Kaum mehr als 50 Jahre nach seinem Tod wurde Papst Johannes XXIII. (1958–1963) heiliggesprochen.
Von Angelo Giuseppe Roncalli konstruierte man ein geradezu mythisches Bild, so als hätte er den Anfang einer neuen Kirche repräsentiert, die authentischer und evangelischer sei.
Die Gestalt von Johannes XXIII. wurde, dank der fleißigen Arbeit ultraprogressiver „katholischer“ Historiker wie Alberto Melloni von der „Schule von Bologna“ zum Symbol eines revolutionären Papsttums im Widerspruch zu vielen Jahrhunderten der Tradition. Aus demselben Grund wird der Papst aus den Bergen von Bergamo von Nicht-Progressiven häufig abgelehnt. Durch das überschwengliche Lob der Anderen wird ihnen der Papst selbst verdächtig und aufgrund seiner Einberufung des Konzils werden ihm auch dessen Ergebnisse und Folgen angelastet.
Einige Hinweise zur Vervollständigung des Bildes von Johannes XXIII.
Ohne auf die Frage der Heiligsprechung, die nun schon erfolgt ist, deren Art und Weise und ihre Berechtigung einzugehen, sollen zumindest einige unterschlagene Aspekte Roncallis Erwähnung finden, um zumindest ein etwas vollständigeres Bild des neuen Heiligen zu erhalten.
Ohne Zweifel hat Johannes XXIII. eine neue Art eingeleitet, das Papsttum zu leben und wahrzunehmen. Ebensowenig können die Öffnungen und sein Reformeifer sowohl im Stil als auch in der Sprache, aber auch in seiner Haltung gegenüber den großen Fragen der Kirche geleugnet werden.
Naivität und Romantizismus Roncallis haben der Kirche nicht gutgetan
In vollem Respekt für die Verehrung eines heiligen Papstes gilt es anzumerken, daß die viele Naivität und der viele Romantizismus von Roncalli (wenn man es so bezeichnen will) der Kirche nicht gutgetan haben.
Sein Zukunftsoptimismus, das von ihm eingeleitete neue Klima des Dialogs, die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils, seine Vorliebe für die „Medizin der Barmherzigkeit“ haben nicht die erhofften Ergebnisse gebracht.
„Segnungen“ des Konzils nicht auffindbar
Die vielbeschworenen und gerühmten „Segnungen“ des Zweiten Vatikanischen Konzils konnten noch nicht gefunden werden. Trotz meines beständigen Nachfragens, konnte ich jedenfalls noch niemanden finden, der sie gefunden hat. Ich bin für jeden Hinweis dankbar, auf jemanden, der behauptet, sie gefunden zu haben. Die Antworten verlieren sich schnell in einem wenig greifbaren Wortschwall angeblich „notwendiger Veränderungen“ und enden, in die Enge getrieben, in der wenig seriösen, weil nicht verifizierbaren Behauptung, daß „ohne das Konzil alles nur noch viel schlimmer gekommen wäre“.
Dennoch scheint das nicht den Absichten Johannes XXIII. entsprochen zu haben. Abgesehen von diskutablen „Öffnungen“, einschließlich einer wenig durchdachten Konzilseinberufung gibt es ernstzunehmende Stimmen, die sein übriges Pontifikat als Ausdruck einer gesunden Erneuerung im guten Sinn des Wortes klassifizieren.
Johannes XXIII. zwischen Absicht und Verklärung
Die Kirche ist kein versteinertes Fossil und kann zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz regungslos stehenbleiben. Die Luft anzuhalten führt bekanntlich nach einiger Zeit zum sicheren Tod. Die Frage liegt in der Art, wie die Kirche sich immer erneuert. Die Richtschnur lautet, daß jede Erneuerung nur eine Vertiefung sein kann, ein noch besseres und klareres Sichtbarwerden der ihr anvertrauten Glaubenswahrheit.
Johannes XXIII. billigte Dokumente und setzte Zeichen, die Melloni und ultraprogressive Zeitgenossen um jeden Preis verstecken wollen und das gemeine Volk längst mit Hilfe tendenziöser Papstinterpreten aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt hat.
Dazu gehört, daß der „gutmütige Papst“, wie aus seinen persönlichen Aufzeichnungen hervorgeht, für seinen unmittelbaren Vorgänger Pius XII., Zeit seines Lebens besondere Wertschätzung und Verbundenheit empfand. Papst Pius XII. ist der in den Konzilsdokumenten am häufigsten zitierte Papst. Das will etwas bedeuten. In den neueren Dokumenten wird kaum mehr eine Quelle vor dem Konzil genannt.
Verehrung Johannes XXIII. für Pius IX., den er seligsprechen wollte
Noch bemerkenswerter ist die regelrechte Verehrung, die Johannes XXIII. für Pius IX., den letzten wirklichen Papstkönig hegte. Pius IX. ist das von allen Ultraprogressiven verhaßte Symbol des antiliberalen Kampfes und der Verteidigung auch einer weltlichen Macht der Kirche. Johannes XXIII. hoffte, am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils die feierliche Seligsprechung von Pius IX. zelebrieren zu können. Ohnehin dachte er, daß das Konzil nur wenige Monate dauern würde. Es wäre lohnenswert, die sieben von ihm gebilligten Schemata für die Konzilsdokumente in deutscher Sprache zu veröffentlichen, die dann von einer organisierten und gerissenen, aktiven Konzilsminderheit, die das Heft des Handelns an sich riß, verworfen wurden.
Eröffnungsansprache Gaudet Mater Ecclesia
In der Allokution Gaudet Mater Ecclesia, der Eröffnungsansprache, mit der Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 die Konzilsarbeiten eröffnete, sind eine Reihe diskutabler Punkte enthalten, wie der Angriff auf die sogenannten „Unglückspropheten“ und die Aussage, man solle das „Heilmittel der Barmherzigkeit“ verwenden. Angesichts der heutigen Lage in der Kirche kann man getrost von einem kolossalen Reinfall sprechen, den Johannes XXIII. der Kirche empfahl. Er sagte aber auch, daß das „21. Ökumenische Konzil […] die katholische Lehre rein, unvermindert und ohne Entstellung überliefern (will).“ Ebenso sprach er davon, daß die katholische Lehre „ein gemeinsames Erbe der Menschheit“ ist. „Dieses Erbe ist nicht allen genehm, aber es wird allen, die guten Willens sind, als ein überreicher und kostbarer Schatz angeboten.“
„Doch es ist nicht unsere Aufgabe, diesen kostbaren Schatz nur zu bewahren, als ob wir uns einzig und allein für das interessieren, was alt ist, sondern wir wollen jetzt freudig und furchtlos an das Werk gehen, das unsere Zeit erfordert, und den Weg fortsetzen, den die Kirche seit zwanzig Jahrhunderten zurückgelegt hat.“ Und weiter: „Es muß, was alle ernsthaften Bekenner des christlichen, katholischen und apostolischen Glaubens leidenschaftlich erwarten, diese Lehre in ihrer ganzen Fülle und Tiefe erkannt werden, um die Herzen vollkommener zu entflammen und zu durchdringen. Ja, diese sichere und beständige Lehre, der gläubig zu gehorchen ist, muß so erforscht und ausgelegt werden, wie unsere Zeit es verlangt. Denn etwas anderes ist das Depositum Fidei oder die Wahrheiten, die in der zu verehrenden Lehre enthalten sind, und etwas anderes ist die Art und Weise, wie sie verkündet werden, freilich im gleichen Sinn und derselben Bedeutung.“
Missale des Alten Ritus (editio typica 1962) von Johannes XXIII.
Johannes XXIII. ist der Papst, der vor dem Konzil die letzte Fassung des Missale nach dem heiligen Papst Pius V. approbierte. Nach dieser Fassung aus dem 1962 zelebrieren die katholischen Gemeinschaften der Tradition, einschließlich der Piusbruderschaft.
Man kann und man muß über die Gültigkeit und die Brauchbarkeit der neuen pastoralen Strategie diskutieren, die von Papst Roncalli angestoßen, seither in der Kirche angewandt wird, denn die Ergebnisse sind äußerst mager und häufig sogar verheerend. Dennoch: Papst Johannes hatte keine Absicht, die katholische Glaubenslehre zu ändern. Es findet sich kein Dokument, die das Gegenteil bestätigen würde.
Johannes XXIII. drängte das Konzil schnell zu beenden und hoffte auf Kardinal Siri
Das ist zur Kenntnis zu nehmen und sollte nachdenklich stimmen, wie gefährlich es ist, bestimmte Türen zu öffnen, selbst wenn es in größter Unbedarftheit geschehen sollte. Durch die offene Tür können andere, mit ganz anderen Absichten eindringen, die nur auf die Gelegenheit gewartet haben.
Es muß ebenso erwähnt werden, daß Johannes XXIII., angesichts der Richtung, die das Konzil nahm, auf dem Sterbebett auf eine schnelle Beendigung des Konzils drängte und seine Hoffnungen diesbezüglich auf Kardinal Giuseppe Siri setzte. Das bestätigten der damalige Erzbischof von Westminster, John Carmel Heenan, und eine Reihe andere, zuverlässige private Ohrenzeugen, die nicht vom ominösen „Konzilsgeist“ angekränkelt sind. Siri, der Erzbischof von Genua, hätte eigentlich, nach dessen Wunsch Nachfolger von Pius XII. werden sollen beim Konklave, aus dem dann aber Johannes XXIII. hervorging. Die Hoffnung Roncallis ging nicht in Erfüllung. Sein Tod ermöglichte es der Gruppe, die das Konzil lenkte, möglichst einen der Ihren auf den Papstthron zu heben.
Johannes XXIII. und der Kommunismus
Nicht bedeutungslos ist auch, daß Johannes XXIII. trotz seiner zweifelhaften Haltung die Position der Kirche gegenüber dem Kommunismus nicht änderte. Es bedürfte einer verfeinerten Analyse, um genau erheben zu können, inwieweit konkrete Änderungen im Verhältnis zum Kommunismus von einem Teil der Kirche auf eine mißbräuchliche Berufung auf den „gutmütigen“ Papst zurückgingen oder tatsächlich von diesem, wenn auch nur indirekt durch eine neue Praxis begünstigt wurden.
Bereits als Kardinal schrieb Roncalli am 28. Oktober 1947 in sein Tagebuch: „Zwischen Karl Marx und Jesus Christus ist eine Einigung unmöglich.“
Am 4. April 1959 erklärte das Heilige Offizium mit Zustimmung des Papstes, daß es „katholischen Staatsbürgern nicht erlaubt ist, ihre Stimme bei Wahlen Parteien oder Kandidaten zu geben, die, selbst wenn sie nicht Grundsätze bekennen, die im Widerspruch zur katholischen Lehre stehen oder sich sogar christlich nennen, in den Fakten aber mit den Kommunisten gemeinsame Sache machen und diesen mit ihrem Verhalten helfen“.
Johannes XXIII. und der Faschismus
Dazu gesellt sich, allerdings durch medienträchtige Öffnungen gegenüber der politischen Linken verwässert, die handfest irritieren, daß Roncalli noch als Bischof die Lateranverträge von 1929 lobte und sogar, wenn auch sehr abgewogen, den Duce des italienischen Faschismus, indem er ausführte, daß von Benito Mussolini trotz allem „das viele Gute bleibt, das er Italien getan hat“.
1954 bekräftigte er mitten im antifaschistischen Klima die Dankbarkeit gegenüber Mussolini für das Konkordat und forderte dazu auf, seine Seele „dem Geheimnis der Barmherzigkeit des Herrn anzuvertrauen, der zur Umsetzung seiner Pläne die unterschiedlichsten Gefäße benützt, selbst solche, die nicht dafür geschaffen scheinen“.
Am 25. April 1955, dem bereits damals von der politischen Linken usurpierten Festtag des italienischen Widerstandes gegen Faschismus und Nationalsozialismus forderte Roncalli als damaliger Patriarch von Venedig dazu auf, für alle Opfer des Krieges zu beten „zur Versöhnung all dieser Seelen, die sich auf der einen und auf anderen Seite der Barrikaden opferten“.
Johannes XXIII., „Don Camillo“ und die Idee für einen Katechismus
Der neue Heilige war ein großer Bewunderer des gewiß nicht progressiven Journalisten und Schriftstellers Giovannino Guareschi, der einen radikalen Anti-Kommunismus vertrat. Er las nicht nur dessen Werke, sondern machte sie häufig zum Geschenk und schlug Guareschi sogar vor, einen Katechismus zu redigieren. Eine Einladung, die der „Vater“ von Don Camillo jedoch ablehnte, weil er sich nicht würdig dafür fühlte.
Johannes XXIII. und seine Ablehnung des Staates Israel
Schließlich ist noch die Position zu erwähnen, die Johannes XIII. zum Staat Israel einnahm.
1943 schrieb er an das Staatssekretariat im Vatikan: „Ich bekenne, daß dieses Lenken der Juden durch den Heiligen Stuhl Richtung Palästina, gewissermaßen zur Wiedererrichtung des jüdischen Reichs, angefangen, daß man sie zum Verlassen Italiens bewegt, in mir Zweifel auslöst. Daß das ihresgleichen und ihre politischen Freunde tun, ist verständlich. Es scheint mir aber von schlechtem Geschmack, daß gerade die Ausübung des Liebesdienstes des Heiligen Stuhls die Gelegenheit oder den Anschein bieten könnte, darin eine zumindest indirekte Mithilfe bei der Verwirklichung des messianischen Traumes zu erkennen.
Das alles ist vielleicht nur ein persönlicher Skrupel, der allein schon dadurch, daß er ausgesprochen wird, zerstreut wird. Tatsache ist, daß die Wiedererrichtung des Reichs von Judäa und Israel nur eine Utopie ist.“
Worte eines heiliggesprochenen Papstes.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Heiliger Stuhl