(Rom) Europa steckt in einer tiefen Krise. Die Menschen spüren es und blicken verunsichert in die Zukunft. Auf vielfältige Weise wird versucht, dieses Gefühl zu unterdrücken oder zu übertünchen. Dazu gehört auch die frenetische Ausgelassenheit in der Zelebration des Augenblicks. Auch die geförderte Umsetzung des altrömischen Mottos panem et circenses kann nicht über die Krise hinwegtäuschen. Wird Europa erwachen? Wird die europäische Kultur überleben oder wird sie unwiederbringlich zusammen mit ihren Völkern untergehen? Kluge und wirklich freie Köpfe, die nicht im Sold irgendwelcher Zweckoptimisten stehen, stellen sich dieser Frage. Dazu gehört auch der katholische Historiker Roberto de Mattei. Am 13. März 2008 hielt er an der Europäischen Universität Rom auf der Tagung „Identitätskrise: Wird die europäische Kultur überleben?“ eine Rede, wie wir aufgrund ihrer ungebrochenen Aktualität in deutscher Übersetzung veröffentlichen. Die Zwischentitel stammen von der Redaktion.
.
Identitätskrise: Wird die europäische Kultur überleben?
von Roberto de Mattei
Ich möchte von einem Hinweis ausgehen, den wir als sicher annehmen können. Ein Teil des Islams betrachtet heute den Westen als Feind und sucht den Zusammenprall mit ihm. Hier ist nicht der Ort, um zu klären, ob dieser Teil des Islams Mehrheits- oder Minderheitsmeinung ist, ob diese Haltung direkt vom Koran abzuleiten ist oder ob sie einen Verrat an dessen Grundsätzen darstellt, und ebensowenig ob die größere Gefahr vom fundamentalistischen Islam oder vom sogenannten gemäßigten Islam ausgeht. Sicher ist, daß der Islam oder ein Teil von ihm, Europa vor ein Problem stellt. Es ist nicht das erste Mal, daß dies in der europäischen Geschichte der Fall ist. Es ist aber das erste Mal, daß Europa angesichts der Herausforderung durch den Islam nicht seine religiöse und kulturelle Identität bezeugt. Das ist der Kern des Problems.
Stockholm-Syndrom: Das psychologische und moralische Drama Europas
Europa erlebt ein psychologisches und moralisches Drama, das als „Stockholm-Syndrom“ definiert wurde, jenes Phänomen psychologischer Unterwerfung gegenüber dem Aggressor, die ein schwer verständliches Abhängigkeitsverhältnis des Opfers zum Täter schafft. Heute müßte man besser von Kopenhagen-Syndrom, London-Syndrom, Madrid-Syndrom oder auch Rom-Syndrom sprechen, um die psychologische Haltung gegenüber dem Gegner zu benennen, von dem man eingeschüchtert, manchmal geradezu terrorisiert ist, aber gleichzeitig ebenso angezogen, manchmal geradezu fasziniert ist. Anders läßt sich die Entstehung und Verbreitung von Mythen, wie jenen von Louis Massignon (1883–1962), Edward Said (1935–2003) und Franco Cardini (1940) nicht erklären, die ein Jahrtausend der Konflikte zwischen Europa und dem Islam aus dem Gedächtnis auslöschen möchten im Namen angeblicher Erfahrungen, die zu Idealmodellen stilisiert werden. Dazu gehören der Oriens felix, die arabisch-andalusische Gesellschaft vor der Reconquista oder die sizilianische Gesellschaft zur Zeit Friedrichs II., um von philosophischen Träumereien wie der progressiven Utopie eines universalen Friedens oder des esoterischen Mythos einer transzendentalen Einheit der Religionen erst gar nicht zu reden. Einige dieser Mythen wurden von Bat Ye’or in Eurabia. The Euro-Arab Axis (2005) und von Alexandre del Valle in Le Totalitarisme islamiste à l’assaut des démocraties (2002) dargestellt.
In dieser Perspektive löst sich nicht nur die Idee vom Feind des Westens auf, sondern es lösen sich auch die Vorstellungen von Okzident, Abendland und Europa selbst auf, die nur mehr als literarische Erfindung gesehen werden, so wie die Theoretiker von „Gender“ die natürliche Unterscheidung zwischen Mann und Frau als bloßes kulturelles Konstrukt betrachten.
Gestern der Kommunismus, heute der Islam – Fünfte Kolonne und nützliche Idioten
Die Haltung der Europäer gegenüber dem Islam erinnert an die Haltung, die der Westen im 20. Jahrhundert gegenüber dem Kommunismus einnahm. Die Sowjetunion bedrohte die Welt, doch der Antikommunismus wurde als größere Sünde betrachtet als der Kommunismus. Der Zeithistoriker kann nicht über die Verantwortung der fünften Kolonnen im Dienst des Feindes und über die „nützlichen Idioten“ schweigen, über Bürgerliche, Politiker, auch Kirchenvertreter, die statt den Kommunismus zu kritisieren, die Verleumdungskampagnen gegen die Antikommunisten unterstützten und dies im Namen von talismanartigen Zauberworten taten, die sich nicht von den heutigen unterscheiden, wie Frieden, Dialog, friedliche Koexistenz. Kurzum, die Illusion, sich mit dem Feind schon arrangieren zu können, indem man ihn einfach aus dem eigenen Bewußtsein verdrängt. Ein Phänomen über das Plinio Corràªa de Oliveira in Baldeaçà£o Ideológica Inadvertida e Diálogo (1965, deutsche Ausgabe Unbemerkte ideologische Umwandlung und Dialog, 1967) geschrieben hat.
Ideologische Wurzel: moralischer Relativismus und politischer Pragmatismus
Was ist die ideologische Wurzel dieser Haltung, die sich heute gegenüber dem Islam wiederholt? Die Idee, daß es weder einen logischen Dualismus zwischen Wahrheit und Irrtum noch einen moralischen Dualismus zwischen Gut und Böse gibt, sondern daß alles relativ sei im Verhältnis zu den gerade aktuellen Bedürfnissen und Interessen des Individuums. Moralischer Relativismus und politischer Pragmatismus sind zwei Seiten dieser Herangehensweise an die Realität, die sich nicht aus Realismus, sondern Utopismus speist, da sie eine fiktive und irreale Welt postuliert, die der schwache Machtwille des postmodernen Individuums unfähig ist, zu erobern.
Wenn Europa überleben will, muß es diese psychologische und kulturelle Haltung ändern. Wie aber kann man zu dieser Änderung beitragen? Angefangen durch die Wiederbelebung der Idee, daß es Gut und Böse im objektiven und absoluten Sinn gibt, und daß die Wahrheit und die Grundsätze auf denen sich unsere Kultur gründet, keineswegs als Ideen der Vergangenheit oder ideologische Vorurteile zu archivieren sind.
Grundlage der Menschenrechte nicht Subjektivität, sondern objektives Naturgesetz
Die Grundlage der Rechte und Pflichten des Menschen ist nicht die Subjektivität. In unserem Bewußtsein ist ein objektives Naturgesetz vorhanden, das das göttliche Gesetz widerspiegelt. Deses Gesetz hat seinen historischen, aber definitiven Ausdruck in den von Moses durch göttliche Eingebung geschriebenen Gesetzestafeln gefunden. Die Zehn Gebote sind das Naturgesetz, das jeder von uns, ob Laizist oder Christ, in sich trägt wie ein Kompaß, der uns hilft, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
Der Dekalog richtet sich an alle Menschen zu allen Zeiten und allen Bedingungen mit demselben normativen Wert. Dieser Wert rührt nicht nur von den Gesetzestafeln her, sondern auch von der menschlichen Vernunft, weil Gott noch bevor er sie als positives Gesetz in Stein meißeln ließ, sie bereits in das Herz des Menschen gelegt hat (Heiliger Thomas von Aquin: Contra Gentes, II, c. 117; Summa teologica, q. 100, a.3).Der heilige Augustinus sagt: „Es wurde auf den Tafeln (des Gesetzes) geschrieben, was die Menschen nicht mehr in ihren Herzen lasen; nicht daß sie es dort nicht mehr geschrieben hatten, doch sie wollten nicht lesen“ („Non enim scriptum non habebant, sed legere nolebant“, Enarratio in Psalmos, LVII, 1: PL, 36, 673). Auch heute wollen die Menschen nicht lesen, was mit unauslöschlichen Buchstaben in ihr Herz geschrieben steht, um stattdessen der Utopie einer schrankenlosen Welt ohne Konflikte, ohne Feinde und außerhalb jeder Realität und Geschichte nachzulaufen.
Kollaboration mit Islam durch pessimistische Weltsicht
Dennoch gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Haltung, die der Westen im 20. Jahrhundert gegenüber dem Kommunismus hatte und der, die er heute gegenüber dem Islam hat. Die Kollaboration des vorigen Jahrhunderts gründete auf einem optimistischen Geschichtsverständnis, das im Mythos eines unumkehrbaren Fortschritts der Menschheit wurzelte. Die Kollaboration des 21. Jahrhunderts geht hingegen aus einer pessimistischen Weltsicht hervor, die sich aus einem tiefen Gefühl der Angst und der Unsicherheit speist. Der Mensch des 20. Jahrhunderts machte sich etwas über die Zukunft vor. Der heutige Mensch hat Angst vor der Zukunft. Er hat Angst vor sich selbst und bekämpft die eigenen Ängste, indem er seine Feinde aus seinem Denkhorizont zu streichen versucht, so als würde deren Nichtnennung ihrem Verschwinden aus der Realität gleichkommen. So als würde die Weigerung, von einem Konflikt der Kulturen zu sprechen, genügen, um diese Gefahr abzuwenden. Die ideologische Quelle dieses psychologischen Prozesses ist damals wie heute der Relativismus und der dialektische Evolutionismus, die jede Wahrheit und jeden Wert auflösen.
Wertegewißheit bedeutet Zukunftshoffnung
Wenn es eine Sicherheit der Werte gibt, gibt es auch Hoffnung für die Zukunft. Wertegewißheit und Zukunftshoffnung gehen Hand in Hand. Die Hoffnung ist eine natürliche Tugend, die in der Erwartung eines künftigen Guten besteht. Für einen Christen ist es auch eine übernatürliche Tugend, doch diese Tugend setzt das Bewußtsein und die Beachtung des natürlichen und göttlichen Gesetzes voraus, jenes mosaischen Gesetzes, das nicht nur den Juden und den Christen gehört, sondern in jedes Menschenherz eingeschrieben ist. Nicht von ungefähr hat Benedikt XVI. seine Enzyklika Spe Salvi der Hoffnung gewidmet.
Die christliche Hoffnung in Jesus Christus, dem Gott der auferweckt und erlöst, ist auch die Hoffnung und mehr noch das Vertrauen in das Erwachen und ein Wiederaufblühen Europas. Europa erlebt einen tiefen Schlaf, eine Lethargie, vielleicht eine provozierte Anästhesie, doch der Schlaf ist nicht der Tod. Der Schlaf hat ein Ende, er geht dem Erwachen voraus. Wir glauben an ein Erwachen Europas. Deshalb antworte ich auf die Frage, ob die europäische Kultur überleben wird, mit einem überzeugten Ja.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana