­ti­gung des Aus­le­bens und der Betä­ti­gung der Indi­vi­dua­li­tät (…) ich im rich­ten Ver­stand voll unter­schrei­be und den ich von frü­he­ster Jugend an (…) als Fun­da­men­tal­satz mei­ner Men­scheits­for­de­rung des frei­en hei­li­gen Selbst­be­stim­mungs­rech­tes jedes ver­nünf­ti­gen Men­schen aus­ge­spro­chen habe“. In der Land­kom­mu­ne Him­mel­hof ver­ord­ne­te Die­fen­bach Nietz­sches Zara­thu­stra als Bil­dungs­lek­tü­re, förm­lich als Anlei­tung zur Erschaf­fung des Über­men­schen. Aller­dings lehr­te Die­fen­bach nicht den Wil­len zur Macht und auch nicht einen Wer­te-Nihi­lis­mus „Jen­seits von Gut und Böse“. Er lei­te­te aus der gött­li­chen Natur bestimm­te apo­dik­ti­sche Regeln ab – etwa: Du sollst nicht Tie­re und Men­schen töten! Die­se Regeln soll­ten auch als Weg­wei­sung zur Ver­ed­lung und Erlö­sung der Mensch­heit im Para­dies-Tem­pel der Huma­ni­tas dienen.

Eine wei­te­re Bestä­ti­gung sei­ner Welt­an­schau­ung fand Die­fen­bach in den Wer­ken von Charles Dar­win. Der Künst­ler notier­te 1909 in sei­nem Tage­buch: „Ich las zu wie­der­hol­tem Male in Dar­wins ‚Abstam­mung des Men­schen‘. Wel­che Sum­me von Bewei­sen, daß der Mensch vom Affen abstammt und nur weni­ge sich zu ‚Eben­bil­dern Got­tes‘ zu ver­edeln ver­mö­gen, die von der gro­ßen Her­de gehaßt und unter­drückt wer­den, könn­te ich aus mei­nem Lebens­gang dem Wer­ke Dar­wins, die­sem Fun­da­ment einer neu­en Mensch­heits­epo­che, zufü­gen!“ In einem Brief an den deut­schen Her­aus­ge­ber Dar­wins Wer­ke, Fritz Georg, betont Die­fen­bach noch ein­mal Dar­wins Bedeu­tung für Die­fen­bachs Lebens­werk zwi­schen Kir­chen­hass und Mensch­heits­er­lö­sung, indem „Dar­win den gewal­ti­gen, uner­schüt­ter­li­chen Grund­stein gelegt hat durch sei­ne Leh­re von der Ent­ste­hung des Lebens auf der Erde und der Ent­wick­lung der Men­schen als ‚Kro­ne der Schöp­fung’“. Dar­win habe „nach den gro­ßen Him­mels­for­schern“ mit die­sem Grund­stein zu „dem gro­ßen Erlö­sungs­werk der armen, durch fast 2000jährigen fin­stern Pfaf­fen-Wahn-Trug ihrer ‚Gött­lich­keit’ beraub­ten Men­schen“ bei­getra­gen. Dar­win wird sich im Grab her­um­ge­dreht haben bei die­sem Ansin­nen von der Gött­lich­keit des Menschen.

Einschätzungen zu Diefenbachs Lebensphilosophie

Zusam­men­fas­send kann man sagen, dass Die­fen­bachs Lebens­phi­lo­so­phie ein Kon­glo­me­rat von diver­sen Kul­tur- und Denk­strö­mun­gen sei­ner Zeit war, also eine eklek­ti­zi­sti­sche Denk­schu­le und syn­kre­ti­sti­sche Reli­gi­on des Natür­li­chen. Sein eige­ner Bei­trag war es, die über­nom­me­nen Welt­an­schau­ungs­the­sen in eige­ne Lebens­an­sät­ze trans­for­miert zu haben – teil­wei­se ins Extrem getrie­ben und maß­los über­stei­gert. Das gilt ins­be­son­de­re für sei­ne wahn­haf­te Selbst­über­schät­zung als Jahr­hun­dert-Künst­ler, ulti­ma­ti­ver Lebens­re­for­mer und Menschheitserlöser:

  • Dass er sich auf die Stu­fe sei­ner „näch­sten Gei­stes­ver­wand­ten wie Shel­ley, Schil­ler und Richard Wag­ner“ stell­te, zeigt den Grö­ßen­wahn die­ses mit­tel­mä­ßi­gen Kunstmalers.
  • Auch sein Anspruch, durch Kunst und vege­ta­ri­sche Lebens­re­form die Mensch­heit „vom Kada­ver essen­den Raub­thier­men­schen­tum“ zur „Gott­mensch­lich­keit“ zu füh­ren, zeugt von sei­ner über­spann­ter Maßlosigkeit.
  • Schließ­lich gip­felt Die­fen­bachs eso­te­risch auf­ge­la­de­ner Kunst-Natu­ra­lis­mus dar­in, dass er sich selbst als mes­sia­ni­scher Weg­wei­ser der Mensch­heit zur Erlö­sung von Elend und Not sti­li­sier­te. Bei Wider­stän­den und Angrif­fen auf sei­ne Per­son insze­nier­te er sich als chri­stus­glei­cher Mar­ty­rer der Mensch­lich­keit. Beson­ders in der Kom­mu­ne Him­mel­hof ließ er den Kult um die Anbe­tung sei­nes Geni­us oder Egos zelebrieren.

Der „Wahn“, den Die­fen­bach prak­tisch allen gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen sei­ner Zeit zusprach, war eher bei ihm selbst zu suchen. Die­se Wahn-Pro­jek­ti­on zeig­te sich nicht zuletzt in sei­nem Ver­schwö­rungs-Ver­dacht gegen alle Welt – von Sei­ten sei­ner Geschwi­ster und Frau, Medi­zin und aka­de­mi­schem Kunst­be­trieb, Pres­se und Poli­zei, Kir­che und Für­sten, Justiz und Verwaltung.

Das Scheitern des Propheten

Diefenbach unterm Ehejoch
Die­fen­bach unterm Ehejoch

Die­fen­bachs über­spann­ter und unein­lös­ba­rer Natur­re­li­gi­ons-Ansatz war zugleich die Bedin­gung sei­nes Schei­terns. Der Künst­ler hat­te für einen mes­sia­ni­schen Pro­phe­ten weder das dif­fe­ren­zier­te und aus­ge­reif­te Lehr­ge­bäu­de (wie etwa Rudolf Stei­ner) noch die cha­ris­ma­ti­sche Aus­strah­lung und das orga­ni­sa­to­ri­sche Geschick, eine bedeu­ten­de Jün­ger­schaft um sich zu sam­meln. Nicht ein­mal in sei­ner unmit­tel­ba­ren, fami­liä­ren Umge­bung gelang es ihm, sei­ne Idea­le und Zie­le erfolg­reich zu ver­wirk­li­chen. In sei­nem zen­tra­len Lebens­ex­pe­ri­ment schei­ter­te er, näm­lich sei­ne Kin­der im Rous­se­aui­schen Gei­ste als Natur­men­schen in Licht, Son­ne und Nackt­heit sowie abge­schirmt von den zivi­li­sa­to­ri­schen Ein­flüs­sen an Reli­gi­on und son­sti­gen Sit­ten­re­geln auf­wach­sen zu las­sen. Die­fen­bachs Sohn Heli­os mach­te sei­nem Vater spä­ter Haus und Leben auf Capri „zur Höl­le“. Der päd­ago­gi­sche Miss­erfolg beein­träch­tig­te Die­fen­bach in sei­nem Sen­dungs­be­wusst­sein aller­dings in kei­ner Wei­se, denn auch in die­sem Fall gab er allen ande­ren die Schuld – ins­be­son­de­re sei­nem Schü­ler Paul von Spaun mit des­sen „falsch ver­stan­de­nen Nietzscheanismus“.

Eben­so schei­ter­te Die­fen­bach in sei­nen sozia­len Lebens­re­form­an­sät­zen: In der Kom­mu­ne Him­mel­hof bei Wien woll­te Die­fen­bach ab Herbst 1897 eine Natür­lich­keits-Gemein­schaft fern der „ent­ar­te­ten Gesell­schaft“ auf­bau­en. Auch die­ses rous­se­au­isti­sche Pro­jekt war zum Schei­tern ver­ur­teilt – vor allem wegen des patri­ar­cha­lisch-tota­li­tä­ren Herr­schafts­an­spruchs des „Mei­sters“ über sei­ne stän­dig wech­seln­de Jün­ger­schaft. Schließ­lich führ­ten Die­fen­bachs Bezie­hun­gen zu Frau­en mehr­fach zu Kata­stro­phen. Unter Ableh­nung von Mono­ga­mie und Ehe-Form, aber mit patri­ar­cha­li­schem Anspruch auf Unter­wür­fig­keit und Folg­sam­keit sei­ner Frau­en leb­te er in drei Lebens­pha­sen mit jeweils zwei Frau­en zusam­men. Die­se poly­ga­men Harems-Expe­ri­men­te führ­ten regel­mä­ßig zu see­li­schen Ver­let­zun­gen und phy­si­schen Zusam­men­brü­chen aller Beteiligten.

Karl Wil­helm Die­fen­bach war sicher nicht „voll­kom­men ver­rückt“, wie die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung am 10. Janu­ar 2010 andeu­te­te – wer ist schon voll­kom­men? Denn Die­fen­bachs Welt­an­schau­ung hat­te Kon­tu­ren mit Zie­len und Idea­len, auch wenn sie uto­pi­stisch, extre­mi­stisch waren und nicht immer logisch zusam­men­pass­ten. Dazu noch ein skur­ri­les Bei­spiel: Von einem Gön­ner war ihm ein­mal in Aus­sicht gestellt wor­den, von einem Zoo einen jun­gen Löwen in Pfle­ge zu bekom­men. Dazu über­leg­te Die­fen­bach mit sei­nen Kom­mu­nar­den, wie er den fleisch­fres­sen­den Cha­rak­ter des Raub­tiers mit vega­ner Umge­wöh­nung zu zivi­li­sier­ter Zahm­heit umpo­len könnte.

Karl Wil­helm Die­fen­bach starb am 15. Dezem­ber 1913 nach hef­ti­gem Darm­ka­tarrh, Bauch­fell­ent­zün­dung und star­kem Erbre­chen wahr­schein­lich an Rek­tal­kar­zi­nom. Das Schluss­wort zu Die­fen­bachs geschei­ter­ter Lebens­mis­si­on sprach sein Capri-Bekann­ter Adolf Schaf­heit­lin eini­ge Tage nach des­sen Tod aus: „Ich glau­be, unser Freund ward auch ein Mar­ty­rer sei­ner extre­men Vegetarier-Idee.“

Wenn man Die­fen­bachs Pro­phe­ten-Leben Revue pas­sie­ren lässt, dann muss man an die Aus­stel­lungs­ma­che­rin die Fra­ge stel­len: Die­ser Mann mit mit­tel­mä­ßi­gen Bil­dern und über­stei­ger­tem Selbst­wahn-Bewusst­sein soll der Pro­to­typ eines moder­nen Künst­lers und Pro­phe­ten sein? Soll­te wirk­lich die­se mit Gott und Welt ver­krach­te Exi­stenz, der gezeig­te Hass auf alle gesell­schaft­li­che Insti­tu­tio­nen sowie Die­fen­bachs natu­ra­li­sti­sche Reli­gi­ons­ideo­lo­gie das Signum der moder­nen Zeit sein?

Text: Hubert Hecker
Bild: pri­vat (aus der Frank­fur­ter Ausstellung)

Print Friendly, PDF & Email
Anzei­ge

Hel­fen Sie mit! Sichern Sie die Exi­stenz einer unab­hän­gi­gen, kri­ti­schen katho­li­schen Stim­me, der kei­ne Gel­der aus den Töp­fen der Kir­chen­steu­er-Mil­li­ar­den, irgend­wel­cher Orga­ni­sa­tio­nen, Stif­tun­gen oder von Mil­li­ar­dä­ren zuflie­ßen. Die ein­zi­ge Unter­stüt­zung ist Ihre Spen­de. Des­halb ist die­se Stim­me wirk­lich unabhängig.

Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

Das ist müh­sam, es ver­langt eini­ges ab, aber es ist mit Ihrer Hil­fe möglich.

Unter­stüt­zen Sie uns bit­te. Hel­fen Sie uns bitte.

Vergelt’s Gott!