(Paris) Jean-François Chemain hatte eine gute Stelle im Management des größten französischen Energiekonzerns. Im Alter von 44 Jahren gab er seine Arbeit auf, um an der Schule eines Problemviertels von Lyon Geschichte zu unterrichten. „Meine Studenten sind praktisch alle Moslems. An der Schule gibt es einen aufdringlichen islamischen Proselytismus. Sie mögen Frankreich nicht und verstehen die Werte dieses Landes nicht. Ich möchte ihnen meine Liebe zu diesem Land vermitteln. Der Staat hilft mir dabei überhaupt nicht.“
Jean-François Chemain ist nicht wie andere Lehrer. Er hat nicht, wie die meisten seiner Lehrerkollegen, vor der fortschreitenden Islamisierung der Schule kapituliert. Chemain berichtet von einer Realität, die offiziell totgeschwiegen wird. Die Regierung sei hilflos. Sie leugne aus ideologischen Gründen, was vor aller Augen liege, und behindere damit noch jene, die nicht kapituliert hätten. Vor allem ist Chemain der Überzeugung, daß die offizielle Auslegung der Staatsdoktrin immer tiefer in die Sackgasse führe.
Um an einer öffentlichen Schule einer Banlieue von Lyon Geschichte zu unterrichten, hat Jean-François Chemain seinen Managerposten beim Energiekonzern Électricité de France (EDF) aufgegeben. Während die sozialistische Regierung in Paris sich orientierungslos die Frage stellt, wie mit dem Phänomen eines radikalen Islams an den Schulen umgegangen werden soll, bietet der Ex-Manager eine Antwort. Das Interview führte Leone Grotti für Tempi.
Professor Chemain, wo unterrichten Sie?
Chemain: In einer Zone d’éducation prioritaire (ZEP), sprich, einem pädagogischen Problemgebiet in der Banlieue von Lyon. Es handelt sich um eine Schule, die aufgrund der besonderen Probleme des Viertels, vor allem ökonomischer und sozialer, über Zusatzmittel verfügt, zusätzliche Lehrerstellen, zusätzliches Schulmaterial …
Welche Probleme begegnen Ihnen vor allem im Schulzimmer?
Chemain: Meine Schüler sind zwischen 11 und 15 Jahre alt. Zum größten Teil handelt es sich um Moslems. In manchen Klassen faktisch alle. Ob der Abstammung nach oder weil sie aus „gemischten“ Ehen stammen. Das stellt vor allem vor drei Probleme.
Welche?
Chemain: Das erste Problem ist ein aufdringlicher islamischer Proselytismus, dessen Zielscheibe auch ich bin, und der die Nicht-Moslems in den Zustand eines ständigen Unbehagens versetzt. Manche bekennen sich zur islamischen Mehrheitsreligion nur, damit sie ein bißchen in Ruhe gelassen werden. So groß ist der Druck, der ausgeübt wird.
Das zweite Problem ist, daß sie sich weigern, sich als „Franzosen“ zu definieren, auch jene, die französische Staatsbürger sind. Denn laut ihrer Gleichung bedeutet „Franzose = Christ“. Im Umkehrschluß bedeutet also „Moslem = Nicht-Franzose“.
Das dritte Problem?
Chemain: Ist eine Protestkultur gegen das gesamte Bildungssystem und die Vermittlung von Werten, die auf ihre islamische Religion und auf Vorurteile aus ihren Herkunftsgemeinschaften zurückgeht. Am Ende einer Schulstunde in Bürgerkunde, bei der die Laizität des Staates behandelt wurde, meinte beispielsweise ein Schüler, daß alles Gesagte schon in Ordnung gehe, aber nichts daran ändere, daß nur eine Religion [der Islam] die Wahrheit besitze. Mit anderen Worten: Alles was unterrichtet wurde, sei letztlich für sie völlig irrelevant. Als ich ihnen entgegenhielt, daß die Republik zum Beispiel das Recht garantiert, die Religion zu wechseln, forderten mich die Schüler sofort auf, zum Islam zu konvertieren. Ich erklärte, daß dies in beide Richtungen zu verstehen sei, und daher auch Moslems ihre Religion wechseln könnten. Eine Feststellung, die nur allgemeines lautes Gelächter in der Klasse auslöste.
