(München) Erzbischof Reinhard Kardinal Marx von München-Freising gab der März-Ausgabe der französischen Jesuitenzeitschrift Etudes ein Interview. Darin spricht er davon, daß die Kirche „Erneuerung“ und „nicht Restauration“ brauche. Zur Bischofssynode sprach der Kardinal von einer „offenen Synode“ über die Familie, denn „das Lehramt kann sich weiterentwickeln“.
„Wir brauchen nicht religiöse Unternehmer, sondern Zeugen und Zeuginnen“, so der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und Mitglied des C9-Kardinalsrats zur Beratung von Papst Franziskus. Der italienische Übersetzer des Interviews für Vatican Insider, der mit dem deutschen Gender-Sprech nichts anzufangen wußte, übersetzte die Stelle mit „Zeugen und Zeugnissen“.
„Ein wichtiger Schritt, um Menschen zu erreichen, ist der Schritt zur Selbst-Evangelisierung“, meinte der mächtigste deutsche Kirchenfürst dialektisch. Der Vorsitzende der Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen COMECE sagte zudem: „Wir selber müssen als Kirche immer wieder neu das Evangelium lesen und lernen, danach zu leben.“
„Mit dem Begriff ‚Neuevangelisierung‘ habe ich meine Probleme“
Der Begriff „Neuevangelisierung“ sei ein Konzept, so der Kardinal, das ihm „Probleme“ bereitet. „Ich gebe zu, dass ich mit dem Begriff der ‚neuen Evangelisierung‘ meine Probleme habe. Er könnte verwechselt werden mit dem Modell einer geistlichen ‚Reconquista‘, als gehe es darum, verlorenes Terrain wiederzuerobern. Aber es geht nicht um Restauration oder Wiederholung von dem, was einmal war, sondern um einen neuen Aufbruch, um einen neuen Ansatz, in einer neuen Situation. Und es geht auch nicht nur einfach um ein Vermittlungsproblem. Das würde bedeuten: Wenn wir mehr Personen und mehr finanzielle Mittel hätten und mehr Medienpräsenz, könnten wir das Ziel erreichen. Ich kann den Begriff aber sehr gut akzeptieren, wenn er unterstreichen soll, dass wir, aber nicht nur in Europa, sondern insgesamt, in einer neuen Situation für den Glauben sind und wir darauf mit erneuertem Denken antworten müssen. Eigentlich ist das wirklich ein Prozess, der durch die ganze Kirchengeschichte hindurch geht. Das Evangelium ist immer wieder neu, Ecclesia semper iuvenescens, die Kirche ist immer wieder jung, so haben es schon die Kirchenväter gesagt.
Denn bei „vielen Konzepten und Diskussionen über neue Evangelisierung habe ich den Eindruck, dass viele denken: Die große Geschichte des Christentums liegt hinter uns, und vor uns liegt eine unsichere und eher angstmachende Zukunft. So kann man jedenfalls nicht evangelisieren“, so der Kardinal.
Die Kirche könne vom Evangelium „her in allen Bereichen des menschlichen Wirkens, Denkens und Handelns Bereicherungen einbringen, Weiterführungen, Fragen, Denkanstöße. Die Kulturschaffenden, die Politiker, die Philosophen und die Künstler sind offen für Gespräche und Begegnungen. Das erfahre ich immer wieder. Aber in unserem Reden, Handeln, auch in unserer Liturgie, im öffentlichen Auftreten, in der konkreten Seelsorge vor Ort muss das auch durch die Qualität unserer Arbeit sichtbar werden. Ich denke in diesem Zusammenhang oft an den Begriff der „Renaissance“. Ja, ich glaube an eine Renaissance des christlichen Glaubens, aber es wird ein langer Weg der tiefen geistlichen und geistigen Erneuerung sein“, so Münchens Erzbischof Marx.
Synode: „Im Bereich Ehe und Familie entscheiden sich die Zukunftsperspektiven der Kirche“
Zur Bischofssynode über die Familie meinte der Kardinal: „Es wurden natürlich große Erwartungen geweckt und auf der anderen Seite Befürchtungen wachgerufen. All das hat sich auch während der Diskussion in der Synodenaula und in den Arbeitsgruppen gezeigt. Der Heilige Vater hat in seiner Schlussansprache noch einmal deutlich gemacht, wie sehr er auch gerade die offene Debatte geschätzt hat und wünscht. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Denn besonders im Bereich von Ehe und Familie entscheiden sich die Zukunftsperspektiven der Kirche. Also: Für eine Bilanz ist es zu früh. Nach der Synode ist vor der Synode!“
Der Papst, so Marx, „garantiert die Einheit mit der Tradition und die Einheit der Kirche untereinander. Aber gerade deshalb ist es notwendig, offen miteinander in geistlicher Weise zu streiten über den zukünftigen Weg der Kirche in diesen existenziellen Fragen, die ja fast alle Menschen und alle Gläubigen berühren.“ „Natürlich muss man darauf achten, dass daraus kein politisch-taktischer Prozess wird. Ich weiß nicht, ob wir das immer vermieden haben. Es braucht eine grundsätzliche Offenheit und ein wirkliches Vertrauen, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Es darf ja am Ende eines synodalen Weges keine Sieger und Besiegte geben, sondern alle müssen miteinander versuchen, auch vom Anderen her zu denken und neue gemeinsame Schritte in die Zukunft zu gehen“, so Kardinal Marx.
„Lehre der Kirche muß sich weiterentwickeln“
Inhaltlich sagte der DBK-Vorsitzende zur Familiensynode: „Auch in der Lehre muss sich die Kirche ja weiterentwickeln, ohne Positionen aufzugeben, aber durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch ist das Dogma weiter entfaltet und vertieft worden. Das gilt auch im Blick auf Ehe und Familie. Es gibt also keinen Endpunkt der Suche nach der Wahrheit.“
Die „offene Gesellschaft“ sei unter diesem Blickwinkel „doch auch vom Evangelium her ein Fortschritt. Die Frage ist also nicht, ob eine Mehrheit in allem unserer Meinung ist, sondern ob wir mit unserer Lebensweise und unserem Denken auch einer pluralen Gesellschaft noch etwas zu sagen haben und viele gewinnen können, dem Weg des Evangeliums zu folgen in der Gemeinschaft der sichtbaren Kirche“, so Kardinal Reinhard Marx zu Etudes.
Die vollständige deutsche Übersetzung des Interviews wurde von der deutschen Jesuitenzeitschrift Stimmen der Zeit veröffentlicht.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL