Ein Gastkommentar von Hubert Hecker
Bischof Heinz-Josef Algermissen hat als Präsident von pax christi Deutschland eine Erklärung zum 70. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands abgegeben. Darin bezeichnet er den 8. Mai 1945 als „Tag der Erlösung.“ Synonym gebraucht er die Wendung „Befreiung Deutschlands von der NS-Schreckensherrschaft“. Der Kontext dieser einleitenden Worte erweitert die Befreiung auf die europäische Staaten und Völker, die unter der Nazi-Herrschaft gelitten hatten. Erwähnt werden besonders Polen und die Sowjetunion.
Die Charakterisierung des 8. Mais 1945 als Tag der Befreiung oder gar der Erlösung ist falsch, jedenfalls in dieser pauschalen Version:
- Die US-amerikanische Siegermacht hatte schon im April 1945 in einer Besatzungsdirektive festgelegt: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“
- Für die Völker und Staaten im Baltikum und Balkan sowie im Ostteil Deutschlands begann 1945 mit der stalinistischen Überwältigung ein Transformationsprozess in Richtung kommunistische Gewaltherrschaften. Dessen Beginn zum Kriegsende könnte man nur im zynischen Sinne eine Befreiung nennen.
- Für die deutsche Bevölkerung in den Provinzen östlich der Oder-Neiße-Linie bedeutete die Zeit vor und nach dem Kriegsende Flucht, Vertreibung und Zwangsdeportationen, auch für deutsche Volksgruppen aus der Tschecho-Slowakei und anderen Balkan-Staaten. Somit war für die etwa 12 Millionen deutschen Heimatvertriebenen der 8. Mai 1945 auch kein Tag der Befreiung.
- Ebensowenig bedeutete die deutsche Kapitulation für die insgesamt zwölf Millionen überlebenden deutschen Soldaten in Gefangenenlagern in Ost und West ein „Tag der Erlösung“.
Dagegen trifft der Terminus „Befreiung“ für die etwa 500.000 überlebende Lagerinsassen zu, die in dem Netz der 1.200 Haupt- und Nebenlager der nationalsozialistischen KZs bei Kriegsende noch festgehalten waren. Auch den Millionen ausländischen Zwangsarbeitern im damaligen Deutschen Reich wurden aus ihren bedrückenden Verhältnissen frei gelassen. Schließlich wurden zum Stichtag 8. Mai die letzten deutschen Kriegsgefangenenlager für alliierte Soldaten aufgelöst.
Die pauschale These vom 8. Mai als Befreiungstag ist für die deutsche Zivilbevölkerung ebenfalls zwiespältig zu sehen. Richard von Weizsäcker hatte in seiner Rede von 1985 behauptet, der 8. Mai 1945 habe „uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Auch in der Erklärung von Bischof Algermissen impliziert das Wort von der „Befreiung Deutschlands von der NS-Schreckensherrschaft“ diese Bedeutung.
Aber die vielfältige NS-Gewalt wurde nicht von einem abstrakten „System“ ausgeführt, sondern auf allen Staats- und Partei-Ebenen von Nazi-Tätern, die ihre Landsleute denunzierten, schikanierten, unterdrückten, ausplünderten, verurteilten, deportierten und ermordeten. Zu den nationalsozialistischen Tätergruppen sind die NS-Parteibuchinhaber (8 Mill.) zu zählen und auch die Mitglieder in den NS-Massenorganisationen (ca. 6 Mill.). Diese Zahl der aktiven Nazis entsprach in etwa der Wählerschaft der NSDAP bei den letzten freien Wahlen 1932. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man bei der Auswertung der amerikanischen Fragebogenaktion 1946, nach der 27 Prozent der erwachsenen Deutschen als NS-belastet eingestuft wurden.
Das deutsche Volk war also unter der NS-Parteiherrschaft tief gespalten zwischen Täter- und Opfergruppen, auch wenn es dazwischen eine mehr oder weniger große Grauzone von „Mitläufern“ gab. Historische Analysen wie auch Zeitzeugenberichte – etwa die Tagebücher von Viktor Klemperer – sprechen aber dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen dem NS-Gewaltsystem nicht zustimmte und erst recht „die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheute“, wie Altkanzler Konrad Adenauer 1953 feststellte. Diese Millionen Deutsche waren den Unterdrückungen und Schikanen der Partei- und Staatsdiktatur der Nazis ausgeliefert. Insofern sind sie auch als Opfer des totalitären NS-Staats anzusehen, für die der 8. Mai tatsächlich die Befreiung vom nationalsozialistischen Joch bedeutete.
Unter der NS-Gewaltherrschaft hatten besonders die (praktizierenden) Katholiken zu leiden. Vor 1933 war ihr Anteil an den NSDAP-Wählern relativ gering gewesen und nach Hitlers Machtergreifung waren Katholiken in Partei und Massenorganisationen weit unterrepräsentiert. Auch die Kirche und insbesondere der Klerus fanden sich als Opfer der vielfältigen Schikane und Unterdrückung des heidnischen NS-Staates wieder. Etwa ein Drittel der katholischen Priester war im Laufe der NS-Herrschaft von Nazi-Behörden bedrückt und bedroht, verhört oder verhaftet worden. Für die meisten Katholiken und die Kirche war daher der 8. Mai ein Tag, der sie aus den Fesseln des nationalsozialistischen Unrechtsstaates befreite. Natürlich konnten auch viele evangelische Christen und Pfarrer den 8. Mai als einen Tag der Befreiung ansehen. Doch die Protestanten waren insgesamt deutlich weniger resistent gegenüber der nazistischen Ideologie. Daher spricht die EKD von einem „Riss zwischen Tätern und Opfern mitten durch die Kirche“.
Resümierend ist die pauschale Bezeichnung ‚Befreiung’ für das Weltkriegsende als eine ideologische Verbrämung der disparaten historischen Wirklichkeit zu sehen. Noch problematischer ist aber der (religiöse) Begriff Erlösung, den Bischof Algermissen in seiner Erklärung mehrmals synonym zu dem Wort Befreiung gebraucht: In der Schlagzeile über dem Text: „Tag der Erlösung“, als Überschrift zu dem Aufruf: „Tag der Erlösung mahnt eine neue Weltfriedensordnung an“ und schließlich im ersten Satz seines Schreibens: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Erlösung.“
Das Wort ‚Erlösung’ hat in unserem christlich geprägten Kulturkreis eine überwiegend religiöse Bedeutung. Für uns Christen sagt der Begriff seit 2000 Jahren das Heilshandeln Gottes an der erbsündlichen Welt aus: In Jesus Christus hat Gott durch Kreuz und Auferstehung unsere Erlösung besiegelt. Er ist der (einzige) Erlöser, der der Menschheit Heil und Frieden bringt, den die Welt nicht geben kann.
Auf diesem theologischen Hintergrund muss es sehr verwundern, dass der Fuldaer Bischof mit dem Wort, das das singuläre Heilshandeln Gottes aussagt, auch die Taten säkularer Mächte benennt. Für nicht-religiöse Menschen mag ‚Erlösung’ so ähnlich klingen wie ‚Befreiung’. Aber wenn ein Bischof dieses Wort gebraucht, dann rückt jedenfalls die religiöse Bedeutung in den Vordergrund. Auffällig ist, dass diese religiöse Überhöhung der ‚Befreiung’ nach der mehrmaligen Erwähnung am Anfang in dem zweiseitigen Schreiben nicht mehr vorkommt. Bei einer Weiterführung des Erlösungsgedankens im Text wäre erst recht die Widersinnigkeit, ja Missbräuchlichkeit der religiösen Wortverkleidung für politische Strategien aufgefallen. Denn wenn der militärische Sieg über Hitlerdeutschland als ‚Erlösung’ hingestellt wird – müssten dann logischerweise nicht auch die alliierten Kriegsführer als Erlöser betrachtet werden? Doch bei dem Gedanken an den blutigen Massenmörder Stalin oder den Bomben-Schlächter Churchill stockt man, sie Befreier zu nennen – und erst recht als Erlöser zu überhöhen. Oder wenn der 8. Mai ein „Tag der Erlösung“ gewesen wäre, dann müsste gefragt werden: Leben wir seit 1945 in einer erlösten Weltordnung, in der nur noch die Hoffnung auf eine totale „Weltfriedensordnung“ aussteht?
Gerade in Abgrenzung zur nationalsozialistischen Herrschaft sollte man die Warnung ernstnehmen, sich vor religiöser Verbrämung von politischen Konstellationen zu hüten. Bekannt ist, dass Hitler sich „von der Vorsehung“ beauftragt sah, Deutschland und die Welt von angeblichen Knechtschaften der Juden, der westlichen Finanzoligarchie und der östlichen Kommunisten zu erlösen. Entsprechend stilisierten die Nazis ihren Führer zu einer messianischen Erlösergestalt hoch, während die gläubigen NS-Anhänger dem Führer ihr „Heil“ zuriefen. Übrigens kennen auch die linken Strömungen Europas seit den sakral-politischen Ritualen unter Robespierres Terrorherrschaft die religiöse Stilisierung von Personen und Aktionen.
Text: Herbert Hecker
Bild: Wikicommons/Pax Christi/scharf links (Screenshot)