Gehörten Ihre Schüler zu jenen, die die Attentäter auf Charlie Hebdo unterstützten?
Chemain: Es ist mir ein Anliegen, festzustellen, daß meine Schüler an jenem Tag sehr respektvoll waren, ohne Zweifel wohl deshalb, weil ich ihnen – ohne das Attentat zu rechtfertigen – gesagt habe, verstehen zu können, daß ein gläubiger Mensch sich durch die vielen Karikaturen, die seine Religion beleidigen, verletzt fühlen kann. Mit einem Schlag beruhigte diese Feststellung die Debatte. Das damals verbreitete Motto „Je suis Charlie“ haben sie aber nicht übernommen. Sie haben die Karikaturen von Charlie Hebdo, eine Zeitung, die sie gar nicht kannten, nur unter dem Blickwinkel „islamophob“ gesehen, obwohl die Christen von dieser Zeitung weit häufiger angegriffen werden als die Moslems. Das haben sie aber gar nicht zur Kenntnis genommen.
Sie haben neben „Kiffe la France“ (Ich liebe Frankreich) noch ein weiteres Buch veröffentlicht: „Une autre histoire de la laï cité“ (Eine andere Geschichte der Laizität). Warum?
Chemain: Für viele in Frankreich ist die Laizität eine Errungenschaft, die Freiheit von der Kirche, die durch den republikanischen Staat erreicht wurde. Die Kirche hätte demnach zu allem zu schweigen, was die Gesellschaft und die Politik betrifft. Der Sieg einer Seite über die andere. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, weil für mich Laizität das genaue Gegenteil ist.
Das wäre?
Chemain: Historisch betrachtet, hatte der Staat immer Tendenzen zur Selbstsakralisierung, besonders im Alten Rom, der Wiege unserer politischen Kultur und unserer Rechtskultur. Die Religion war eng mit der Macht verbunden. Das Staatsoberhaupt vereinte aufgrund seiner politischen Legitimation potestas und imperium, doch nur die Religion konnte ihm die auctoritas verleihen (die göttliche Kraft). Die Christen waren die ersten, die diese Verschränkung in Frage stellten. Sie waren die einzigen, die deshalb vom römischen Staat verfolgt wurden. Als das Römische Reich christlich wurde, bemühte sich der Staat umgehend, die Kirche in das alte Konzept zu integrieren und sich dienstbar zu machen.
Die Kirche hat sich nicht immer darüber beklagt.
Chemain: Ein Teil des Klerus nützte diese Verwirrung, doch es blieb immer eine Spannung zwischen der „christlichen“ politischen Macht und der Kirche, die immer neu bestrebt war, ihre Unabhängigkeit gegenüber der weltlichen Macht zu bewahren. Die Sorge galt immer der auctoritas. Im Gegensatz zu anderen christlichen Konfessionen hat die Kirche letztlich diesen Kampf gewonnen, indem sie die volle Unabhängigkeit gegenüber dem Staat bewahren konnte. Der Staat allerdings hat bis heute nicht darauf verzichtet, seine Macht zu sakralisieren. Daher rührt die Forderung vieler in Frankreich, im Namen der „Laizität“ eine regelrechte „republikanische Religion“ zu schaffen. Eine Forderung, die auch als Maßnahme zur Abwehr gegen einen sich ausbreitenden radikalen Islam gesehen wird. Dennoch wäre es ein Rückschritt.
Was denken Ihre Schüler über die Laizität?
Chemain: Meine Schüler können sie nicht einmal verstehen. Erstens, weil der Islam keinen Begriff für Laizität kennt: Der Islam ist keine Sakralisierung der Macht, sondern eine Politisierung des Religiösen, also die umgekehrte Verwirrung. Zweitens, weil es meines Erachtens nicht möglich ist, falsche Ideen zu lehren. Genau das aber geschieht, wenn man gezwungen ist, die offizielle Version der Laizität zu vermitteln. Das könnte nur in einem autoritären Rahmen gelingen: „So ist es und nicht anders, gehorcht!“ Einer Ideologie muß man nicht glauben. Es genügt, daß sie gesagt wird. Das Problem ist, daß selbst eine solche Haltung in einer Gesellschaft nicht funktionieren würde, die jede Autorität getötet hat. Um einen richtigen und wahrhaften Diskurs wiederzufinden, habe ich mein Buch über die Laizität geschrieben.
Warum lieben die jungen Moslems der Banlieue Frankreich nicht?
Chemain: Meine Schüler lieben Frankreich nicht, weil es nicht ihr Ursprungsland ist. Kaum etwas bindet sie daran und viele sind voller Ressentiments ihrer Gemeinschaften gegen den Kolonialismus, die Sklaverei, den sogenannten Rassismus der Franzosen. Man muß hinzufügen, daß unser Nationalsport die Reue ist: Es gibt keine Übel der Welt, für die wir nicht verantwortlich sein sollen … Unter diesen Bedingungen ist es schwer, daß man geliebt wird! Deshalb versuche ich, wie ein Heckenschütze, einige Schüler voranzubringen, denn im Grunde haben sie ja auch das Bedürfnis zu lieben. Simone Weil schrieb: „Man muß der Jugend etwas geben, das sie lieben können. Und dieses etwas ist Frankreich.“ Diese Jugendlichen, davon bin ich überzeugt, haben den Wunsch zu lieben und sind frustriert von der Tatsache, daß dieses Land aus falschem Stolz meint, das nicht notwendig zu haben. Ich weiß aus Erfahrung, daß das Vertrauensverhältnis, das ich aufbauen konnte, es mir ermöglicht, sehr viel sagen zu können. Deshalb bedauere ich es, daß– da Funktionär des Staates – der Staat nicht von mir verlangt, diesen Kredit zu nützen, um mein Land lieben zu machen.
Wie meinen Sie das?
Chemain: Die Studenten brauchen es, von einem Erwachsenen geschätzt zu werden. Die einfache Tatsache, in ihnen eine Qualität zu entdecken und es ihnen auch zu sagen, verändert sie. Leider ist das französische Schulsystem sehr normlastig, weshalb Qualitäten, die man bei Schülern entdeckt, kaum gefördert werden können. Ich denke an einen meiner besonders schwierigen Schüler, der sich allein deshalb geändert hat, weil ich erwähnte, daß er ein großes komödiantisches Talent hat, das er häufig zu meinem Leidwesen einsetzte.
Es genügt also nicht die „Charta der Laizität“ der Regierung zu lesen?
Chemain: Das sind magische Formeln. Als würde ein am Schultor angeschlagener Text irgend etwas in den Tiefen der Mentalität dieser jungen Menschen ändern können, die davon überzeugt sind, recht zu haben und die in Gemeinschaften leben, in denen sie am Nachmittag alles dekonstruieren, was wir ihnen am Vormittag versucht haben beizubringen. Es genügt an das Beispiel nach dem Bürgerkundeunterricht zu erinnern, das ich vorhin genannt habe. Es muß auch gesagt werden, daß die Lehrer zu vorsichtig sind in der Absicht, ja nie etwas zu sagen, was ein moslemisches Ohr verletzten könnte, weil jedes falsch verstandene Wort als „islamophob“ angegriffen werden könnte und das Risiko real ist, von den vorgesetzten Stellen im Stich gelassen zu werden. Aus diesem Grund unterwerfen sich die meisten Lehrer präventiv einer ständigen Selbstzensur, die letztlich einer Kapitulation gleichkommt.
Wenn die Laizität nicht funktioniert, worauf soll dann die Integration beruhen?
Chemain: Für mich heißt Integration völlige, vorbehaltlose Zustimmung zu den nationalen Werten, die in Frankreich, ob man es will oder nicht, christlich sind. Die Zuwanderung aus christlichen Staaten ist deshalb weniger problematisch, sofern das Erbe des Kulturkreises der Herkunftsländer nicht belastend wirkt. Die Anwesenheit von immer mehr Menschen in unserem Land, die in anderen Kulturen aufgewachsen sind, stellt eine enorme Herausforderung dar, wenn diese Kulturen durch andere Wertvorstellungen geprägt sind, als jene des Evangeliums. In der Schule kann ich feststellen, was für grundlegende Unterschiede zu zahlreichen Punkten bestehen. Einige dieser Menschen, von denen ich viele kenne, werden Christen. Es sind aber nur wenige. Die übrigen liegen auf der Lauer und versuchen zu begreifen, ob wir sie integrieren können, was ich hoffe, oder ob sie uns integrieren können, was ich leider beobachte. Der Islam übernimmt in ganzen Gegenden die Kontrolle und die Nicht-Moslems, ob europäische Franzosen oder nicht-moslemische Einwanderer, müssen sich beugen. Und viele beugen sich. Am Tag des Attentats auf Charlie Hebdo haben mir zwei Schüler europäischer Abstammung (wenn nicht ursprünglich sogar „Christen“) gesagt, daß das „richtig“ war, weil „man den Propheten nicht beleidigt“.
Sie sind heute 54 Jahre alt, haben aber nicht immer unterrichtet. Warum tun Sie sich das an?
Chemain: Ich habe meine Arbeit als Manager mit 44 Jahren aufgegeben, weil mir mein politisches und religiöses Gewissen sagte, daß mein wirklicher Kampf nicht dort stattzufinden hatte. Anfangs wußte ich nur, daß ich die jungen Menschen in Geschichte unterrichten wollte, dann wurden die Problemzonen ZEP meine Herausforderung: Ich wollte den Jugendlichen dieser Viertel meine Liebe zu Frankreich weitergeben.
In einem Interview für das französische Radio haben Sie gesagt: „Ich hatte im Alter von 30 Jahren auch eine sehr starke Bekehrungserfahrung“. Möchten Sie uns etwas darüber erzählen?
Chemain: Ich wurde katholisch erzogen, doch dann kam die Krise der 70er Jahre für die Kirche und ich habe auch gegen sie rebelliert. Ich habe keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt und an keiner Messe mehr teilgenommen. Eines Tages verbrachte ich ein Wochenende im Haus von Freunden, die noch regelmäßig den Glauben praktizierten. Ich fühlte mich irgendwie verpflichtet, sie zur Messe zu begleiten. Es war in Avignon, eine jener modernen und häßlichen Vorstadtkirchen, die von einer neuen Gemeinschaft betreut wurde, die mir ziemlich folkloristisch erschien. Man konnte ein Gebetsanliegen auf einen Zettel schreiben und die Gemeinschaft legte die Zettel dann vor das Allerheiligste Altarsakrament. Mich nervte die Sache und so schrieb ich in herausforderndem Ton an Gott auf den Zettel: „Wenn es Dich gibt, dann zeig Dich!“ Am Mittwochmorgen als ich aufwachte, glaubte ich. Es war mit einem Schlag als hätten sich meine Augen geöffnet. Plötzlich war alles ganz klar für mich und ich erkannte Seine Gegenwart überall in meinem Leben. Es ist nicht leicht, das zu erklären, aber Jesus lebte plötzlich in mir und seit 20 Jahren hat er mich nicht mehr verlassen. Bis zum heutigen Tag wirkt er zahlreiche Wunder für mich.
Zusammen mit dem traditionsverbundenen Bischof von Frejus-Toulon, Msgr. Dominique Rey, veröffentlichte Jean-François Chemain 2010 das Buch: „La vocation chrétienne de la France“.
Text: Giuseppe Nardi
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